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Interview mit Axel Reitz und Kristian Beara – Teil 1

„Wenn plötzlich jeder Nazi ist, dann ist keiner mehr Nazi“

Wer den Namen Axel Reitz bei Google eingibt, der stößt auf Fotos mit einem grimmig-ernst dreinblickenden jungen Mann, Scheitelfrisur, schwarzer Ledermantel – und die Bezeichnung „Hitler von Köln. Von der Domstadt aus organisierte er jahrelang rechtsextreme Kundgebungen, zog die Strippen seiner Kameradschaft und mischte in der NPD mit. Unzählige Male stand er mit Mikro- oder Megafon auf der Straße, schrie und hetzte gegen Demokratie, Juden, die USA und politisch Andersdenkende.

2005 verurteilte ihn das Landgericht Bochum wegen Volksverhetzung zu einer Haftstrafe. Sieben Jahre später beschloss er, der Neonazi-Szene den Rücken zu kehren. Heute geht Reitz einem bürgerlichen Beruf nach und engagiert sich im Verein „Extremislos, der über religiösen und politischen Extremismus informiert. Vor wenigen Tagen erschien sein Buch „Ich war der Hitler von Köln.

Gelesen hat das Buch auch Kristian Beara. Der Polizeibeamte und heutige Sicherheitsexperte der Deutschen Polizeigewerkschaft stand Reitz und seinen Kameraden mehrmals auf der Straße gegenüber. Seit einigen Jahren kennen sie sich persönlich und trinken auch schon mal ein Bier zusammen. Heute verbindet sie politisch mehr, als sie trennt. Corrigenda hat Reitz und Beara zum Gespräch gebeten.

In dem ausführlichen Interview fragen wir nach dem Weg in den Extremismus und wieder heraus, über die stabilisierende Funktion der Familie, nach Reitz’ Sicht auf Christentum und Kirche, über Meinungsfreiheit und Medienkompetenz, über Franz Josef Strauß damals und die AfD heute. Als roter Faden durch das Interview zieht sich die Bedeutung von Respekt und Wertschätzung im Umgang miteinander, Wachsamkeit gegenüber Scharfmachern auf beiden Seiten des politischen Spektrums und die heilsame Kraft des Verzeihens für ein funktionierendes demokratisches Gemeinwesen. Der erste Teil des Interviews:

Herr Beara, Herr Reitz, Sie …

Beara: Darf ich gleich mal einhaken und mit einer kleinen Anekdote beginnen, die auch die Frage beantwortet, wie wir uns kennengelernt haben?

Ich habe die Frage noch nicht gestellt, aber nur zu.

Beara: Es ist bestimmt schon fünf Jahre her, als ich dich, Axel, bei Instagram gefunden habe. Trotz des markanten oder fast schon berüchtigten Namens – Axel Reitz – hatte es aber bei mir nicht direkt klick gemacht, um wen es sich da genau handelt. Ich fand deinen Kanal großartig, diese Coolness, dieser positive Genussmensch. Als wir uns dann ein paar Mal ausgetauscht hatten und er begann seine Präventions- und Bildungsarbeit zu teilen, machte es irgendwann klick. Ich schrieb Axel daraufhin direkt an und sagte: „Du, wir kennen uns übrigens von damals.“ Er konnte das nicht direkt einordnen und konnte sich auch nicht vorstellen, dass ich ein ehemaliger „Kamerad“ sein könnte – zumindest konnte er sich nicht an mich erinnern. Ich löste dann auf, dass er mir mit seinen Veranstaltungen zahlreiche Wochenenden vermiest hatte, weil ich als Polizist bei vielen Demos eingesetzt war und seine widerwärtigen Reden über mich ergehen lassen musste.

Reitz: Ja, das war damals für mich eine echt unangenehme Situation, weil mir dabei erneut schlagartig bewusst wurde, was ich mit meinen Aktivitäten als Neonazi-Spinner alles an negativen Gefühlen und Problemen verursacht habe. Nicht zuletzt für die Polizei, der ich einiges abverlangt habe mit meinen Demos und Kundgebungen. Ich habe mich dann aber nicht verschämt weggeduckt, sondern die Gelegenheit genutzt, mich auch bei dir zu entschuldigen. Persönlich als auch stellvertretend für sämtliche Einsatzkräfte, die unter mir zu leiden hatten. Es wird nämlich gerne vergessen, dass auch Polizisten immer die unmittelbar Leidtragenden meiner Demos und Kundgebungen gewesen sind. So wie die einfachen Bürger, die wegen Sicherheitsmaßnahmen etc. in ihrem Alltag mitunter massiv behindert wurden und manchmal über Stunden hinweg nicht in ihre Wohnungen konnten, und sämtliche Steuerzahler, die für die massiven Kosten aufkommen mussten, die durch die öffentlichen Versammlungen verursacht wurden. Das wird gerne übersehen, wenn wir an die offensichtlichen Opfer von Rechtsextremisten denken, die zum Beispiel körperlich angegriffen wurden, aber auch Polizei und Anwohner zählen zu den Geschädigten.

