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Veranstaltung „Wie wichtig ist den Europäern die Familie?“

„Zeitenwende muss auf Familienpolitik ausgeweitet werden“

Kein ungewöhnlicher Anblick in diesen Zeiten: In Düsseldorf-Rath versammeln sich vor der Sankt-Josef-Kirche junge Männer und Frauen mit Sprachrohr und Plakaten für Abtreibung, für die Verantwortung des eigenen Körpers oder die Freiheit der verschiedenen sexuellen Orientierungen – kurz LGBTQ (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer). Die Polizei spricht von 80 angemeldeten Demonstranten.

Aktuell sind es an dem Dienstagabend um kurz vor 18 Uhr rund 50. „Das heißt aber nicht, dass nicht noch mehr hinzukommen“, sagt einer der Polizisten, die um die Kirche und vor dem Gemeindesaal das Geschehen beobachten. Es ist nicht das erste Mal, dass Menschen versuchen, einer Veranstaltung der „Stiftung für Familienwerte“ lautstark entgegenzutreten.

Zusammen mit dem Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit hatte die Stiftung dieses Mal zu einem Vortragsabend mit dem Titel „Familienwerte in Europa“ eingeladen. Im Kern ging es um die Frage: „Wie wichtig ist den Europäern die Familie?“ Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels ein dringliches Thema, da Familienpolitik nicht zuletzt auch Gesellschaftspolitik ist.

Rund 80 Personen demonstrierten gegen die Veranstaltung

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat dazu geführt, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) für die Politikbereiche Verteidigung und Außenpolitik eine „Zeitenwende“ verordnet hat. Damit soll eine Politik eingeläutet werden, die sich an den Erfordernissen der Wirklichkeit orientiert.

„Aber wer das krisengeschüttelte Deutschland betrachtet, der muss die Ausweitung der Zeitenwende auf weitere Politikbereiche fordern. Das sind sicher die Energieversorgung, die desolate Schulpolitik, aber auf jeden Fall auch die Korrektur unserer Familienpolitik mit ihrer folgenschweren Demographie-Strategie“, meint Karl-Heinz van Lier, Präsident der Stiftung für Familienwerte. Van Lier gilt als CDU-Experte.

26 Jahre hat er das Politische Bildungsforum Rheinland-Pfalz der Konrad-Adenauer-Stiftung in Mainz geleitet und sich mit Familienpolitik und der damit verbundenen demographischen Entwicklung in Deutschland beschäftigt. Unter dem Titel „Ohne Familie ist kein Staat zu machen“ brachte er 1999 ein Kompendium zur Familienpolitik in Deutschland heraus.

Auch die Familienpolitik braucht Nachhaltigkeit

Karl-Heinz van Liers Aussage ist klar: Das Prinzip der Nachhaltigkeit werde in der Klimapolitik zwingend eingefordert. „Wenn es aber um den Erhalt der Familie geht, dem Biotop des Menschen, dann findet dieses existenzerhaltende Prinzip seit über 50 Jahren in der Familienpolitik keine Beachtung.“ Nachhaltigkeit meint in diesem Kontext eine ausgeglichene Bevölkerungsentwicklung durch die gleiche Anzahl an Geburten und Sterbefällen, wonach eine Frau durchschnittlich 2,1 Kinder zur Welt bringen müsste. In den zurückliegenden fünf Jahrzehnten lag die Geburtenziffer bei nur etwa 1,4.

Eine Ursache sieht van Lier darin, dass mit Beginn der sexuellen Revolution rund ein Viertel der Frauen zeitlebens kinderlos blieb. „Ab 2015 stieg die Geburtenrate aufgrund der Einwanderung von Migranten auf 1,57. Aber man kann sich leicht ausrechnen, dass die deutsche Bevölkerung jeweils nach einer Generation von etwa 30 Jahren um ein Drittel schrumpft“, erklärt van Lier.

Mit Blick auf den Fachkräftemangel spricht er von einer „Monsterwelle“, die noch an Größe zunehme, wenn bis 2030 etwa sechs Millionen Babyboomer den Arbeitsmarkt verlassen, weil sie in Rente gehen. Zudem werde der Abwärtstrend noch beschleunigt, weil über Generationen hinweg immer weniger gebärfähige Frauen geboren werden.

