Besser keine Regelung als eine schlechte
Der Bundestag hat es heute nicht geschafft, die Beihilfe zum Suizid neu zu regeln. Keiner der beiden parteiübergreifenden Gruppenanträge erhielt in namentlicher Abstimmung die erforderliche Mehrheit. Damit bleibt es vorerst dabei, dass der assistierte Suizid auf Grundlage eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts legal ist, aber kein Gesetz verbindliche Regelungen vorschreibt.
Ein gemeinsamer Antrag beider Gruppen mit dem Titel „Suizidprävention stärken“ wurde hingegen mit überwältigender Mehrheit vom Bundestag angenommen.
Der Gesetzentwurf einer verhältnismäßig restriktiven strafrechtlichen Regelung um die Abgeordneten Lars Castellucci von der SPD und Ansgar Heveling (CDU) fiel genauso durch wie der radikalere Antrag einer Gruppe um Katrin Helling-Plahr (FDP) und Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen), der aus ursprünglich zwei Initiativen bestand, aber vom Rechtsausschuss zusammengelegt worden war.
Auslöser war das Bundesverfassungsgericht
Nötig geworden war die Neuregelung der aktiven Sterbehilfe, weil Karlsruhe im Februar 2020 ein seit 2015 bestehendes Verbot der geschäftsmäßigen, das heißt auf Wiederholung ausgerichteten Sterbehilfe für verfassungswidrig erklärt hatte. Die Höchstrichter kippten Paragraph 217 Strafgesetzbuch und erkannten ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ als Ausdruck persönlicher „Autonomie“, welches im allgemeinen Persönlichkeitsrecht grundgelegt sei in Verbindung mit Grundgesetz-Artikel 1, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.
Der Gruppenantrag Castellucci/Heveling und andere sah ein Verbot der geschäftsmäßigen Hilfe zur Selbsttötung vor und wollte das in einem neuen Paragraph 217 StGB normieren. Dieser sollte lauten: „Wer in der Absicht, die Selbsttötung einer anderen Person zu fördern, dieser hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
Sofern allerdings Förderungshandlungen zum Suizid einem bestimmten Prozedere folgten, sollten diese nicht rechtswidrig und damit auch nicht strafbar sein. Der Suizidwillige muss volljährig sein, ein ergebnisoffenes Beratungsgespräch durchlaufen haben und im Abstand einiger Wochen von einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie auf seine Einsichtsfähigkeit und die Hartnäckigkeit des Sterbewunsches hin untersucht werden. Mindestens zwei Wochen Bedenkzeit soll darauf noch folgen, bis dem Suizidwilligen todbringende Substanzen ärztlich verschrieben und verabreicht werden dürfen. Bei „Härtefällen“ kann die Wartefrist abgekürzt werden.
Ähnlichkeiten mit dem Abtreibungs-Kompromiss
Nicht von ungefähr ähnelte dieser Vorschlag der geltenden Regelung nach dem Kompromiss zum Schwangerschaftsabbruch aus den neunziger Jahren: grundsätzlich rechtswidrig, aber unter bestimmten Bedingungen straffrei. Gesellschaftliche Praxis dieser Regelung sind etwa hunderttausend Abbrüche jährlich.
Der Antrag aus der Gruppe Helling-Plahr/Künast will, anders als der konkurrierende Antrag, nicht das Strafgesetzbuch für eine Normierung heranziehen. Er nimmt jedoch genauso für sich in Anspruch, das von Karlsruhe postulierte Grundrecht auf Selbsttötung umzusetzen, nur mit weit weniger Einschränkungen und Hürden. Dementsprechend lautete der Titel des Entwurfs auch „Gesetz zum Schutze des Rechtes auf selbstbestimmtes Sterben und zur Regelung der Hilfe zur Selbsttötung“.
