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„Aufrecht unter Hammer und Sichel“ – Teil 3

Ralf Schuler: „Für mich war der Staat einfach der Feind“

Trifft man Ralf Schuler, redet er genau auf die Art und Weise, wie man es von seinem Nius-Interviewformat „Schuler! Fragen, was ist“ gewohnt ist: Nüchtern, sachlich, begleitet von einer guten Portion Selbstironie und trockenem Humor (sein Kommentar, als das bestellte Mittagessen in der Berliner Brasserie am Gendarmenmarkt serviert wird: „Auf dem Teller ist mittlerweile mehr Besteck drauf als alles andere“). Auch wenn er von dramatischen, persönlichen Erlebnissen berichtet, wie der Enteignung der Schulerschen Familienbäckerei durch Beamte der DDR, der Schikanen in Schule, Wehrdienst oder Universität, bleibt das Berliner Urgestein in Sprachton und Mimik stets unaufgeregt, als ob von alltäglichem Klein-Klein die Rede wäre. Ein typisch norddeutscher Charakterzug? Journalistische oder eher Berliner Abgebrühtheit? 

Während des einstündigen Gesprächs kommt der Berufswunsch des jungen Ralf Schuler zur Sprache. Die Möglichkeit, ein Studium und einen Beruf frei zu wählen, hat der 1965 in Ost-Berlin geborene Politikjournalist sich unter anderem dadurch verbaut, dass er bei einem Abituraufsatz durchfiel, weil er sozialistische Kampfliteratur bewusst nicht eingebaut hatte. 

Der Ärger mit dem Unrechtsregime fing allerdings schon damit an, dass er als Kind in der religionsfeindlichen DDR Mitglied in der Jungen Gemeinde, einer Form evangelischer Jugendarbeit, war. „Wenn du begehrte Studienplätze haben wolltest wie Medizin oder Archäologie, dann war für einen jungen Menschen klar, du musst dich für drei Jahre zur Armee verpflichten und einen politisch sauberen Lebenslauf haben. Das habe ich beides nicht gehabt“, erklärt der Ehemann und Vater von drei Kindern im Gespräch mit Corrigenda.

Arbeiten für den Sozialismus

Als durchschnittlicher Schüler wurden einem nach Schulabschluss ein Fach wie Chemie oder Landmaschinentechnik von der staatlich gelenkten Studienplatzvergabe angeboten – „etwas, was der Sozialismus brauchte“. Schuler bekam nichts davon. Trotzdem versuchte er sein Glück an der Hochschule für Film und Fernsehen in Babelsberg, einem Stadtteil von Potsdam. Dort bewarb er sich für das Fach Film- und Fernsehregie. Die Hochschule nahm ihn auf, doch wurde dem jungen Christen die Verweigerung der dreijährige Ausbildung zum Unteroffizier zum Verhängnis.

Nach der Wiedervereinigung konnte er sich Einblick verschaffen in die Beurteilung, die eine ehemalige Klassenorganisationsleiterin über ihn verfasst hatte. „Die war so verheerend, das mir klar war, warum ich damals keinen Studienplatz bekam“, sagt Schuler. Damals war klar: Außer in die Produktion zu gehen bleibt nichts übrig.

Sich die Ausbildung nicht selbst auswählen zu können, nicht etwas zu machen, was den eigenen Talenten und Interessen entspricht, ist für freiheits- und wohlstandsverwöhnte Millenials und Gen Zs im Jahr 2024 nahezu unvorstellbar und grenzt an Tragik. „Das war unerreichbar“, kommentiert Schuler den Einwurf auf seine nüchterne Art. „Karrierechancen waren im Sozialismus ohnehin nicht groß, schon gar nicht ohne Parteibuch.“

„… irgendwie das Leben fristen“

Schriftsteller hätte er noch werden wollen, aber dazu musste man Mitglied im Schriftstellerverband PEN sein, der in Ostdeutschland damals auch gleichgeschaltet war. „Insofern wäre ein normaler Job okay gewesen. Es stand auch eine Zeit lang zur Debatte, ob ich die Familienbäckerei übernehme. Das war nicht mein Traumjob, aber man hätte es machen können. Die Anspruchshaltung war nicht so sehr Glück und Erfüllung, sondern irgendwie sein Leben zu fristen“, beschreibt Schuler die allgemeine Einstellung im sozialistischen Regime.

