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Peter Scholl-Latour

Die Stimme der sachgerechten Unterscheidung

Eines der letzten Bücher von Peter Scholl-Latour, der am 9. März 1924 in Bochum geboren wurde, lautete „Die Welt aus den Fugen“. In einer Welt, die erneut aus den Fugen geraten zu sein scheint, wurde der 100. Geburtstag des 2014 verstorbenen Bestsellerautors in führenden deutschen Medien, etwa bei öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, bis auf wenige Ausnahmen faktisch übersehen. Würdigungen blieben aus, Empfehlungen zu einer Relecture seiner zahlreichen Schriften ebenso. 

Gilt der, wie Heike Mundt anlässlich seines Todes für die Deutsche Welle sagte, „konservative Querdenker“ und wegen seiner ungeschmeidigen politischen Klarsicht heute als eine Persönlichkeit aus der Welt von gestern? Als ein Realist von „rechts“, der vergessen werden darf, ja – vergessen werden soll?

Peter Scholl-Latour wurde katholisch getauft, der Sohn des Arztes Otto Konrad Ott galt, seiner jüdischen Mutter wegen, als nach den Nürnberger Rassegesetzen von 1936 als „Mischling ersten Grades“. In seinem langen Leben bewahrte der bekennende Katholik, der am 16. August 2014 in Rhöndorf nach schwerer Krankheit verstarb, stets Respekt und Sympathie für Religion und religiös musikalische Menschen, diesseits und jenseits des Christentums. Auch so knüpfte der ehemalige Fremdenlegionär, weitgereiste Publizist und promovierte Politikwissenschaftler stabile Kontakte zu Staatsmännern aus der arabischen Welt. 

Was würde jemand wie Peter Scholl-Latour zur politischen Lage heute sagen?

Der Islam-Kenner Scholl-Latour gehörte nie zu den moralisierenden Meinungsmachern, galt als Stimme der sachgerechten Unterscheidung und pointierten Analyse. Den ungezügelten Machtwillen und den grausamen Imperialismus des russischen Präsidenten Wladimir Putin – in einem Interview empörte er sich 2014 über das „Pöbeln gegen Putin“ angesichts der Annexion der Krim – verkannte er. 

Ungeachtet dieser Fehleinschätzung, wie zehn Jahre später der Ukraine-Krieg zeigt, bleibt Scholl-Latour wegen seines Kenntnisreichtums, seiner Erfahrungen in aller Welt als eine imposante Stimme der sachgerechten Unterscheidung und der pointierten Analyse jenseits des Mainstreams in Erinnerung. Angesichts heutiger Konfliktherde, von den Machtverschiebungen in Zentralafrika, von der Lage im Nahen Osten bis hin zu der Rolle Chinas in Ökonomie und Politik und politischen Unwägbarkeiten in den USA im Umfeld der kommenden Präsidentschaftswahl, der Wiederkehr des Zweikampfes ums Weiße Haus zwischen Joe Biden und Donald Trump, fragt sich mancher Zeitgenosse, der längst den Überblick verloren hat, sich heute vielleicht: Was würde jemand wie Peter Scholl-Latour zur politischen Lage heute sagen?

In Talkshows, auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, echauffierte er sich mitunter und erwiderte auf Statements und Ansichten von Kollegen, die ihm politisch naiv erschienen, durchaus: „Sie haben ja überhaupt keine Ahnung.“ Provokativ, ungeschmeidig und kenntnisreich meldete sich Peter Scholl-Latour zu Wort, als versierter Sachbuchautor und souveräner Analytiker des Zeitgeschehens. Auch heute noch sind Bücher wie „Der Tod im Reisfeld“ oder „Die Welt aus den Fugen“, die zu Bestsellern wurden, ohne Abstriche lesenswert. 

Was Peter Scholl-Latour in Kriegs- und Krisengebieten Halt gegeben hat

Als WDR-Fernsehdirektor verantwortete Scholl-Latour, der nicht nur Krisen- und Kriegsgebiete kannte, in den 1970er Jahren auch die Einführung der „Lach- und Sachgeschichten“, eine Sendereihe für Kinder, die sich bis heute einer großen Beliebtheit erfreut – nämlich „Die Sendung mit der Maus“. Selbst wenn Scholl-Latour sein Bekenntnis zum christlichen Glauben niemals versteckte, so gehört seine Zugehörigkeit und Treue zur römisch-katholischen Kirche doch eher zu den unbekannten Seiten des Journalisten. 