Darin steht: „Jeder, der aus autonom gebildetem, freiem Willen sein Leben eigenhändig beenden möchte, hat das Recht, hierbei Hilfe in Anspruch zu nehmen.“ Das neue Suizidhilfegesetz sollte Sterbewilligen alle Hilfe und Unterstützung garantieren, damit sie ihr „Grundrecht“ ausüben können. Für die Einrichtung staatlicher Beratungsstellen werden die Bundesländer in die Pflicht genommen.
„Das Leben ist kein handelbares Gut und darf es auch nicht werden“
In der Bundestagssitzung zeigte sich Heveling (CDU) befremdet von der erwähnten Karlsruher Entscheidung: Mit seinem Urteil habe das Bundesverfassungsgericht „eine Art Grundrecht auf Suizid und der Hilfe dazu konstituiert; diese sehr weitgehende Entscheidung bereitet vielen – und ich nehme mich da nicht aus – Kopfzerbrechen“. Schließlich gelte es, nicht nur auf den Einzelmenschen zu sehen, sondern auch die soziale Dimension, die Außenwirkung sozusagen der Selbsttötung und der Hilfe dazu, zu berücksichtigen – es mache etwas mit Angehörigen, Ärzten oder Mitarbeitern in Pflegeheimen, mit der Gesellschaft insgesamt.
So habe Karlsruhe auch Schranken gesetzt, das Recht auf selbstbestimmtes Sterben gelte nicht absolut. Die Autonomie des Einzelnen konkurriere mit der Pflicht des Staates, Leben zu schützen. Der Gesetzgeber dürfe Grenzen definieren, „und das sollte der Gesetzgeber dann auch tun. Und das ist die Motivation meiner Gruppe Castellucci/Heveling, für eine neue gesetzliche und strafrechtliche Regelung einzutreten.“
Mit der Neuregelung von Paragraph 217 StGB „bewirken wir den Schutz der Selbstbestimmung“ – vor Missbrauch, vor Druck auf psychisch Labile, Schutz für vulnerable Gruppen, gedrängt zu werden. Das „ausgewogene Schutzkonzept“ seiner Gruppe respektiere den autonom gebildeten Willen, aber die Feststellung der Selbstbestimmtheit sei der zentrale Schutzaspekt, um vor sozialer und wirtschaftlicher Pression zu bewahren. Denn „das Leben ist kein handelbares Gut und darf es auch nicht werden“.
Die Abgeordneten machen sich das Autonomie-Postulat aus Karlsruhe zu eigen
Der Schutz, vom dem Heveling hier sprach, zielt also bloß auf die gewerbsmäßige Hilfe zur Selbsttötung. Die Autonomiekonzeption des Verfassungsgerichts selbst findet keinen Widerspruch.
Das zeigten auch die weiteren Wortmeldungen für den Gruppentrag Castellucci/Heveling. Der Abgeordnete Castellucci selbst betonte, das Verfassungsgericht habe festgestellt, dass es zur Selbstbestimmung gehöre, über das eigene Ende entscheiden zu können. „Das müssen wir achten.“ Also wolle man assistierten Suizid „ermöglichen, aber nicht fördern“.
Kirsten Kappert-Gonther (Grüne) äußerte ihr „großes Unbehagen“, sprach richtigerweise von der Ambivalenz und Volatilität suizidaler Gefühle, auch davon, dass sich strafbar mache, wer andere zur Selbsttötung dränge. Doch „Gespräche in der Beratung“ würden die Selbstbestimmung sichern, und den „Zugang“ zum assistierten Suizid gelte es, „wie vom Verfassungsgericht aufgetragen“, zu ermöglichen.
Vor der Einflussnahme durch Sterbehilfevereine schützen
Stephan Pilsinger (CSU), Arzt von Beruf, war es wichtig, alte Menschen „vor diesem Druck zu schützen“, vor der Einflussnahme durch Sterbehilfevereine, die durch die Altenheime streiften. Es könne nicht angehen, „dass der assistierte Suizid schneller möglich ist als einen Therapieplatz zu bekommen“.