Zwar steht Deutschland mit dem Fachkräftemangel weder in Europa noch in der Welt allein da, doch die lange Dauer des Geburtenrückgangs seit rund 50 Jahren habe Deutschland den größten Fachkräftemangel beschert. Aktuell liegt die Fertilitätsrate in Deutschland bei 1,53 Kindern pro Frau. Da stellt sich die Frage, wie andere Länder mit der demographischen Lage umgehen.

Sylvia Pantel, Zsófia Nagy-Vargha, Cornelia Kaminski und Karl-Heinz van Lier (v.l.n.r.)

Staaten wie Italien und Ungarn haben die Auswirkungen des Geburtenmangels erkannt und setzen auf eine Anreizpolitik für Familiengründungen. Unter anderem wegen der Geburtenrate von 1,24 – und damit europäisches Schlusslicht – hat Italiens neue Ministerpräsidentin Giorgia Meloni (Fratelli d’Italia) zum Beispiel ein Ministerium für Geburtenrate eingerichtet. Allein die Umbenennung des einstigen Ressorts für „Gleichberechtigung und Familie“ in „Ministerium für Familie, Geburtenrate und Gleichberechtigung“ ist noch kein Garant für schnelle Ergebnisse, wohl aber ein klares Programm-Signal.

Bereits in ihrer Regierungserklärung bekräftigte Meloni ihre Überzeugung, dass die Familie als heterosexuelle Paargemeinschaft mit gemeinsamem Nachwuchs Eckpfeiler der Gesellschaft sei, der den besonderen Schutz und die Förderung des Staates verdiene, um die „demographische Eiszeit“ zu überwinden.

Ungarn: Fokus liegt auf Vereinbarkeit von Arbeit und Familie

Ungarn hingegen setzt bereits seit mehr als zehn Jahren auf eine erfolgreiche Familienpolitik, wenngleich das Ziel einer bestandserhaltenden Fertilitätsrate nicht erreicht ist. 2010 lag diese noch bei 1,2. Inzwischen liegt sie bei rund 1,6 Geburten pro Frau. Mit dem Gesetz Nummer 211 zum Schutz der Familien, das seit 1. Januar 2012 in Kraft ist, hat das Parlament einen zentralen Rahmen für das System der Familienförderung festgelegt. Um den Erhalt der Nation zu gewährleisten, soll der Staat das Kinderkriegen unterstützen, ein familienfreundliches Umfeld schaffen und die Kinderbetreuung zu einer Selbstverständlichkeit machen. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie.

Ein Beispiel dafür liefert die stellvertretende Staatssekretärin für Jugend im Ministerium für Kultur und Innovation an diesem Abend: Zsófia Nagy-Vargha ist Mutter von drei Kindern im Alter von sieben und 15 Jahren. „Die Familie ist schon in unserer Präambel (der Verfassung, Anm. d. Red.) als wichtigste nationale Ressource unseres Landes festgelegt und genießt einen besonderen Schutz. Unsere Philosophie beruht auf der Ehe zwischen Mann und Frau, nicht auf einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft“, stellte sie vorweg.  

Seit 2010 sind die Staatsausgaben für Familien deutlich gestiegen. Nach Angaben des Ministeriums für Humanressourcen gab Ungarn 2021 mehr als 2,3 Milliarden Forint (über sechs Milliarden Euro) und damit 4,8 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes (BIP) für die Familienunterstützung aus. Je nach Zählweise sind die Ausgaben für familienunterstützende Maßnahmen noch höher. Die damalige Familienministerin Katalin Novák sagte im Herbst 2021, Ungarns Maßnahmen im Jahr 2022 würden umgerechnet 9,7 Milliarden Euro ausmachen, was 6,2 Prozent des BIP entspreche.