Freimütig gestand er ein, was ihm, der Kriegs- und Krisengebiete auf der ganzen Welt bereist hatte, Halt gab: der Glaube an Gott, das Beispiel der Heiligen und die Treue zur römisch-katholischen Kirche. Zwar haderte Scholl-Latour, wie er in den unvollendet gebliebenen, postum 2015 veröffentlichten Erinnerungen „Mein Leben“ darlegte, mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Die Notwendigkeit des „aggiornamento“ – einer zeitgerechten Verkündigung des Glaubens, nicht einer Verwässerung der Lehre – erkannte er zwar an. Die Konsequenzen des Konzils für die Feier der Liturgie missbilligte er entschieden. 

Peter Scholl-Latour (Mitte) mit dem früheren deutschen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (links) 1998

Die „neue Messe in der jeweiligen Landessprache“ und deren „protestantische Kargheit“ verstörte ihn. Dies alles wirkte auf ihn wie die faule Frucht einer „anpasserischen Toleranz“. Den Bruch mit der Liturgie der Kirche verstimmte ihn als Akt wider die Tradition: „Eine Reihe von Pfaffen bemühte sich sogar, den Gottesdienst in ein fröhliches Musical, in ein Happening abzuwandeln, um dem vermeintlichen Zeitgeist Rechnung zu tragen.“ 

Niemals lebenssatt, aber immer dankbar

Scholl-Latour beklagte, dass die Kirche sich selbst ihres strahlenden Dekorums beraubt und damit an Anziehungskraft auch für viele Menschen verloren habe: „Die Reduzierung der Heiligenkulte, die Abschaffung einer ganzen Reihe bewährter Schutzpatrone, deren Vita ohnehin der Legende angehörte, entsprach der törichten Konzession an einen modischen Modernismus.“ Gegen solche Versuchungen der Banalisierung der Rituale und des Glaubens, so Scholl-Latour, waren sowohl die orthodoxen Kirchen als auch der Islam gefeit. In den letzten Lebensjahren bekümmerten ihn der Skandal des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche sehr.

Zugleich erfüllte den weitgereisten und niemals lebenssatten Journalisten große Dankbarkeit für die Kirche. Auf die Frage, was ihn in seinem Leben am meisten geprägt hätte, antwortete er 2004 in einem Interview mit dem Tagesspiegel: „Vielleicht die katholische Kirche. Und die Heiligen, denen ich in meinem Leben begegnet bin. Im Dritten Reich zum Beispiel war das ein Geistlicher, der es während der Diktatur in einem kleinen katholischen Internat gewagt hat, die Briefe des Bischofs von Galen zu verlesen. Der Mann hat seinen Kopf riskiert. Oder die Nonnen, die mir zu essen gegeben haben, obwohl sie selbst kaum etwas hatten. Oder der französische Kommunist, den seine Partei nach Nazi-Deutschland geschickt hatte, um Sabotage zu verüben. Das waren Helden.“

Auch Peter Scholl-Latour, der „Halbjude“ katholischen Glaubens, kannte selbst die Kerker der Gestapo. Die Erfahrungen, über die er nicht sprechen wollte, stärkten ihn, um für spätere Herausforderungen im Leben gewappnet zu sein. Davon berichtete er in einem Gespräch mit Ramon Schack: 

„Nur so viel möchte ich Ihnen mitteilen, damals, als junger Mann von 21 Jahren, lernte ich die Abgründe der menschlichen Natur kennen. Ich bin aber auch immer Heiligen begegnet. Der Mensch ist halt beides – böse und gut –, und es kommt auch immer auf die Umstände an, welche Seite dominiert. Diesbezüglich geben wir uns heute gerne immer wieder irgendwelcher Illusionen hin. Deshalb gibt es ja auch die Religion, nicht um den Menschen gut, sondern um ihn erträglich zu machen, wobei Religion natürlich auch immer missbraucht wurde und wird.“

