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Kolumne „Ein bisschen besser“

Die Lawine und wir

Das Töchterchen schreit, weil es den undurchdringlichen Haarschopf gekämmt bekommt. Die Brötchen brennen derweilen im Ofen an. Im Computer wartet noch ein unbehauener Text, der bis gleich fertig werden muss, weil wir uns um 12 Uhr mit Freunden verabredet haben. Die App zeigt 521 ungelesener Mails an, die Hündin setzt den Hündinnen-Blick auf, weil sie a) jetzt sofort raus muss, b) jetzt sofort Hunger hat. 

Die Reihenfolge ist ihr dabei egal. Aus dem Kamin riecht die kalte Asche, die dringend in den Ascheimer sollte. Die Nebenkostenabrechnung für die Mieter ist nicht gemacht. Ein falscher Backenzahn hat sich verabschiedet, das Laub muss geharkt werden, ein Kunde droht mit Großauftrag. Geht’s der Großfamilie eigentlich gut - die Zweitälteste war krank. Der Kaffee wird kalt. Das Töchterchen brüllt, diesmal weil sie nicht frühstücken will. 

Als ich diese Woche auf die Frage eines Kollegen, wie es uns ginge, ein wenig so von unserem Tag erzählte, sagte er: „Euer Thema heißt: Die Lawine und wir.“

Zur Naturkatastrophe kam es noch nicht

Bei uns im Rheinland gibt es nicht viele Lawinen, an sich gar keine. Im oberen Italien am Fuß der Alpen, wo wir manchmal sind, ist das anders. Da gibt es Schneelawinen, Schlammlawinen, Gerölllawinen, und wenn sie lospoltern und alles mit sich reißen, dann werden sie schnell zu Naturkatastrophen erklärt. So weit ist es bei uns nicht. „Oder?“, frage ich Judith, meine Frau. „Nein“, stellt sie nüchtern fest, schließlich habe es noch keinen Personenschaden gegeben.

 

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Ich gebe zu, dass ich mich manchmal nach so einem klitzekleinen Lawinchen sehne. Eines, das einen kurz von den Beinen haut, ohne dass die Augen am Ende nicht mehr rausgucken und den eifrigen Bernhardiner-Hund erkennen, der mit dem Fässchen Rum um die Mähne angetrabt kommt und einem Herz und Glieder wärmt. 

Ich male mir diese himmlische Ruhe nach dem Sturm aus, wenn die Sonne strahlt und ich dann wieder aufstehe, mir den Schnee von der Hose klopfe und feststelle, dass die Welt noch steht. Ja, ich würde sogar von mir sagen, dass ich so ein kontrollierter Lawinentyp bin. Ich mache jedenfalls was los und manchmal reißt das ziemlich viele mit. Denke ich.

Dank meiner Frau die jüngste Lawine überstanden

Judith schaut jetzt skeptisch. „Ein bisschen besser wäre es“, sagt sie, „du machst jetzt die Nebenkostenabrechnung und lässt den Köter raus.“ Sie hantiert an der Edelstahlmaschine mit den Hebeln und Kippschaltern und herauskommt der beste Kaffee der Welt. 

Wenn ich ihn mir langsam durch den Mund über die Zunge die Kehle hinunterrinnen lassen, schmeckt er ein ganz bisschen so, wie ich mir diesen Rum aus diesen Holzfässchen von diesen Hunden vorstelle und ich bin sehr froh, dank Judiths Fertigkeiten die jüngste Lawine mal wieder gut überstanden zu haben.

 

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