Keine Einkommensteuer für Mütter ab vier Kindern

„Wir haben 2022 für unsere Familienpolitik dreimal so viel ausgegeben wie 2010 und wollen trotz der aktuellen wirtschaftlichen und weltpolitischen Situationen und Entwicklungen unsere Familienförderungen weiter voranbringen“, betont Nagy-Vargha. Was genau das Land konkret für seine Familien tut, zeigte die Staatssekretärin exemplarisch auf:

„Seit dem 1. Januar 2021 müssen Mütter mit vier oder mehr Kindern lebenslang keine Einkommensteuer mehr entrichten“, berichtete sie. Neben einem differenzierten Steuerentlastungssystem habe die Regierung auch bei Krediten und Zuschüssen wesentliche Veränderungen vorgenommen. So könnten verheiratete Paare einen zinsfreien Kredit von bis zu 28.000 Euro beantragen. Mit der ersten Schwangerschaft kommt es zu einem dreijährigen Aussetzen der Rückzahlungspflicht. Beim zweiten Kind sinkt der zu tilgende Betrag um 30 Prozent, und ab dem dritten Kind übernimmt der Saat die komplette Rückzahlung des Darlehens.

Ebenfalls gibt es beim Autokauf Zuschüsse für Familien ab drei Kindern in Höhe von 7.200 Euro für ein Auto mit mindestens sieben Sitzen. Ferner erhalten Mütter seit dem 1. Juli 2021 für die Dauer der Elternzeit, also für 168 Tage, 100 Prozent ihres Bruttogehalts. Mit in die Familienpolitik einbezogen hat das Land auch die Älteren. Großeltern, die noch nicht in Ruhestand sind, können Kindergeld beantragen, wenn sie bei der Kindererziehung helfen. Ziel ist es, damit Eltern mit bis zu zweijährigen Kindern die frühe Rückkehr ins Berufsleben zu erleichtern.

Zuwanderung: „Kompensatorische Demographie-Strategie“

Im Vergleich dazu wählt Deutschland einen anderen Weg, der keine spürbare Aufwertung der Familie im Fokus habe und demzufolge auch gesellschaftlich andere Aufmerksamkeiten schafft – etwa das Gender Mainstreaming oder die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland. „Der Demographie-Lehrstuhl von Herwig Birg in Bielefeld, wo über die Konsequenzen des Bevölkerungsschwundes geforscht wurde, wurde mit dessen Emeritierung 2004 geschlossen. Alternativ wurden etwa 250 Lehrstühle zu Gender Mainstreaming eingerichtet“, stellt van Lier fest.

Zudem ist der Begriff Zuwanderung längst zu einem neuen Narrativ für die Lösung der demographischen Dysbalance geworden. Van Lier spricht in diesem Zusammenhang von einer „kompensatorischen Demographie-Strategie“, die auf eine Gesellschaft der „Vielfalt“ setze und in dessen Folge die Anzahl der deutschen Familien zurückgehen werde, während die der Migranten zunehme und Deutschland zu einem multi-ethnischen Staat mache.

Er sieht darin ein reines Wunschdenken, das an die frühere Verteidigungspolitik erinnere, die vom ewigen Frieden träumte, aber jetzt durch den Aggressor Russland mit der Wirklichkeit konfrontiert werde. „Da der Familienpolitik keine Zeitenwende verordnet wurde, wird sie sich kaum in Richtung Nachhaltigkeit bewegen, ganz zu schweigen von einem Bestandsschutz der Familie.“

Etwa zwei Stunden später sind am Ende der Veranstaltung draußen keine Demonstranten mehr zu hören und zu sehen. Es ist still um die Kirche an diesem sonnigen Frühsommerabend geworden. Während die einen schon mit ihren Plakaten nach Hause gegangen sind, verlassen die anderen nachdenklich den Gemeindesaal.

Während der Veranstaltung waren einzelne Demonstranten immer wieder in den Saal gekommen und hatten gestört. Für einen Austausch waren sie augenscheinlich nicht offen. Vielleicht könnten Hinhören, was die jeweilige Seite zu sagen hat und Zuhören, welche Sorgen es mit Blick auf die demographische Entwicklung gibt, ein erster Schritt für einen konstruktiven, gemeinsamen und zukunftsfähigen Dialog sein. Denn der demographische Niedergang betrifft alle Gesellschaftsbereiche.