„Ich fürchte nicht die Stärke des Islam, sondern die Schwäche des Abendlandes“

Für Scholl-Latour blieb der christliche Glaube inmitten der säkularen Orientierungslosigkeit nicht nur sinnstiftend, sondern unverzichtbar als verlässlicher Wegweiser. Ein wichtiges Memento für heute ist seine Erinnerung an das gottgläubige Heldentum, an den illusionslosen Heroismus des Christentums. Die Heiligen trotzten säkularen Machthabern und damit auch dem Ungeist ihrer Zeit. Heute scheint das Christentum im alten Europa wie zu verdunsten und sich aufzulösen. Auch darum warnte Peter Scholl-Latour entschieden vor Atheismus und Apostasie. Im Gespräch mit dem Magazin idea sagte er 2012: 

„Ich fürchte nicht die Stärke des Islam, sondern die Schwäche des Abendlandes. Das Christentum hat teilweise schon abgedankt. Es hat keine verpflichtende Sittenlehre, keine Dogmen mehr. Viele evangelische und auch katholische Kleriker sind dazu übergegangen, die Jenseitsbestimmung ihres Glaubens und die Dogmen ihrer Kirchen dem Zeitgeist zu opfern. Sie neigen dazu, das Christentum auf eine humanitäre Philosophie oder auf eine Soziallehre zu reduzieren.“ 

Ob der skeptische, ja pessimistische Peter Scholl-Latour auch hier Recht behalten wird? Vielleicht hat ihn auch hier die Hoffnung nicht ganz verlassen. Bis in sein letztes Lebensjahr blieb er neugierig. In einem Interview zu seinem 90. Geburtstag wurde er zu seinen Reiseplänen befragt: „In Kürze werde ich nach N’Djamena aufbrechen, der Hauptstadt des Tschad. Ich bin lange nicht mehr dort gewesen, es hat sich alles total verändert.“ 

Er bekannte auch, sich vor den Gebrechen des Alters nicht zu ängstigen – und schwieg von allen Krankheiten, an denen er selbst litt. Peter Scholl-Latour, der furchtlose Katholik, starb wenige Monate später, im Glauben daran, dass er für immer nach Hause gehen durfte. Über die Hoffnung auf das ewige Leben musste er kein Wort verlieren. Daran hat er einfach geglaubt.

 


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Kommentare

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Thomas Kunkler
Vor 8 Monate 1 Woche

Danke für Ihre Antwort, auch wenn ich damit nicht konform gehe. Dass die Kirche Krieg unter bestimmten Voraussetzungen toleriert, widerspricht m. E. der reinen christlichen Lehre.
Einig dürften wir uns sein, dass Frieden zu erhalten oder herzustellen, ganz ganz hohe Priorität hat - mögen sich viele, viele Menschen dafür einsetzen; durch Gebet, Meditation, politisches Engagement, Demonstrationen und und und

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Thorsten Paprotny
Vor 8 Monate

Danke, im Gebet für den Frieden verbunden ... Mit den Worten des hl. Johannes Paul II. zum Weltfriedenstag am 1. 2004: „Heute noch, zu Beginn des neuen Jahres 2004, ist der Friede möglich. Und wenn der Friede möglich ist, dann ist er auch geboten!“

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Thomas Kunkler
Vor 8 Monate 1 Woche

Ein guter Artikel über Peter Scholl - Latour, dem zurecht Ehre gebührt.
Bis auf die Aussage, dass er Putin verkannt habe.
Sie schreiben, dass seine Bücher ohne Abstriche lesenswert seien; - warum soll er dann ausgerechnet bei Putin daneben gelegen haben?!
Kein Krieg ist zu rechtfertigen !! ; - aber jeder Krieg hat eine Vorgeschichte, so auch der Ukraine Krieg und wer um diese Vorgeschichte weiß, erkennt, dass Russland hier nicht aus Imperialismus gehandelt hat; vielmehr hat Russland dem Imperialismus der NATO Einhalt geboten. ( Stellvertreterkrieg )
Ansonsten freut es mich sehr, dass dem großen Journalisten Peter Scholl-Latour angemessen gewürdigt wurde.

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Thorsten Paprotny
Vor 8 Monate 1 Woche

Danke für Ihren Kommentar, auch für Ihre kritischen Überlegungen, auf die ich gern antworten möchte.

Was die Frage des Krieges überhaupt betrifft, so bewegen mich stets die Worte von Papst Pius XII., der am 24. August 1939 in einer Radioansprache sagte: "Nichts ist mit dem Frieden verloren, aber alles kann mit dem Krieg verloren sein."

