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Europäische Kulturhauptstadt 2023

Ungarns kreative Seele

In den dunkelsten Jahren des Kommunismus bot eine kleine Kirche am Ufer des Plattensees Zuflucht vor den Zwängen der Diktatur. Die Kapelle von Balatonboglár gab damals „verbotenen“ Künstlern ein Zuhause, deren Ausstellungen, Lesungen und Vorstellungen inkompatibel waren mit dem Geschmack der ungarischen Zensoren. Natürlich konnte das nicht ewig dauern. 1973 wurde die Veranstaltungsreihe verboten.

Die Plattenseeregion mit ihrem geistigen Zentrum, der näher an Budapest liegenden Stadt Veszprém (Weißbrünn), war schon damals ein wesentlicher Kulturraum, ein Ort, an dem sich Ungarns Geist jenseits aller politischen Zwänge artikulierte. Jetzt, im Jahr 2023, ist die 60.000-Einwohner-Stadt zusammen mit der Plattenseeregion Europäische Kulturhauptstadt, gemeinsam mit Temeschwar in Südwestrumänien und der griechischen Stadt Elefsina. Aus diesem Anlass wird es in der Kapelle von Balatonboglár eine Gedenkausstellung unter dem Titel „Unerwartete Kultur“ geben.

Kulturmanager Can Togay: Gesellschaft und Politik durch die Kunst hinterfragen

Es wird nicht nur ein Erinnern sein. „Ich gehe davon aus, dass dort, jetzt wie damals, die Hinterfragung der zeitgenössischen Gesellschaft und Politik durch die Kunst ein Thema sein wird“, sagte Can Togay, der Veszpréms Kulturhauptstadt-Programm als Chefberater für Kunst und Kreativität seit 2020 mitgestaltet hat, gegenüber Corrigenda. In einem früheren Leben lehrte der heute 67-jährige Storytelling an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg. Als Schauspieler stand der gebürtige Budapester mit Stars wie Isabelle Huppert vor der Kamera. Togays Eltern emigrierten einst aus politischen Gründen aus der Türkei.

Die Kathedrale in „weißem Modernismus“

Einen starken Deutschland-Bezug hat Veszprém deswegen, weil der dortige Bischofssitz von Ungarns erster Königin gegründet wurde: Gisela von Bayern, die Gemahlin von Ungarns Staatsgründer Stefan I. Deswegen – so wird die Geschichte erzählt – erhielt ab 1216 der jeweilige Weißbrünner Bischof das Vorrecht, die jeweilige ungarische Königin zu krönen. Die Stadt schmückt sich seither mit dem Titel „Stadt der Königinnen“. Gekrönt wurden diese allerdings nicht in Veszprém selbst.

Das Burgviertel und die St. Michaels-Kathedrale des ältesten Bistums von Ungarn werden nun für rund 100 Millionen Euro renoviert. Um die Renovierung der Kirche ist allerdings heftiger Streit entbrannt. Sie soll ihre bunten Fenster und reich verzierten Wände verlieren. Dafür kommen weiße Wände und durchsichtige Fenster. Dadurch entsteht ein klarer, lichtdurchfluteter, meditativer Raum, wie ihn diese Kirche bisher nie hatte. „Weißer Modernismus“ nennt man diesen Stil, der international immer öfter bei Kirchenrenovierungen gewählt wird. Der „mittelalterliche“ Charakter der Kirche geht dabei jedoch ganz verloren.

Der war allerdings, im Falle der Weißbrünner Kathedrale, nie echt: Der neogotische Stil, dessen man sich jetzt entledigt, war seinerzeit auch eine ästhetische Modernisierung. Die ursprüngliche Kirche, erstmals im Jahr 1001 dokumentiert, gibt es schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Im Laufe der Zeit wurde sie mehrfach schwer beschädigt und neu errichtet – im 14. Jahrhundert im Stil der Gotik, später wurde daraus eine Barockkirche. Diese wiederum wurde 1907–10 im neogotischen und neoromanischen Stil umgebaut. Das war damals architektonischer Zeitgeist.

Selbst Kritiker des jetzigen Umbaus – etwa in einem umfassenden Artikel dazu im angesehenen Internetmagazin valaszonline.hu – gestehen ein, dass das neue Gesicht der Kirche „wunderschön“ sei. Nur sei es eben keine Restauration, sondern ein Neubau. Und vor allem sei die örtliche Kirchengemeinde nicht einbezogen worden.