Welchen Blick auf die Polizei hatten Sie damals?

Reitz: In der Neonazi-Szene galt (und gilt) die Polizei als „Knüppelgarde“ von „Systembütteln“, die nur dazu da war, die „Mächtigen“ zu schützen und deren vermeintlich falsche Politik durchzusetzen. Auf der anderen Seite standen derweil die Linksextremen, die den Polizisten zugerufen haben: „Deutsche Polizisten schützen die Faschisten!“ Tatsächlich hielten und halten Polizisten aber ihren Kopf hin für Demokratie und Rechtsstaat. Und machen wir uns nichts vor: Würde die Polizei dies nicht tun, gäbe es schon seit Jahrzehnten Mord und Totschlag auf Deutschlands Straßen, wenn politische Extremisten aufeinandertreffen! Das Heraufbeschwören von Eskalationen und Eruptionen der Gewalt ist aber nur eine Seite der Medaille. Ich habe auch gezielt das Privatleben der Polizei ins Visier genommen, wenn ich z.B. an Heiligabend Demonstrationen veranstaltet habe und die Beamten dadurch zwang, an diesem Tag Dienst zu schieben, anstatt frühzeitig Feierabend machen zu können. Das waren für mich damals „Erziehungsmaßnahmen“, mit denen ich die Polizei dafür „bestrafen“ wollte, wenn diese mir Auflagen erteilte, die mir nicht gefielen, oder aus Sicherheitsgründen eine genehmigte Demo-Route nicht durchsetzen konnte. Da fehlte mir jede Empathie, denn ich habe in den Menschen in Uniform nur ein abstruses Feindbild gesehen.

Was war das für ein Gefühl, das Sie gegenüber der jeweils anderen Gruppe empfunden haben? War das Hass?

Reitz: Es war eher Verachtung. Den einfachen Beamten habe ich nicht gehasst. Das war auch mein Kalkül, weil ich dachte: Okay, wenn wir irgendwann mal an die Macht kommen, wenn der Systemzusammenbruch kommt, von dem wir immer geträumt haben, dann sind wir froh, wenn auch die Beamten auf unsere Seite kommen, die jetzt schon mitbekommen, was in diesem System alles verkehrt läuft. Polizisten waren bei aller Verachtung und Ablehnung der Institution Polizei an sich auch Wunschbündnispartner für die Zukunft. Ich habe sie dafür verachtet, dass sie die Demokratie schützen und verteidigen, träumte aber auch hier von einem Umdenken.

Und was haben Sie gefühlt, Herr Beara?

Beara: Ich habe mir im Vorfeld des heutigen Gesprächs Gedanken gemacht, ob das Hass ist, wirklich, und dann habe ich festgestellt, dass ich eine Person erst besser kennen muss, um sie hassen zu können. War es Hass? Nein. Man war angewidert ob dessen, was gesprochen wurde. Es war menschenfeindlich, das war wirklich Hass und Hetze, und nicht das, was heute alles unter Hass und Hetze subsumiert wird. Was du, Axel, und viele deiner Kameraden als Sprecher kundgetan habt, das war purer Hass, das war menschenfeindlich, und es hat einen angewidert. Für Hass hat es aber nicht gereicht. Verachtung trifft es gut.

„Ich halte es für elementar wichtig, Verantwortung zu übernehmen und um Verzeihung zu bitten“

Welches Gefühl empfinden Sie heute, wenn Sie sich gegenübersitzen? Hat jeder Mensch eine zweite Chance verdient?

Beara: Ich bin total optimistisch! Ich bin begeistert, weil wir mit Axel hier jemanden haben, der die Seite gewechselt hat, der aber nicht von einem Extrem ins andere gewechselt ist. Du hast wirklich den aus meiner Sicht perfekten Weg gewählt. Ja, ich glaube schon, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient hat. Da spielt auch das christliche Menschenbild eine Rolle. Und das ist auch der Grundgedanke der Strafverfolgung, der Resozialisierung, dass wir nicht sagen: Okay, einer hat mal Scheiße gebaut, wir schließen den ein Leben lang weg, sondern dass ein Mensch seine Fehler erkennen und immer auch ein neues Kapitel aufschlagen kann. Einerseits muss die Gesellschaft das auch möglich machen. Andererseits muss auch derjenige, der – auf gut Deutsch – Scheiße gebaut hat, der muss sich bemühen, der muss Eigenverantwortung übernehmen, der muss aufarbeiten, und der muss sich auch entschuldigen.