Lina Seitzl (SPD) wiederum mahnte, es dürfe „keine gefühlte Pflicht zum Sterben werden“, man dürfe sich „nicht getrieben fühlen, aus dem Leben zu scheiden“. Benjamin Strasser (FDP) indessen wollte „ein Schutz- und Beratungskonzept, das nicht nur im Bundesgesetzblatt steht, sondern mit Leben erfüllt wird“.
Und so weiter und so fort. Die Vertreter beider Gruppenanträge, das zeigten die Gesetzentwürfe und die Redebeiträge, machen sich das Autonomie-Postulat aus Karlsruhe mehr oder minder zu eigen. Der Unterschied in den Entwürfen betraf nur die Höhe der Hürden, ein grundsätzliches Stoppschild stellte niemand auf. Niemand bezweifelte, ob es richtig war, die Entscheidung über den Zeitpunkt des eigenen Todes zu einem Grundrecht zu stilisieren.
Was man von einem Christdemokraten erwartet, sagt eine AfD-Abgeordnete
Ob es nicht eine Grenze menschlicher Unverfügbarkeit gibt, die es unbedingt zu respektieren gilt um des Menschen willen. Der Begriff der Menschenwürde, wie ihn das Grundgesetz einführt, ist ein aus christlich-abendländischer Tradition kommender. Dieser kennt kein Recht auf Selbstmord, sondern die Pflicht zu leben. Abgeordneter Heveling sprach es aus: „Unser Grundgesetz ist eine Verfassung des Lebens und nicht des Sterbens.“
Allerdings fehlte es seiner Gruppe an Klarsicht und Mut, daraus die Konsequenz zu ziehen. In der ganzen anderthalbstündigen Aussprache im Bundestag war es einzig Beatrix von Storch von der oppositionellen AfD, die die religiöse Dimension dessen, über das abzustimmen stand, zur Sprache brachte: „Anfang und Ende des Lebens liegen allein in Gottes Hand. Daran glaube ich.“ Ein Satz, auf den man von einem Christdemokraten vergeblich gewartet hat.
Die verpatzte Gesetzgebung am heutigen Donnerstag zeigt zwar die Schwäche der Ampel-Koalition, bietet allerdings die Chance, es in einem neuen Anlauf noch einmal anders zu machen. Besser auf gewisse Zeit kein Gesetz als eines, das von falschen Grundsätzen ausgeht und die Büchse der Pandora öffnet. Der Bundestag ist nicht gebunden an die Vorgaben aus Karlsruhe, die Abgeordneten sind nur ihrem Gewissen verpflichtet. Und das Gewissen kann man bilden.
80% der Bevölkerung sind für liberalisierte Sterbehilfe. Dieser wesentliche Kontext fehlt im Beitrag fehlt.
Unter dem Blickwinkel Sterbewunsch erfährt das Leben höchste Achtung, in anderen Bereichen eher Verachtung. Zur Übersterblichkeit zum Beispiel, zum Schutz der Grenzen, zu Medizin- u. Ärztemangel oder zu den Zuständen in Pflegeeinrichtungen.
Für den medizinischen Komplex wird der Mensch zum Ende hin besonders wertvoll. Ein Blick auf den Aufsichtsrat der Deutschen Stiftung Patientenschutz ist selbsterklärend.
Der Bundestag wird auch in dieser Sache das Interesse der Mehrheit vor eigener Dummheit zu bewahren wissen.
80% der Bevölkerung sind für liberalisierte Sterbehilfe. Dieser wesentliche Kontext fehlt im Beitrag fehlt.
Unter dem Blickwinkel Sterbewunsch erfährt das Leben höchste Achtung, in anderen Bereichen eher Verachtung. Zur Übersterblichkeit zum Beispiel, zum Schutz der Grenzen, zu Medizin- u. Ärztemangel oder zu den Zuständen in Pflegeeinrichtungen.
Für den medizinischen Komplex wird der Mensch zum Ende hin besonders wertvoll. Ein Blick auf den Aufsichtsrat der Deutschen Stiftung Patientenschutz ist selbsterklärend.
Der Bundestag wird auch in dieser Sache das Interesse der Mehrheit vor eigener Dummheit zu bewahren wissen.