Es blieb ihm nichts anderes übrig: Beim Glühlampenwerk Narva in Berlin-Friedrichshain machte Ralf Schuler eine Ausbildung zum Mechaniker

Warum wurde nichts aus einer Laufbahn als Bäckermeister? Der Journalist erlebte den Raub von Privateigentum durch den Staat am eigenen Leib: Im Jahr 1982 wurde die Bäckerei der Familie Schuler, die sich über 100 Jahre in deren Besitz befand, von der DDR enteignet. Selbstständig wirtschaften konnten die Inhaber in dem Unrechtsregime nie. In der Planwirtschaft war alles genau vorgegeben: Wie viel Ostmark für ein Brötchen, wie viel für ein Brot verlangt werden durfte, welche und wie viele Zutaten gekauft werden durften und wie viel man den Angestellten zu zahlen hatte.

Arbeitnehmer mussten mehr verdienen als Arbeitgeber

„Wir mussten die Mitarbeiter wie die herrschende Klasse bezahlen, weil es ja das Land der Arbeiter und Bauer war“, erinnert sich der 59-Jährige. Das bedeutete, dass sein Opa, der „Inhaber und Meister“, gezwungen war, weniger zu verdienen als seine Arbeitnehmer, obwohl er es war, der „um zwei in der Nacht aufstehen musste, um den Ofen zu heizen, um sieben die Bäckerei öffnete und am Nachmittag die gesamte Buchhaltung machte“.

„Wenn du erwischt wurdest dabei, dass du irgendwie selbst Zutaten besorgt hattest, dann konntest du ganz schnell in den Knast gehen, weil das ja dann nicht durch die Bücher ging“, sagt der Nius-Journalist. Das wäre ein „Vergehen am sozialistischen Eigentum“ gewesen. Die Familie hatte einen Nachbar, der eine Fleischerei besaß, und für über zwei Jahre ins Gefängnis musste. Sein Vergehen: Er schlachtete Tiere über die von der staatlichen Genossenschaft erlaubte Menge.

„Alle geilen Produkte kommen aus dem Westen“

Der Familie Schuler sei bewusst gewesen, dass sie sich jenseits der Tür ihrer Bäckerei in „Feindesland“ befand. In den eigenen, sicheren vier Wänden konnte der Bäckerssohn ein kleines Stück Freiheit leben. Nächtelang hörte er sich englische Songs auf einem Kassettenrekorder an und übersetzte sie. „Das klingt blöd, aber ich habe darunter gelitten, dass ich wusste, dass in West-Berlin irgendeine Band auftritt, und du kommst ums Verrecken einfach nicht dorthin“, erinnert sich der im Ost-Bezirk Köpenick aufgewachsene Berliner.

Während eines Aufenthalts in Budapest kaufte er sich einen „Falk“-Stadtplan von Manhattan. „Ich hatte somit ein Stück Manhattan in der Tasche. Auch, wenn’s nur symbolisch war“, beschreibt er sein Lebensgefühl als junger Mensch. Es sei nicht abzusehen gewesen, dass er jemals würde in die USA reisen können.

Durch die Lektüre von Stefan Zweig oder Erich Maria Remarque war für Schuler früh klar, dass sich die bedeutenden Ereignisse in der Welt in Paris oder in London abspielten und nicht in Sofia, Bukarest oder Bratislava. „Ich habe mir damals gedacht: Alle geilen Produkte kommen aus dem Westen, aus der freien Welt – Levi’s, Schweizer Taschenmesser, Hohner Blues Harp (eine Mundharmonika-Marke, Anm.) – und nicht aus dem komischen Zoo hier.“

Reportage über die erste McDonald’s-Filiale

Junge Menschen mit Lebenshunger, Freiheitsdrang, Neugierde und Abenteuerlust, wie Ralf Schuler einer war, hatten es schwer in der geschlossenen Welt des Sozialismus. „Vielleicht hätte man wirklich einen Ausreiseantrag stellen sollen“, scheint Schuler bei dem Mittagessen halb zu seinem Gegenüber, halb zu sich selbst zu sagen. 

Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sich zum Mechaniker für Metallverarbeitung bei dem Glühlampenwerk Narva in Berlin-Friedrichshain ausbilden zu lassen. Journalist zu werden stand für Schuler bis zu diesem Zeitpunkt nicht zur Debatte. Die Arbeitsbedingungen bei Narva waren „grausam“, und die Natronlauge verursachte Ausschläge auf den Händen, sodass der junge Mann „eigentlich nur wegwollte“. 

Doch dann führt ihn der Zufall – oder das Schicksal – über Beziehungen zum Journalismus. 1985 bekommt Schuler einen Job bei der Tageszeitung Neue Zeit, die jener Parteienfamilie angehört, deren spätere Kanzlerin er über zehn Jahre für die Bild-Zeitung begleiten wird: der Block-CDU der DDR, die nach der Wende in die West-CDU eingegliedert wurde. Dort schreibt er über Taubenzüchter, Laubsägen und eine „Riesensensation“, einen Bovist, das ist ein Speisepilz, der „halb mannshoch“ wurde. Eine Reportage führt ihn nach Budapest. Dort besucht er die erste McDonald’s-Filiale im sozialistischen Ungarn, die 1988 eröffnete, noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs.

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Dann kam die Wende, und die Neue Zeit wurde von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung übernommen. Im Nachhinein beschreibt Schuler es als „absurd“, als „Verkehrung der normalen Mechanismen“, dass er als nicht-linientreuer Bürger in der DDR Journalist geworden ist. „Für mich war der Staat einfach der Feind.“

Absurditäten bis zum bitteren Ende

Noch in den letzten Atemzügen der DDR erlebt Schuler die Absurditäten und das letzte Aufbäumen des Regimes. Im Herbst 1989 bekommt er einen Platz im Fernstudium für Literatur- und Kulturwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität. Bei der Immatrikulationsfeier müssen die Studenten ihr FDJ-Hemd anziehen, aufstehen und die DDR-Nationalhymne singen. Was der Journalist verweigert. „Da ging der Ärger schon wieder los“, sagt er.

Während das Land zusammenbricht, glaubt die Dozentin für marxistische Ideologie, Nina Hager, Tochter des SED-Sekretärs Kurt Hager, den Studenten sozialistische Wirtschaftslehre beibringen zu müssen. „Völlig bizarre Szenen“, kommentiert Schuler.

Merkels Vater, der „rote Kasner“

Die Geschichte schlägt bekanntlich gerne Schnippchen. Jahre nach der Wende stellte sich heraus, dass alte protestantische Bekanntschaften aus der Zeit des Ostblocks dem Hauptstadt-Journalisten zum Vorteil gereichten. Den späteren Bundespräsidenten Joachim Gauck kennt er aus seiner Zeit in Rostock, wo er den Grundwehrdienst ableistete und Gauck als Pfarrer tätig war. Als der evangelische Theologe 2012 Bundespräsident wurde, war Schuler für ihn der zuständige Journalist bei Bild.

 

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Auch zu Angela Merkels Familie gibt es Berührungspunkte. „Mein Schwiegervater, ein evangelischer Pfarrer, war im Prinzip ein Kumpel von Merkels Vater. Der war sozialistisch eingestellt“, erzählt der Journalist. Der „rote Kasner“, so lautete Horst Kasners Spitzname, war evangelischer Theologe und gehörte dem von der Stasi beeinflussten „Weißenseer Arbeitskreis“ an, der linke, regimekonforme Positionen vertrat. „Es war ja bekannt, dass ich kein großer Merkel-Fan gewesen bin, aber ich denke, ich war immer fair zu ihr“, resümiert Schuler sein persönliches Verhältnis zu der langjährigen Bundeskanzlerin.

Dass Schuler zur Bild kam, hat er in gewissem Sinne dem Sozialismus zu verdanken. Ende der 2000er Jahre sprach die damalige Abgeordnete der Linkspartei, Gesine Lötzsch, im Bundestag von „demokratischem Sozialismus“, den die Linke als Ziel anstrebe. Dazu veröffentlichte der Boulevardjournalist einen Kommentar in der FAZ, in dem er ihr „viel Glück bei dem neuen Anlauf für den Sozialismus“ wünschte und darum bat, „beim nächsten Testlauf nicht wieder dabei sein zu müssen“, der erste habe ihn nämlich nicht überzeugt. Kai Diekmann, zum damaligen Zeitpunkt Chefredakteur der Bild, wurde durch den Artikel auf Schuler aufmerksam und bot ihm einen Job an.