Reitz: Ich bin heute sehr froh, dass ich in einem Staat lebe, der selbst einem erklärten Feind wie mir, der viele Jahre seines Lebens gegen diesen Staat, seine Gesellschaft und seine Werte gekämpft hat, eine zweite Chance gegeben hat. Es ist deshalb bei allem Schmerz über die in der Vergangenheit begangenen Fehler auch ein tolles Gefühl, heute ehemalige „Feindbilder“ zu meinen Freunden zählen zu können und mich bei ihnen für meine Irrtümer zu entschuldigen. Das war etwas, das ich sehr früh getan habe, weil ich es für elementar wichtig halte, Verantwortung zu übernehmen und um Verzeihung zu bitten. Ich habe deshalb nicht lange nach meinem Ausstieg eine Synagoge besucht, um mich für meine antisemitischen Hetzreden zu entschuldigen. Ich habe mich auch immer wieder bei den Menschen entschuldigt, die Opfer von Gewalttaten wurden, die ich womöglich als verbaler Totschläger mit angestachelt habe. Oder bei Polizisten wie Kristian Beara, der als Beamter ja auch zu meinen Feindbildern zählte. Das ist das, was ich tun kann. Ob jemand diese Entschuldigung dann auch annimmt, bleibt jedem selbst überlassen. Darauf habe ich keinen Anspruch und es ist ok, wenn jemand sich dazu entscheidet, es nicht zu tun. Umso schöner ist es aber, wenn die Vergangenheit überwunden und gemeinsam in die Zukunft geblickt werden kann.

Der „alte“ Axel Reitz: „Ich habe mich immer wieder bei den Menschen entschuldigt, die Opfer von Gewalttaten wurden, die ich als verbaler Totschläger mit angestachelt habe“

Herr Reitz, Sie schildern in Ihrem Buch, dass der Umgang von außen eine Art selbstverstärkende Dynamik ausgelöst hat: Man hat Sie als Neonazi bezeichnet, obwohl Sie noch keiner waren, also wurden Sie irgendwann zu einem Neonazi. Könnten Sie diesen Prozess erklären?

Reitz: Das stimmt so nicht. Ich wurde nicht zum Neonazi, weil ich als solcher bezeichnet wurde. Das war ganz alleine meine Entscheidung, und es wäre falsch, jetzt mit dem Finger auf andere zu zeigen und zu sagen: Hey, ich kann ja gar nichts dafür, der Fehler liegt nicht bei mir, sondern bei den anderen, die sind verantwortlich! Richtig ist, dass harsche Reaktionen mich in meinem Frust und später meinem Weltbild bestärkt haben. Das war übrigens auch Teil der Verschwörungstheorie, die mir beim Beginn meiner Radikalisierung von der NPD präsentiert wurde, nach dem Vorfall an der Schule.

Schildern Sie uns bitte kurz, was dort passiert ist?

Reitz: Ich war stets gut in den Fächern Deutsch, Erdkunde, Politik, Geschichte, Religion und Sozialwissenschaften, wohingegen ich in den Fächern Chemie, Physik und Mathe keine große Leuchte war. Deshalb habe ich mich auf die Bereiche konzentriert, in denen ich gut war. So wurde mir in SoWi eine Fleißaufgabe übertragen, als es darum ging, ein Jugendparlament zu gründen, um dadurch die Basics der Demokratie und des Parlamentarismus zu erlernen. Ich sollte die Wahlprogramme der nicht im Bundestag vertretenen Parteien organisieren. Das war damals gar nicht so einfach, denn 1996 gab es noch kein Internet. So musste ich mir also die Mühe machen, den Bundeswahlleiter in Bonn anzuschreiben, um an die Adressen der Parteien zu gelangen und diese dann einzeln handschriftlich um ihre Programme bitten. Das erledigte ich mit großem Enthusiasmus. Und so flatterte von der „Bayernpartei“ über die „Yogischen Flieger“ bis hin zur „Anarchistischen Pogo-Partei“ eine Menge Parteiwerbung ins Haus. Darunter auch von den damals existenten rechtsextremen Parteien DVU, Republikaner und NPD. Nachdem ich alle Programme auf einer Collage befestigt hatte, zeigte ich diese meiner Lehrerin und bekam eine 1 mit Sternchen. Hier könnte die Geschichte vorbei sein. Wenn meine Lehrerin nicht die drei rechtsextremen Parteien ohne große Erklärung von der Collage entfernt und in den Papierkorb geworfen hätte. Das war für mich ein großer Trigger. Denn ich wuchs mit einem Vater auf, dessen Wort Gesetz war und der keine Meinung neben seiner eigenen duldete. Diskussionen auf Augenhöhe? Die gab es in meinem Elternhaus nicht. Deshalb hatte ich ein Problem damit, wenn ich das Gefühl hatte, nicht ernst genommen oder bevormundet zu werden. Das war dann in der Schule der Fall, als meine Lehrerin so reagierte.

