Warum wir Spargel so mögen
Gleich geht es los. Gleich werden meine Frau Judith und ich den ersten Spargel schälen, Judith schwört auf einen Schäler, ich bestehe auf ein normales Messer, sie ist schneller, wie so oft. Wir werden es auf dem Balkon machen und etwas kalten Wein dazu trinken, und ich werde sagen, dass, wenn wir den ersten Spargel gemeinsam draußen schälen, uns ein Lenz der Liebe und des Sonnenscheins bevorsteht.
Nichts von dem muss so kommen, aber alles könnte so sein. Und wenn es anders kommt, dann sitzen wir dennoch im nächsten Jahr wieder da mit unserm Spargel und legen wieder los und glauben, dass es klappen könnte. Rituale sind nicht dafür da, überprüft zu werden, sondern, sie funktionieren, weil sie da sind.
Dann klebt Blut am Spargel
Es gab eine Zeit, da klemmten die Menschen in ihren Ritualen fest: Mit dem Heulen der Werkssirene gingen sie zur Stechuhr, mit dem Glockenschlag zur Kirche, und das Abendbrot musste pünktlich zur „Tagesschau“ fertig sein. Der Job, er hielt das Leben lang, der Partner auch und wer Sozialdemokrat war, den hätte auch Olaf Scholz nicht davon abgebracht. Heute haben wir im Namen der Freiheit die Rituale abgeschafft. Parteien, Jobs und Partnerschaften, wir wechseln sie wie Unterhosen. „Freedom is just another word for nothing left to lose“, singt Janis Joplin.
„Mein Lieber, auf welchem Stern bist du denn gerade?“, fragt Judith, „du schwimmst in Selbstmitleid, bist der Zukunft abgewandt, gleich schneidest du dich noch mit deinem blöden Messer und es klebt Blut am Spargel.“ Sie fügt dann noch so was hinzu wie: Wenn ich jede bekloppte Spargelstange emotional so auflade, es ein bisschen besser sei, auf Carbonara umzuschwenken und ihr das Konzept des Draußenschälens angesichts der steifen Brise, die gerade aufzieht, sowieso fragwürdig erscheine.
Wieder ganz im Hier und Jetzt
Ich muss an Großmutter denken. Sie hatte unendliche viele Brillen, von denen sie mindestens eine stets suchte. Natürlich hatte sie ein Spargelbrille zum Schälen. Sie hatte, seit ich denken kann, weiße Haare, die nach dem Frisörbesuch immer etwas ins Blaue abdrifteten. Sie hatte dem Kaiser zugewunken, sich mit dem Führer irgendwie arrangiert und fuhr den ersten großen Fiat im Dorf.
Sie hat für die erste deutsche Boygroup, die Comedian Harmonists, etwas übriggehabt, und später durfte ich auf ihrer Braun-Stereoanlage Pink Floyd voll aufdrehen. Sie hat mir das Spargelschälen mit dem Messer beigebracht. „Judith, der Spargel wächst“, sage ich kichernd und wir beide sind wieder ganz im Hier und Jetzt.
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