Tief verwurzelt und grenzenlos genial

„Oh Maria, gräme dich nicht, dass du klein bist, denn auch die Blumen sind es und die Sterne.“ Diese zärtliche Hommage an die Gottesmutter Maria schrieb der katalanische Architekt Antoni Gaudí (1852-1926) an eine Schlafzimmerwand im Mehrfamilienhaus Casa Milà in Barcelona. Mit dem wellenförmigen Klotz hatte Gaudí nach gewohnter Manier nicht nur reihenweise Bauvorschriften verletzt und die Behörden verbiestert, sondern auch den Hausherrn Pere Milà selbst. Zum einen, weil die Stadtbevölkerung sein Gebäude als „La Pedrera“ (Steinbruch) verspottete, zum anderen, weil Milà viel weniger katholisch als sein Architekt war und sich weigerte, sein Haus zu einem Sockel für eine gigantische Marienstatue zu degradieren, die Gaudí unbedingt wollte. Außerdem hatten die Anarchisten in Barcelona soeben zahlreiche Kirchen und Klöster in Schutt und Asche gelegt.
Statt der Gottesmutter stehen daher heute auf dem begehbaren Dach nur die berühmten avantgardistischen Schornsteine, die den US-amerikanischen Regisseur George Lucas zu Figuren in seinen Star-Wars-Filmen inspirierten.
Gaudí wird weltweit für seine unerschöpfliche Fantasie und sein technisches Können gefeiert, aber eigentlich ist sein ganzes Schaffen eine einzige Katechese aus Stein, Licht und Farben. Jedes seiner Gebäude erzählt vom Schöpfergott und der Heiligen Schrift, vom Antagonismus zwischen Gut und Böse, von mittelalterlichen Legenden und Märchen und seiner geliebten Heiligen Familie. Deshalb schlugen ihm auch Hass und Verachtung entgegen. So schrieb der junge Pablo Picasso an einen Freund: „Wenn du Gaudí siehst, sag ihm, er solle sich zum Teufel scheren!“
Gaudí machte unerschrocken weiter. Schon die Professoren an der Hochschule für Architektur hatten sich an ihm die Zähne ausgebissen. Der Rektor wusste nicht recht, ob sein Student „ein Spinner oder ein Genie“ war.

„Originalität ist die Rückkehr zum Ursprung“ ist sein berühmtester Satz. Tatsächlich war der Sohn eines Kesselschmieds aus der katalanischen Provinz tief in seiner Heimat, seiner zeitweise verbotenen katalanischen Sprache, seiner Kultur und besonders seiner Religion verwurzelt. Alle seine Gebäude sind durchdrungen von katalanischen Mythen und biblischen Lehren, er inspirierte sich direkt an den Gesetzen der Natur, und jedes noch so kleine Sämlein und Blättlein barg für ihn architektonische Lösungen von mystischer Schönheit.
Organische Architektur
In einer Arbeiterkolonie außerhalb Barcelonas wollte er für seinen Mäzen Eusebi Güell (1846-1918) eine „selbstwachsende“ Kirche bauen, deren Linien einzig der Erdanziehung gehorchten. Es wäre ihm beinahe gelungen, hätten die Erben des verstorbenen Großindustriellen ihm nicht den Geldhahn zugedreht.
Aus seinem starken Identitätsgefühl heraus sind Dinge gewachsen, die alle Grenzen sprengen. Erstaunlich ist, dass die konservative Josefsvereinigung, die den Bau der Kirche Sagrada Família finanzierte, Gaudís galoppierende Ideen immer unterstützte.
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Gaudí trieb alles auf die Spitze. Er sagte von sich selbst, er habe in seinem Leben viele Kämpfe gewonnen, außer denjenigen gegen seinen schlechten Charakter. Ein Priester meinte, es sei zwecklos, mit Gaudí zu diskutieren: „Entweder man gibt ihm recht, oder man bringt ihn um.“

Nachdem er sich zweimal unglücklich verliebte, konzentrierte er sich immer stärker auf Gott. Er betete den Rosenkranz, ging täglich zur hl. Messe und zur Beichte und steigerte sich in merkwürdige Diäten und Naturheilmethoden hinein, die er von Pater Sebastian Kneipp ableitete. Menschliche Wärme erhielt er durch den Vater und seine Nichte Roseta, mit denen er bis ins hohe Alter zusammenlebte, und durch viele innige Freunde, die ihn in schweren Zeiten nicht aus den Augen ließen.
Die Katholiken warten mit Spannung auf den Abschluss des laufenden Seligsprechungsverfahrens. Im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen musste Gaudí im ideologischen Pulverfass Barcelona keinen Märtyrertod erleiden, sondern kam auf dem Fußmarsch zur täglichen Beichte unter eine Straßenbahn.
Seine Seligsprechung gründet daher auf seinen „heroischen Tugenden“, über die jedoch kein Zweifel besteht, denn seine Genialität entsprang einer tiefen und intensiven Hinwendung zum Gott der Schöpfung, der Liebe und der Schönheit, zu Christus und seiner Lehre, für die er ein mächtiger Zeuge ist.
Die erste deutschsprachige Biografie über Antoni Gaudí erschien im Februar 2025 bei wbg Theiss:
Kathrin Benz: „Antoni Gaudí. Der Architekt Gottes. Die Biographie“, wbg Theiss in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025, geb., 384 S., 30,- Euro
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Kommentare
Beeindruckend wie alle Persönlichkeiten die die Konsequenz exzessiv leben
Ich war vor ein paar Jahren mal in Barcelona, natürlich sahen wir uns auch die Sagrada Familia an. Doch über die hier geschilderten interessanten Facetten Gaudís erfuhren wir nichts. Also dankeschön dafür. Schöne Sonntagslektüre. 👋