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Anhörung zur Abtreibungslegalisierung

Die „Brandmauer des Lebensschutzes“ wankt, aber noch steht sie

Und plötzlich kommen zwei Personen, eine Frau und ein Mann, die Treppe der U-Bahn-Station Bundestag hoch. Noch bevor sie zu sehen sind, erblickt der Beobachter eine überdimensionierte Gebärmutter nebst Vagina und Eileitern. Sie tragen sie stolz und hoch vor sich her. Die durch die Wintersonne gebildete Silhouette erinnert ein bisschen an das Haupt des Baphomet. Teuflisch könnte man als religiöser Mensch das Gebaren bezeichnen, das die rund 150 Demonstranten vor dem Paul-Löbe-Haus an den Tag legen. Aufgerufen zur Kundgebung hatten das „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“ und das „Bündnis für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen“.

Deren Vertreter übergeben an diesem Montagnachmittag stellvertretend für rund 50 Organisation – darunter auch ProFamilia Deutschland, ver.di, den Paritätischen Bundesverband und den Deutschen Frauenrat – einen „Eil-Appell“ mit dem Titel „Bringt die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen jetzt zur Abstimmung!“ Zudem überreichten sie mehreren Abgeordneten von SPD, Grünen und Linkspartei zwei Petitionen mit nach eigenen Angaben mehr als 300.000 Unterschriften. Manche Medien, darunter die ARD-„Tagesschau“, werden später fälschlicherweise behaupten, es handle sich um eine einzige Petition. Doch da es zwei verschiedene sind, sind doppelte Unterschriften und eine dadurch weniger große Zahl an Unterstützern pro Stück wahrscheinlich.

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Die Demonstranten wirken auf dem großen Platz zwischen Paul-Löbe-Haus und sehr weit gegenüber dem Bundeskanzleramt irgendwie verloren. Die Frauen und Männer jeden Alters – jene, die längst aus dem gebärfähigen Alter herausgewachsen sind, sind nicht zu knapp da – halten Schilder hoch mit Aufschriften wie „Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht, keine Straftat“, „80 Prozent fordern: Weg mit § 218 – Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisieren – jetzt!“, „My Body, My Choice“ oder „Angry women will change the world“. Eine Studentin hält ein Pappschild, auf dem sie ihre Abneigung gegen die FDP kundtut: Das Parteikürzel stehe für „Freiheit dummer Patriarchen“.

Auch die „Omas gegen rechts“ sind da. Befragt man sie nach dem Grund ihrer Anwesenheit, erwidern die grauhaarigen Damen, man kämpfe schon seit 50 Jahren für sexuelle Selbstbestimmung, und mit „den Rechten“ an der Regierung würde es noch schlimmer kommen.

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Pünktlich zu 14.30 Uhr tauchen mehrere Bundestagsabgeordnete auf, darunter die Initiatoren des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs“, Carmen Wegge (SPD) und Ulle Schauws (Grüne). Sie sagen Erwartbares, gerieren sich als die parlamentarische Vertretung der Straßen- und Onlinekämpfer für „sexuelle Selbstbestimmung“. Man merkt ihnen an: Sie würden gerne radikaler sprechen. Im Hinterkopf werden sie jedoch die absehbaren Koalitionsverhandlungen mit der Union haben. Also doch lieber nicht allzu harsch sein.

Ganz anders Heidi Reichinnek, Vorsitzende der Linkspartei-Gruppe im Bundestag. Sie nimmt das Mikrofon, grüßt burschikos: „Moin auch von mir!“ und dann: „Es ist 2025, und wir müssen immer noch gegen diesen Scheiß kämpfen!“ Angesichts einer auch von ihr behaupteten 80-prozentigen Zustimmung im Volk zu einer Liberalisierung der Abtreibung fragt sie emotionalisierend: „Wo ist denn der gesellschaftliche Großkonflikt außer am Stammtisch von Friedrich Merz und Christian Lindner?!“ Unverfroren verweist sie auf die für ungeborene Menschen tödliche Rechtslage in der früheren DDR: Nach der deutschen Wiedervereinigung hätten „Millionen Frauen“ „das Recht verloren“, über ihren Körper selbst zu bestimmen. „Ja, genau!“, krakeelt es aus dem Pulk. Dass Politiker der umbenannten SED sich positiv auf Moskaus roten Satellitenstaat beziehen, hat freilich den Nachrichtenwert eines in China umfallenden Sack Reises.

