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Was unser Gemeinwesen zusammenhält

It’s the religion, stupid!

Das Land der Schokolade, der Uhren und des Käses: Ist es immer noch ein Hort der Ordnung und der Stabilität? Schön wäre es. Denn auch in der Schweiz korrodiert unter der blitzblanken Oberfläche die Substanz. Zwei Flaggschiffe schweizerischer Stabilität wurden in den letzten Jahren versenkt. Die legendäre „Swissair“ fliegt heute unter dem Namen „Swiss“ als Tochter der Lufthansa um den Erdball. Und letztes Jahr musste die Traditionsbank „Credit Suisse“ (CS), begleitet von einem staatlichen Gewaltstreich außerhalb aller rechtlichen Normierung, von der Konkurrentin UBS übernommen werden. Wie rechtsstaatliche Institutionen, Moral und Religion untereinander verbunden sind, ist nicht leicht aufzuzeigen. Beim Crash der Credit Suisse ist es mit Händen greifen.

Wie in der Gesellschaft der Freien und Gleichen die Religion, die Moral und die politischen Institutionen zusammenhängen, hat wie kein Zweiter der liberale Philosoph und Staatsmann Alexis de Tocqueville (1805-1859) erkannt. Man kann sich seine diesbezügliche Theorie anhand eines Hauses vorstellen. Zuoberst befinden sich die Institutionen: Grundrechte, Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Föderalismus und all die technischen Instrumente geordneter Staatlichkeit.

Diese Strukturen, so Tocqueville, können sich jedoch nicht halten, wenn sie nicht von den „Mœurs“, den Sitten und Tugenden vieler einzelner Bürgerinnen und Bürger, getragen werden: Rechtschaffenheit, Verzichtsbereitschaft, Ehrlichkeit, Arbeitsamkeit usw.

Dieses mittlere Geschoss wiederum trägt das darüberliegende nicht, wenn es nicht seinerseits auf das Fundament der Religion gebaut ist. Denn nur diese gibt die Kraft, gemäß den Sitten zu leben. Und wenn Letztere fehlen, nützen dicke Gesetzbücher wenig. Man benötigt dann, wie Tocqueville bemerkt, viele Soldaten und viele Gefängnisse.

Alexis de Tocqueville, gemalt von Théodore Chassériau, 1850

Tocqueville hat ein Leben lang mit seinem christlichen Glauben gerungen

Was hat das mit der „Credit Suisse“-Krise zu tun? Sie zeigt beispielhaft, dass das rechtsstaatliche Regelwerk versagt, wenn darunter keine echten moralischen Überzeugungen wirksam sind. Was hat die Schweiz auf der gesetzgeberischen Ebene nicht alles unternommen, um ihre Banken rechtlich abzusichern! Unter dem Titel „Too big to fail“ wurde ein umfangreiches Gesetzeswerk erlassen. Aber weil in der Bankenwelt auch nach der Finanzkrise von 2007 weiterhin zuerst das Fressen und dann die Moral kam, liefen die Gesetze und Institutionen im Krisenfall ins Leere.

Wie viele Seminare und Sonntagsreden wurden gehalten zum Thema des ethischen Bankings! Aber die Gier regierte unangefochten weiter. Denn im Heuschreckenland sind die Christen schwach vertreten. Und ohne eine Verantwortung vor Gott hängt die Moral eben in der Luft. Sie wird als Moralismus belächelt und verliert ihre Kraft.

 

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Tocqueville hat ein Leben lang mit seinem christlichen Glauben gerungen. Umso erstaunlicher erscheint, was er im Jahr 1844 zu Papier gebracht hat. Es scheint prophetisch gerade für unsere Zeit gesagt worden zu sein:

„Wie sollen wir unsere Gesellschaft ohne Glaubensüberzeugungen lebendig erhalten? In der ganzen Geschichte folgen Skeptizismus und Dekadenz stets sehr nahe aufeinander. Wer nimmt nicht wahr, wie inmitten einer Vielzahl von Geschäftchen, kleinlicher Interessen und armseliger Ambitionen, die uns vereinnahmen, der Horizont unseres Denkens sowie unserer Gefühle sich immer mehr zu verengen droht? Wer erkennt nicht, dass es besonders heute gilt, unsere Geister und Herzen wieder zu höheren Zielen zu erheben, als wir selbst es sind, und dass es gut ist, uns dann und wann der anderen Welt zu öffnen? Die Religion allein vermag dies zu vollbringen. Ebenfalls muss man anerkennen, dass diese allein einen dauerhaften und wirksamen Einfluss auszuüben vermag auf die Gewissenhaftigkeit der privaten Sitten und dass sie dadurch machtvoll, wenn auch auf indirekte Weise, den guten Lauf der Dinge zu gewährleisten vermag“.

Angesichts des zeitgenössischen Mainstreams, der in eine postchristliche Epoche mündet, könnten Tocquevilles Worte entmutigend klingen. Er hat jedoch auch einen Satz gesagt, der wie eine Hoffnung klingt: „Die Demokratie kann nur durch Erfahrung zur Wahrheit gelangen“. Die nächsten Jahre werden gesellschaftspolitisch wohl problematisch werden. Denn der Dominostein der Religion kippt denjenigen der Sitten. Und die staatliche Ordnung ist dann nur noch mit Zwang aufrechtzuerhalten.

Eine Demokratie kann aus solchen Erfahrungen lernen

Gleichwohl impliziert Tocquevilles Sentenz, dass eine Demokratie aus solchen Erfahrungen lernen kann. Wenn postreligiöser Zynismus und moralische Zügellosigkeit die Institutionen nachhaltig zerrüttet haben werden, wird den Menschen – in Anlehnung an ein Bonmot von Bill Clinton – ein Licht aufgehen: It’s the religion, stupid!

 

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