Dem Regime sei Dank

Die Geschichte des Journalisten zeigt, dass Mut und Widerstand oft auf leisen Sohlen daherkommen, unscheinbar. Schulers Abgang als Leiter der Parlamentsredaktion der Bild im November 2022 verursachte zwar mediales Pomp und Trara, aber seine Kündigung bei dem Boulevardblatt war eher gekennzeichnet von Konsequenz und Treue zu den eigenen Werten als durch lauten Aktivismus. 

„Ich bin nicht bereit, für eine politische Bewegung, welcher Art auch immer, und unter ihrer Flagge zu arbeiten. Das habe ich früher nicht getan und tue ich heute erst recht nicht“, habe er in der Bild-Redaktionssitzung gegenüber Mathias Döpfner seinen folgenschweren Schritt erklärt. Zuvor war im Schwesterblatt Welt ein transgenderkritischer Kommentar erschienen, der in Medien und Politik für Furore sorgte. Springer-Chef Döpfner knickte gegenüber dem Druck der LGBTQ-Community ein und positionierte sich eindeutig gegen die sachkundigen Autoren des Gastkommentars. Daraufhin reichte Schuler, der seit 1994 für Springer arbeitete, seine Kündigung ein. Gestern das sozialistische Regime, heute eine autoritäre LGBTQ-Lobby. 2023 erschien sein Buch „Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport” wurde, in dem er dem Konformismus, ob unter roter oder regenbogenfarbener Fahne, eine Absage erteilte.

„Das verfolgt mich bis heute“

Es gibt jedoch einen Fall aus Schulers Schulzeit, der ihn bis heute nicht loslässt. In einer Geschichtsstunde über den Dreißigjährigen Krieg zitiert er nichtsahnend die Bibelstelle: „Wer das Schwert zieht, wird durch das Schwert umkommen.“ Die Geschichtslehrerin, eine „scharfe Genossin“, merkt sofort auf: „Bist du in der Jungen Gemeinde?“ Der verdutzte Schüler verneint und meint, er habe das einfach so gesagt. 

„Dass ich da den Glauben sozusagen verleugnet habe, das verfolgt mich bis heute. Wenn ich das irgendwie ungeschehen machen könnte …“, sagt der Erwachsene heute, viele Jahrzehnte nach dem Vorfall. Das Sich-heraus-Lügen gehörte in der DDR zum Standard, aber genau das habe er sich eigentlich nicht angewöhnen wollen. „Danach habe ich beschlossen, immer die Wahrheit zu sagen.“ Das ist Schulers persönliche Lehre aus dem einschneidenden Erlebnis.

Im Leben kann es vorkommen, dass Handicaps, die vorerst für Nachteile sorgen, sich später als Vorteil entpuppen. Bei dem „renommiertesten Politikjournalisten des Landes“ (Cicero) war es die Schikane der SED-Regierung. „Es gibt so Situationen im Leben, wo sich Dinge ergeben, von denen man hinterher denkt: ‘Vielleicht hat’s einen Sinn gehabt oder vielleicht hat’s jemand gelenkt’“, sagt der Journalist abschließend so unaufgeregt wie zu Beginn und trinkt den letzten Schluck Kaffee aus.

 

Dieses Porträt ist Teil der Reihe „Aufrecht unter Hammer und Sichel“. Hier werden Menschen vorgestellt, die im kommunistischen Ostblock aufwuchsen und dort Schikanen, Demütigungen und Denunziation erfuhren. Die Dissidenten, Andersdenkenden und bekennenden Christen haben, oft im Kleinen, dem Regime getrotzt und sich ihren Glauben bewahrt.

 

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Kommentare

Kommentar
4
Veritas
Vor 2 Monate 4 Wochen

Neulich die Geschichte über den Apotheker, jetzt über Ralf Schuler, was für beeindruckende Menschen es doch immer noch gibt. Danke für die Berichte!

4
Veritas
Vor 2 Monate 4 Wochen

Neulich die Geschichte über den Apotheker, jetzt über Ralf Schuler, was für beeindruckende Menschen es doch immer noch gibt. Danke für die Berichte!