Rund anderthalb Stunden später. Im Sitzungssaal 3.101 des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses wird es voll. Gleich werden elf Sachverständige von den Bundestagsabgeordneten zu ihrer Bewertung der Abtreibungslegalisierung befragt. Zu der öffentlichen Anhörung kommt es, weil sich die Mitglieder des Rechtsausschusses auf eine solche geeinigt hatten – Mitte Dezember 2024 in einer stundenlangen Diskussion hinter verschlossenen Türen (Corrigenda berichtete exklusiv). Eine ausführliche Übersicht aller elf Sachverständigen lesen Sie hier, das stenografische Protokoll der Anhörung hier.

„Uneingeschränkte Achtung vor jedem menschlichen Leben“

Als erstes spricht Kristijan Aufiero, Gründer und Leiter des Projekts 1000plus und der europaweit größten privaten Hilfsorganisation für Schwangere in Not sowie Verleger dieses Magazins Corrigenda

„Ich spreche hier und heute nicht im Namen irgendeiner Ideologie oder irgendeiner politischen Agenda. Vielmehr möchte ich den über 700.000 Frauen eine Stimme geben, die Profemina in den vergangenen Jahren beraten hat.“

Dass der Katholik und Familienvater im Ausschuss als Mann aus der Praxis auftritt, wird deutlich, wenn er Beispiele von der, wie er sagt, „Realität von 90 Prozent aller Schwangerschaftskonflikte in Deutschland“ aufzeigt. Etwa die „alleinerziehende 29-jährige Kölnerin, die schon jetzt am Anschlag ist und keine Ahnung hat, wie sie ihren Alltag mit einem zweiten Kind bewältigen soll“ oder die „Ehefrau und Mutter von zwei Kindern aus einem Münchner Vorort, deren Mann kein drittes Kind will und sie vor die Wahl gestellt hat, entweder abzutreiben oder sich scheiden zu lassen“. Aufiero bittet die Abgeordneten inständig, den Gesetzentwurf nicht zur zweiten und dritten Lesung an den Bundestag zu überweisen.

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Zur Begründung betonte er, „die uneingeschränkte Achtung vor jedem menschlichen Leben – ganz egal in welchem Stadium seiner Existenz –, ist das Fundament unserer freiheitlichen Demokratie, unseres Rechts- und Sozialstaats“. Wenn die Gesellschaft von dem Grundsatz abweiche, „dass es niemals Recht sein kann, ein Menschenleben zu zerstören – ganz gleich in welchem Stadium seiner Existenz und egal in welchem Zustand –, zerstören wir auch das Fundament, auf dem Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie aufgebaut sind“. Bezeichnend: Aufiero berichtete nach der Anhörung, während einige Bundestagsabgeordnete die Sachverständigen begrüßten, sei er durch die Bank weg ignoriert worden.

Ärzte vor Urlaub und Schwangere in Terminschwierigkeiten: ganz schön viele Wenns

Auch Frauenärztin Alicia Baier von den „Doctors for Choice Germany“ beginnt ihre Stellungnahme mit einem Praxisbeispiel.

„Stellen Sie sich vor, Sie bieten als Ärztin Abbrüche in ihrer Praxis an, in der Woche vor Ihrem Urlaub kommt eine Frau mit einer ungewollten Schwangerschaft zu Ihnen. Sie ist in der achten Woche und klar zum Abbruch entschieden. Die Pflichtberatung war heute. Sie müssen ihr nun mitteilen, dass Sie ihr vor ihrem Urlaub nicht mehr helfen können, obwohl Sie noch freie Termine diese Woche hätten, weil der deutsche Staat ihr auferlegt, erst noch drei Tage über ihre Entscheidung nachzudenken. Die Frau wird so schnell keinen anderen Termin finden. Sie wurde bereits von vielen Praxen abgewiesen. Sie leidet unter einer furchtbaren Schwangerschaftsübelkeit, durch die sie kaum noch in der Lage ist, ihre kleine Tochter zu versorgen. Sie wird weitere zwei Wochen mit einer ungewollten, in ihr weiterwachsenden Schwangerschaft herumlaufen müssen. Und sie wünscht den medikamentösen Abbruch, welcher zwei Wochen später nicht mehr möglich sein wird. Sie wird sich gegen ihren Wunsch einem operativen Eingriff unterziehen müssen, der zudem sehr viel teurer ist. Weil sie bei einem Netto-Einkommen von 1.800 Euro ein Drittel ihres Einkommens für den Abbruch zahlen muss, reicht ihr Geld nicht mehr für die von ihr gewünschte 300 Euro teure Hormonspirale, die Sie ihr eigentlich direkt beim Eingriff einlegen könnten. Und so wird sie die Einlage verschieben müssen, ohne sichere Verhütung nach Hause gehen und eine erneute ungewollte Schwangerschaft riskieren.“