Literaturfestival mit Fokus auf jungen Lesern

In ähnlichem Stil war zuvor die Benediktinerabtei von Pannonhalma (Martinsberg) renoviert worden, ohne dass es dazu viel Kritik gegeben hätte. Allerdings habe dort ein „jahrzehntelanger Dialog“ den Umbau begleitet, zitiert valaszonline.hu die für Pannonhalma zuständige Denkmalschutzbeauftragte Katalin Németh.

Und da mag die Krux liegen: In Veszprém muss es schnell gehen, weil das Geld im Rahmen des Kulturhauptstadt-Programms bewilligt wurde. Kulturhauptstadt ist Veszprém nur im Jahr 2023. Da mögen sich Bischof und zuständige Behörden gedacht haben, dass man nie fertig werde, wenn man die Öffentlichkeit mit einbezieht. Das Ergebnis ist viel böses Blut und eine Kirche, die niemand sehen darf, solange die Arbeiten nicht abgeschlossen sind.

Doch Veszpréms kulturelle Bedeutung und sein Programm als Kulturhauptstadt beschränken sich nicht auf den Dom. Die beiden Grundpfeiler des Programms sind die Einbeziehung der Plattenseeregion als Kulturraum und eine nachhaltige Aufwertung Veszpréms als Kulturstandort neben Budapest. So gelang es, das bislang in Budapest stattfindende jährliche Filmfestival „Mozgókép“ dauerhaft nach Veszprém zu locken. Es findet diesen Sommer Mitte Juni statt.

Als „Schnapsidee“ (so Togay) erfanden die Organisatoren ein Literaturfestival namens „Holtszézon“ (tote Saison), das seit 2022 jedes Jahr Ende Februar stattfindet. Also dann, wenn in Sachen Festival nirgends etwas los ist. Daher der Name. Der Fokus liegt nicht auf klassischer Literatur, sondern darauf, was die Jugend liest. „Die jüngere Generation liest kaum Klassiker, sondern eher Genre-Literatur, Fantasy, Comic, Science-Fiction“, erklärte Togay.

„Wir wissen so gut wie gar nichts über Ungarn“

Die Zusammensetzung ist international – so war am 25. Februar der österreichische Comic-Autor Leopold Maurer zu Gast. Ein Blick auf seine Karikaturen macht rasch klar, dass der Mann alles andere als rechts oder konservativ ist. Eine böse Zeichnung zeigt Ministerpräsident Viktor Orbán, dessen Zunge an „eingefrorenen“ EU-Geldern festgefroren ist.

Auf die Frage, ob er eingeladen wurde, weil er politisch rechts oder ein Orbán-Anhänger sei – denn laut einem Bericht des ZDF von Beginn des Jahres gehe in Veszprém ja nur, was der Regierung genehm ist –, reagierte er überrascht. Überrascht sei er aber auch über sich selbst und alle seine Bekannten: „Ich habe festgestellt, dass wir in Österreich so gut wie gar nichts über Ungarn und seine Kulturszene wissen“, sagte er. „Nur das, was man halt so liest.“

In der deutschen Presse liest man Skeptisches: Das Kulturhauptstadt-Programm solle „von Weltoffenheit und europäischem Geist“ geprägt sein, schrieb die Süddeutsche Zeitung dieser Tage in einem Kurzporträt über Weißbrünn – „wie das gelingt im Ungarn des Ministerpräsidenten Viktor Orbán, dürfte durchaus interessant zu beobachten sein.

Der Weg zum Status einer Kulturhauptstadt führte übrigens über den Unesco-Titel „Stadt der Musik“, den Veszprém 2019 errang. Die Stadt verfügt über eine reiche Tradition besonders im Bereich der Choral-Musik. So wundert es nicht, dass das Programm für 2023 auch zahlreiche Konzerte enthält.

Der Plattensee wird nicht nur als Kulturraum und Urlaubsziel mit einbezogen, sondern wird als „verletzlich“ sichtbar gemacht, mit einer Veranstaltungsreihe namens „Balatorium“. Hier will man für die Teilnehmer erfahrbar machen, wie zerbrechlich das ökologische Gleichgewicht der Region ist. Dafür konnte man „zahlreiche Stakeholder“ gewinnen, so Togay. Auch Tourismus-Investoren könne es nicht gleichgültig sein, ob Ungarns „Binnenmeer“ in 30 Jahren ein Sumpf ist oder als attraktives Wassergebiet erhalten werden kann.

Wer sich weiter informieren will, kann das Kulturhauptstadt-Programm und diesbezügliche Nachrichten auf Veszpréms deutschsprachiger Internetseite einsehen.

 

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