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Kommentare

Kommentar
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KeinEidgenosse
Vor 1 Jahr 2 Monate

Ungarn hat wie im Artikel angemerkt es geschafft, die Fertilitätsrate von 1,25 in 2010 auf 1.61 in 2021 zu erhöhen. Respekt für diese dynamische Entwicklung, natürlich kann Deutschland hier einiges lernen. Was Ungarn allerdings (noch?) nicht vollbracht hat, ist die Fertilitätsrate auch nur in die Nähe des benötigten Werts von 2,1 zu bringen, der für eine autonome Aufrechterhaltung der Bevölkerungszahl notwendig wäre. Unter dem Strich ist der ungarische Wert nicht weit über dem aktuellen Wert für Deutschland von 1,58:

https://ec.europa.eu/eurostat/web/products-eurostat-news/w/DDN-20230309…

Wenn wir uns also auf die aktuellen Daten beziehen, warum nicht besser von Ländern wie Frankreich oder Tschechien lernen, die Fertilitätsraten von über 1,8 aufweisen? Liegt der Grund vielleicht darin, dass politische Initiativen für die Steigerung der Fertilität nur begrenzte Wirkung entfalten können?

Zumindest scheint letztere Vermutung auf Israel zuzutreffen. Dabei handelt es sich nämlich um die Industrienation mit der bei weitem höchsten Fertilitätsrate von 2,9 Kindern pro Frau. Und das scheint nicht in erster Linie politische Gründe zu haben:

"The real secret to Israel’s fertility rates appears to be cultural. The family is at the absolute centre of Israeli life. Getting married and having kids is the highest cultural value."

https://nationalpost.com/opinion/danielle-kubes-the-truth-behind-israel…

Es wäre in jedem Fall spannend, etwas mehr in die Tiefe bei der Thematik zu gehen!

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Walter Hofmann…
Vor 1 Jahr 5 Monate

Vorbild Ungarn!
Allerdings ist in Deutschland und wohl auch in den Nachbarstaaten dieser Zug abgefahren. Entsprechende Familienförderungen kämen den kinderreichen Zuwanderern zugute. Mit dem Bevölkerungswandel, der Umvolkung, haben wir uns abzufinden!

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KeinEidgenosse
Vor 1 Jahr 2 Monate

Ungarn hat wie im Artikel angemerkt es geschafft, die Fertilitätsrate von 1,25 in 2010 auf 1.61 in 2021 zu erhöhen. Respekt für diese dynamische Entwicklung, natürlich kann Deutschland hier einiges lernen. Was Ungarn allerdings (noch?) nicht vollbracht hat, ist die Fertilitätsrate auch nur in die Nähe des benötigten Werts von 2,1 zu bringen, der für eine autonome Aufrechterhaltung der Bevölkerungszahl notwendig wäre. Unter dem Strich ist der ungarische Wert nicht weit über dem aktuellen Wert für Deutschland von 1,58:

https://ec.europa.eu/eurostat/web/products-eurostat-news/w/DDN-20230309…

Wenn wir uns also auf die aktuellen Daten beziehen, warum nicht besser von Ländern wie Frankreich oder Tschechien lernen, die Fertilitätsraten von über 1,8 aufweisen? Liegt der Grund vielleicht darin, dass politische Initiativen für die Steigerung der Fertilität nur begrenzte Wirkung entfalten können?

Zumindest scheint letztere Vermutung auf Israel zuzutreffen. Dabei handelt es sich nämlich um die Industrienation mit der bei weitem höchsten Fertilitätsrate von 2,9 Kindern pro Frau. Und das scheint nicht in erster Linie politische Gründe zu haben:

"The real secret to Israel’s fertility rates appears to be cultural. The family is at the absolute centre of Israeli life. Getting married and having kids is the highest cultural value."

https://nationalpost.com/opinion/danielle-kubes-the-truth-behind-israel…

Es wäre in jedem Fall spannend, etwas mehr in die Tiefe bei der Thematik zu gehen!

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Walter Hofmann…
Vor 1 Jahr 5 Monate

Vorbild Ungarn!
Allerdings ist in Deutschland und wohl auch in den Nachbarstaaten dieser Zug abgefahren. Entsprechende Familienförderungen kämen den kinderreichen Zuwanderern zugute. Mit dem Bevölkerungswandel, der Umvolkung, haben wir uns abzufinden!