Baiers Pointe: „Ich frage Sie, sieht so Lebensschutz aus?“

Man merkt an ihren und den Äußerungen der anderen Sachverständigen, die sich für die Abtreibungslegalisierung aussprechen, dass in ihrer Argumentation viele Wenns vorkommen. Eine zweite Beobachtung: So gut wie alle Experten, die sich für die „Entkriminalisierung“, wie sie es nennen, aussprechen, verweisen auf die ELSA-Studie oder die Empfehlungen der „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“. Beides wurde von der Regierung lanciert. Bei beiden arbeiteten auch Wissenschaftler mit, die an diesem Montagabend im Anhörungssaal ihre Meinung äußern.

Es werden „gesunde Frauen behandelt und gesunde Embryos beseitigt“

Bemerkenswert ist der von der Union nominierte Gynäkologe am Charité Campus Virchow Klinikum Berlin, Matthias David, der sich gegen den Gesetzentwurf stellt. Aus dessen Wortmeldungen sei hier ausführlicher zitiert, wegen ihrer fachlichen Sachlichkeit, gepaart mit menschlicher Zugewandtheit und einem spürbaren nachdenklichen Ringen. Mit wenigen präzisen Strichen widerlegt der Praktiker mit 30-jähriger Erfahrung als Frauenarzt gängige Behauptungen der „Pro-Choice“-Fraktion: Beim auf Wunsch ungewollt Schwangerer vorgenommenen Abbruch würden „in den allermeisten Fällen gesunde Frauen behandelt und gesunde Embryos beseitigt“. Beim Schwangerschaftsabbruch handele es sich nicht „um irgendeine Maßnahme“, sondern um eine in der modernen Medizin „einzigartige Operation“.

In Bezug auf eine verschiedentlich geforderte Ausweitung der Frist, innerhalb derer ein Abbruch für zulässig erklärt werden solle, stellt er klar: „Wir werden mit einer Ausweitung in die 18. Woche dem Embryo oder dem Feten Schmerzen zufügen.“ Man wisse inzwischen, dass „wahrscheinlich schon in der 8. Schwangerschaftswoche“ Schmerzrezeptoren am Ungeborenen vorhanden sind. Die Embryonalentwicklung sei ein Kontinuum und jede Grenze, die der Gesetzgeber ziehe, willkürlich. Selbst ein Kleinkind könne „frühestens mit fünf, sechs Jahren autonom irgendwo leben“. Das als Widerlegung der so häufig vorgebrachten Konzeption von einer Lebensfähigkeit des Embryos außerhalb des Mutterleibes, die die Grenze für den Schwangerschaftsabbruch markiere.

Menschen in Ambivalenzkonflikten

Beim Arbeiten als Arzt habe er sich gleichwohl durch die gegenwärtige Rechtslage nicht diskriminiert gefühlt, es werde hier zum Teil über Dinge geredet, „mit denen man in der Praxis nichts zu tun hat“. Dass in einem der wohl besten Gesundheitssysteme der Welt gerade die „Versorgungslage“ mit dieser Operation schlecht sein oder sich verschlechtert haben solle, lasse sich nicht belegen; im Gegenteil, die Ergebnisse der ELSA-Studie zeigten, dass die flächendeckende Versorgung mit für die Noch-Schwangeren sicheren Abbrüchen gegeben sei, es bestehe, auch vor dem Hintergrund der Zunahme medikamentös eingeleiteter Abbrüche, kein „Versorgungsproblem“. Er wundere sich darüber, dass der Gesetzentwurf einzig auf der ELSA-Studie beruhe, „die große Schwächen hat: sie ist mitnichten evidenzbasiert“. Professor David forscht zur „Versorgungslage“ und veröffentlicht die Ergebnisse in Fachpublikationen.