Im Weiteren ein Auszug aus dem Katechismus der römisch-katholischen Kirche zum Krieg:

"2309 Die Bedingungen, unter denen es einem Volk gestattet ist, sich in Notwehr militärisch zu verteidigen, sind genau einzuhalten. Eine solche Entscheidung ist so schwerwiegend, dass sie nur unter den folgenden strengen Bedingungen, die gleichzeitig gegeben sein müssen, sittlich vertretbar ist:

- Der Schaden, der der Nation oder der Völkergemeinschaft durch den Angreifer zugefügt wird, muss sicher feststehen, schwerwiegend und von Dauer sein.

- Alle anderen Mittel, dem Schaden ein Ende zu machen, müssen sich als undurchführbar oder wirkungslos erwiesen haben.

- Es muss ernsthafte Aussicht auf Erfolg bestehen.

- Der Gebrauch von Waffen darf nicht Schäden und Wirren mit sich bringen, die schlimmer sind als das zu beseitigende Übel. Beim Urteil darüber, ob diese Bedingung erfüllt ist, ist sorgfältig auf die gewaltige Zerstörungskraft der modernen Waffen zu achten.

Dies sind die herkömmlichen Elemente, die in der sogenannten Lehre vom „gerechten Krieg" angeführt werden.

Die Beurteilung, ob alle diese Voraussetzungen für die sittliche Erlaubtheit eines Verteidigungskrieges vorliegen, kommt dem klugen Ermessen derer zu, die mit der Wahrung des Gemeinwohls betraut sind.

2310 Die staatlichen Behörden haben in diesem Fall das Recht und die Pflicht, den Bürgern die zur nationalen Verteidigung notwendigen Verpflichtungen aufzuerlegen.

Diejenigen, die sich als Militärangehörige in den Dienst ihres Vaterlandes stellen, verteidigen die Sicherheit und Freiheit der Völker. Wenn sie ihre Aufgabe richtig erfüllen, tragen sie zum Gemeinwohl der Nation und zur Erhaltung des Friedens bei [Vgl. GS 79,5.].

2311 Die staatlichen Behörden sollen sich in angemessener Weise um jene kümmern, die aus Gewissensgründen den Waffengebrauch verweigern. Diese bleiben verpflichtet, der Gemeinschaft in anderer Form zu dienen [Vgl. GS 79,3].

2312 Die Kirche und die menschliche Vernunft erklären, dass das sittliche Gesetz während bewaffneter Konflikte in Geltung bleibt. Es „wird nicht deshalb, weil ein Krieg unglücklicherweise ausgebrochen ist, damit nun jedes Kampfmittel zwischen den gegnerischen Parteien erlaubt" (GS 79,4).

2313 Die Zivilbevölkerung, die verwundeten Soldaten und die Kriegsgefangenen sind zu achten und mit Menschlichkeit zu behandeln."

Zudem möchte ich auf ein Interview mit Peter Scholl-Latour verweisen, in dem er sich 2014 nach der Annexion der Krim äußert. Auf die Frage des Interviewers, ob Russland (unter Putin) nach der Besetzung der Krim weitere Gebiete der Ukraine u. a. angreifen würde, antwortet er nicht.

https://www.youtube.com/watch?v=wzIYpqVKzmQ

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Darüber hinaus noch der Link zu einem Artikel aus dem Jahr 2019, der vielleicht auch lesenswert sein mag in diesem Zusammenhang:

https://www.welt.de/politik/ausland/article192279745/Ukraine-Wahl-Wladi…

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Thomas Kunkler
Vor 8 Monate 1 Woche

Danke für Ihre Antwort, auch wenn ich damit nicht konform gehe. Dass die Kirche Krieg unter bestimmten Voraussetzungen toleriert, widerspricht m. E. der reinen christlichen Lehre.
Einig dürften wir uns sein, dass Frieden zu erhalten oder herzustellen, ganz ganz hohe Priorität hat - mögen sich viele, viele Menschen dafür einsetzen; durch Gebet, Meditation, politisches Engagement, Demonstrationen und und und

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Thorsten Paprotny
Vor 8 Monate

Danke, im Gebet für den Frieden verbunden ... Mit den Worten des hl. Johannes Paul II. zum Weltfriedenstag am 1. 2004: „Heute noch, zu Beginn des neuen Jahres 2004, ist der Friede möglich. Und wenn der Friede möglich ist, dann ist er auch geboten!“