Es finde sich, betont David, in Aus- und Weiterbildung von Ärzten in puncto Schwangerschaftsabbruch, wie so oft insinuiert, „keine Lücke“, das Thema sei „seit vielen Jahren fest verankert“. „Es trifft nicht zu, dass ein Erlernen des operativen Schwangerschaftsabbruchs in irgendeiner Weise nicht erfolgen kann“, zumal der technische Ablauf bei einer medizinisch nicht gebotenen Abtreibung dem des Entfernens einer Fehlgeburt stark ähnele.

Der Koordinator der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe für die aktuelle Leitlinie zum Schwangerschaftsabbruch betont, dass gerade auch ethisch-moralische Fragen und Beratung im Medizinstudium gelehrt würden. Mehrmals hebt David das verbriefte Weigerungsrecht hervor, an Abtreibungen mitzuwirken, das sowohl in der Aus- wie der Fort- und der Weiterbildung gelte. Dass ärztliches Personal aus Gewissensgründen die Mitwirkung am Abbruch verweigere, habe er in seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Frauenarzt immer wieder erlebt: „und zwar ist das unabhängig von der Ethnizität, vom Geschlecht, aber auch von der religiösen Ausrichtung“. Es gebe auch „junge Kolleginnen, die einfach sagen, ‘ich verstehe zwar die Frau, ich verstehe die Patientin, aber ich möchte nicht selber daran mitwirken’, und das haben wir dann auch so zu akzeptieren“.

Die Schwangerschaftskonfliktberatung sei aus seiner Sicht „sehr, sehr wichtig“. Fast alle Frauen befänden sich in einem Ambivalenzkonflikt, daher sei eine Frist zwischen Beratung und Abbruch von zwei bis drei Tagen „extrem wichtig“.

David lässt, wie schon bei dem expliziten Hinweis auf Schmerzen und Gewissensvorbehalte, einen eigenen Ambivalenzkonflikt durchblicken: „Ich führe Schwangerschaftsabbrüche durch“, er wirke daran mit und bilde darin aus. „Darauf bin ich nicht stolz, aber der Wunsch der Schwangeren ist zu akzeptieren und umzusetzen nach Beratung und Bedenkzeit.“ Erschütternd.

„Das ist das Anzünden dieser Gesellschaft“

In einer längeren Vorbemerkung zu ihrer Frage fasst Abgeordnete Beatrix von Storch ein wenig in der Art eines Elder Statesman etwas Grundsätzliches zusammen: den Grunddissens in der Runde, der darum gehe, wann das Menschenleben beginnt. „Für einige beginnt das Leben erst sehr spät und für andere schon von Anfang an, und deswegen hat man einen ganz anderen Ansatz, um zu sagen, kann man das wegmachen oder kann man das nicht wegmachen. Wir kommen da nicht zusammen.“

Der Kompromiss um Paragraf 218 sei für beide Seiten „ehrlicherweise unerträglich“. „Der 218 ist der schlechteste aller Kompromisse, der sich dadurch auszeichnet, dass ihn beide Seiten irgendwie ertragen können.“ Diesen jetzt „schleifen zu wollen, ist tatsächlich das Anzünden dieser Gesellschaft“. Da die Abgeordnete von Storch nach der Tagesordnung lediglich eine Frage hätte stellen, aber keine auch noch so gut gemeinte Meinungsäußerung hätte abgeben dürfen, bricht im Plenum vernehmliches Hüsteln und Räuspern aus, das wiederum die AfD-Rednerin zu Entgegnungen provoziert. Wo lebendige Menschen in den Zeitfragen miteinander ringen und sich aneinander reiben, da menschelt es eben auch unter auf Sachlichkeit verpflichteten Sachverständigen nach Kräften.

 

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Immer wieder führen die von SPD und Grünen nominierten Sachverständigen eine Umfrage des Bundesfamilienministeriums an, wonach 80 Prozent der Deutschen für eine Legalisierung der Abtreibung seien. Doch die Erhebung weist fachliche Mängel auf – Corrigenda berichtete. Zudem erbrachten andere Befragungen gänzlich andere Ergebnisse. Eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen kam zu dem Ergebnis, dass nur 36 Prozent für die Abschaffung von Paragraf 218 plädierten. Eine Erhebung von INSA ergab, dass nicht 80, sondern lediglich 44 Prozent erleichterte Abtreibungen möchten. Ein riesiger Unterschied, der mit Fehlertoleranz nicht zu erklären ist.

… dann werde „Brandmauer des Lebensschutzes“ eingerissen

Der Bonner Jurist Gregor Thüsing stellt einen „nonchalanten Umgang“ mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fest. Die Begründung des Gesetzentwurfs zur Neuregelung sei aus juristischer Sicht „radikal“ und „stärkster Tobak“, er sehe sie auch nicht durch einen praktischen Bedarf angezeigt. „Da weiß es der Gesetzgeber offenbar besser als das Bundesverfassungsgericht, man fragt sich wieso?“ Dringend rate er, der Materie in einer neuen Legislaturperiode mehr Zeit und Raum zu geben. Der Gesetzentwurf sei „mitnichten minimalinvasiv oder ausgewogen“, die gegenwärtige Emotionalisierung des Themas werde durch den Entwurf nicht befriedet, sondern befeuert.

Der Bonner Jurist Gregor Thüsing: . Die Begründung des Gesetzentwurfs zur Neuregelung sei aus juristischer Sicht „radikal“ und „stärkster Tobak“

Thüsing gehört zu den wenigen, die an diesem Abend auf den Kernsatz aus Karlsruhe von 1993 pochen, dass Menschenwürde auch schon dem ungeborenen menschlichen Leben zukommt. „Wir haben in den vergangenen Wochen viel von Brandmauern gehört“, die es zu schützen gelte; „mit diesem Entwurf wird aber eine Brandmauer des Lebensschutzes eingerissen, und auch das spaltet.“ Das aktuelle Recht verdeutliche: „Tötung ist Unrecht, auch da, wo es nicht bestraft wird.“ Bei den Worten „Brandmauer des Lebensschutzes“ geht ein deutlich hörbares Stöhnen durch die Reihen der SPD- und Grünen-Abgeordneten.

„Die zugrundeliegende Argumentation überzeugt nicht“

Frauke Rostalski, die den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln innehat, ist keine Unbekannte. Schon seit der Präsentation der Ergebnisse der Abtreibungskommission ist sie eine der versiertesten Juristinnen, die sich gegen eine Neuregelung, also Abtreibungslegalisierung, aussprechen. Auch in der Anhörung lässt sie nichts anbrennen.

Die Kölner Juristin Frauke Rostalski: „Das setzt sich dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit aus“

Gleich zu Beginn ihrer Stellungnahme ruft sie die Abgeordneten dazu auf, den Gesetzgebungsprozess nicht weiter zu verfolgen. „Die zugrundeliegende Argumentation überzeugt nicht. Außerdem setzt sich gerade das, was vorgeschlagen wird, dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit aus.“ Karlsruhe sage klar, dass der Schutz des ungeborenen Lebens Vorrang habe. Außerdem widerspricht die 40-Jährige der Darlegung, wonach internationales Recht es gebiete, Abtreibungen zu legalisieren. Auch sie kritisiert die dem Gesetzentwurf zugrundeliegenden Annahmen, Stichwort ELSA, die nicht evidenzbasiert seien. Statt der Abtreibungslegalisierung brauche es eine bessere Sozialpolitik. Das Recht auf Leben dürfe nicht davon abhängig sein, ob eine Schwangere mit einer Krise konfrontiert sei. Mit der Neuregelung stehle sich die Gesellschaft aus der Verantwortung für Schwangere in Not.

Dass es weder „die“ Wissenschaft im Allgemeinen noch „die“ Rechtswissenschaft im Besonderen gibt, verdeutlichen die entgegengesetzten Stellungnahmen zweier anderer Juristen. Die Verfassungsrechtlerin Frauke Brosius-Gersdorf (Potsdam) findet den Gesetzentwurf verfassungsrechtlich ohne weiteres zulässig, und der Bundestag sei bei einer Neuregelung auch keineswegs an die Entscheidungen Karlsruhes gebunden, sondern dürfe die Lage verfassungsrechtlich neu bewerten. Und nach dem Medizinstrafrechtler Karsten Gaede (Hamburg) sei das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs in der Frühphase nicht mehr zu halten. Das Bundesverfassungsgericht unterstelle, dass der Körper der Schwangeren prinzipiell fremdnützig „zur Erfüllung von Schutzzielen“ verfügbar und eine „Austragungspflicht“ damit grundsätzlich zumutbar sei.

Wie es nun weiter geht

Die Initiatoren Carmen Wegge und Ulle Schauws sind enttäuscht. Bislang haben sie keine Sondersitzung des Rechtsausschusses beantragt. Diese wäre aber nötig, um den Gesetzentwurf aus dem Ausschuss heraus in den Bundestag zu bekommen, wo in zweiter und dritter Lesung über ihn abgestimmt werden könnte. In einer gemeinsamen Stellungnahme begründeten sie dies damit, dass es ohne Union und FDP eine „Zufallsmehrheit mit der AfD“ geben könnte. „Diese rote Linie überschreiten wir nicht.“ Zur Erinnerung: SPD und Grüne hatten die Union heftig dafür kritisiert, zusammen mit AfD und FDP einen nicht verbindlichen Antrag zur Begrenzung der Masseneinwanderung im Plenum beschlossen zu haben. Da wäre es wenig kongruent, wenn sie nun die Abtreibungslegalisierung mit Stimmen der AfD beschließen könnten.

Dies wäre deshalb möglich, weil derzeit SPD, Grüne und Linke über 19 Abgeordnete im Rechtsausschuss verfügen, Union, FDP und AfD über 20. Sollte nur einer von ihnen anders abstimmen, hätten die Abtreibungsliberalisierer eine Mehrheit. Schon einmal hatten einige AfD-Mitglieder im Ausschuss gegen die Union und für SPD und Grüne gestimmt. Zwar lehnt die AfD den Gesetzentwurf ab; doch sollte er den Ausschuss verlassen und es zu einer Abstimmung im Plenum kommen, würde er mit hoher Wahrscheinlichkeit beschlossen werden, selbst wenn Union und AfD sowie Teile der FDP ihn ablehnten.

Die Jubelmeldungen einiger Lebensschützer sind verfrüht. Denn für den Beschluss der geplanten Neuregelung gibt es nach wie vor mehrere Szenarien. Eine Fraktion oder ein Drittel der Mitglieder im Ausschuss kann eine Sondersitzung beantragen. Dann würde dasselbe Spiel wie im Dezember 2024 wieder von vorn losgehen. Die Union würde die Abwahl des entsprechenden Tagesordnungspunkts beantragen, und die AfD sowie die FDP würden dies wahrscheinlich mittragen. Es reicht jedoch nur einer von ihnen, der anders entscheidet – und schon besteht das Risiko, dass der Gesetzentwurf seinen Weg aus dem Ausschuss hinein ins Bundestagsplenum findet. 

Wichtig zu wissen: Die Einberufung einer Sondersitzung des Rechtsausschusses und später des Bundestags ist nicht nur bis zur Neuwahl am 23. Februar möglich, sondern bis zur konstituierenden Sitzung des nächsten Bundestags. Diese muss nach Grundgesetz spätestens 30 Tage nach der Wahl stattfinden. Und wer weiß schon, wie Abgeordnete abstimmen, wenn sich bei der Bundestagwahl ergibt, dass sie nicht wieder gewählt wurden.

Dass bei der konstituierenden Sitzung eine der maßgeblichen Treiber der Abtreibungslegalisierung, nämlich Carmen Wegge, dabeisein wird, ist indes zweifelhaft: Wegge schaffte es nur auf Platz 12 der SPD-Landesliste. Aktuell hat die SPD 23 bayerische Abgeordnete in Berlin. Weil die Sozialdemokraten im Ergebnis gegenüber der Wahl 2021 absehbar um rund zehn Prozentpunkte absacken werden und dem neuen Wahlrecht zufolge der Bundestag verkleinert wird, wird es für Wegge eng.

 

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