Was meinten Sie mit Verschwörungstheorie?

Reitz: Die „Erklärung“ der NPD für das Verhalten meiner Lehrerin lautete wie folgt: Wir werden bewusst und gezielt zensiert, weil wir eine Gefahr für die Mächtigen darstellen. Und wir sind eine Gefahr, weil wir nicht nur tolle politische Ideen haben, sondern darüber hinaus auch die „Wahrheit“ kennen. Über die Geschichte, die Kriegsursachen, die aktuelle Politik. Das sollte alles zusammenhängen. Schuld am Zweiten Weltkrieg sei nämlich nicht Deutschland gewesen. Wir hätten uns nur verteidigt. Die Kriegstreiber seien damals schon dieselben „Mächte“ gewesen, die heute wieder Kriege führen und für die Probleme in der Welt sorgen. Das könnte verhindert werden, wenn die NPD ihre Politik durchsetzt. Aber genau das wollen die „Mächte“ verhindern. Deshalb die „Zensur“ und „Unterdrückung“. Und so hat man dann die alten Feindbilder, die alte Propaganda ins Hier und Jetzt transferiert, mit aktuellen Feindbildern, mit aktuellen Begebenheiten. Auf diesem Wege wurde nicht nur ein pseudo-geschichtlicher Kontext hergestellt, sondern zugleich der Glaube geweckt, in einem feindlichen System zu leben, das bekämpft werden muss, wenn die Welt sich positiv verändern soll. Nach dem ursprünglich linken Motto: Es gibt kein richtiges Leben im falschen, und auch das Private ist politisch.

„Zur Meinungsfreiheit gehört auch vieles, das nicht gehört werden möchte“

Würden Sie sagen, Ihre Eltern, Ihre Lehrer, Ihr Umfeld sind richtig mit Ihren anfänglichen Provokationen umgegangen?

Reitz: Natürlich nicht. Anstatt sich ruhig und sachlich mit mir auseinanderzusetzen wurden direkt die harten Bandagen ausgepackt. Dabei ging es mir gar nicht darum, rechte Parteien oder deren Politik zu verteidigen oder zu promoten. Mir ging es um das Verhalten, dass mir über den Mund gefahren wurde, dass mir nicht erklärt wurde, wieso und dass man mich nicht anhörte. Es ging mir also nicht um konkrete Inhalte, sondern um das subjektive Gefühl von Gerechtigkeit. Ich hätte genauso gut zum Linksextremisten werden können, wenn meine Lehrerin die MLPD oder DKP zensiert und in deren Programme in den Papierkorb geworfen hätte. Oder zum Salafisten, wenn die Religionslehrerin mich bei der Behandlung des Themas fundamentalistischer Islam getriggert hätte.

Wäre es besser gewesen, man hätte Sie ernst genommen, man wäre ernsthafter auf Ihre Provokationen eingegangen, statt sie einfach zu unterbinden?

Das soeben erschienene Buch von Axel Reitz: „Ich war der Hitler von Köln“

Reitz: Provokation war für mich ein Mittel, um mir Gehör zu verschaffen und gegen eine subjektiv empfundene Ungerechtigkeit anzugehen. Meiner Meinung nach hätte die Lehrerin gut daran getan, entweder die Parteien hängen zu lassen oder zu erklären, warum sie die herunternimmt. Etwa: „Ich erkläre dir gerne, wieso, warum, weshalb. Deine Mitschüler haben da vielleicht noch nicht das Verständnis für. Deswegen halte ich das für gefährlich, ihnen das zu zeigen.“ Das ist eine andere Herangehensweise, als einfach zu sagen: „Nein, denen geben wir keine Plattform!“ Das war das Problem. Man hätte auch noch eine Kardinalslösung nehmen können: Alle radikalen Parteien runter, auch die auf der linken Seite. Auch das hätte ich eher verstanden als die einseitige Handlung meiner Lehrerin.

Aber diese Einseitigkeit, nur diese drei Parteien gehen gar nicht und bei allen anderen ist es egal, das war dermaßen gegen mein Gerechtigkeitsgefühl. Auch zu Hause fühlte ich mich unfair behandelt. Und wenn mich jetzt alle unfair behandeln und diese Parteien ebenso, dann passen wir wohl zusammen, so dachte ich damals.

Sollte in Deutschland lockerer mit Meinungen, auch mit radikaleren, umgegangen werden?

Beara: Was man in Axels Fall sehen kann: Der Trigger ist das Thema Meinungsfreiheit. Und zur Meinungsfreiheit gehört natürlich auch vieles, das vielleicht nicht gehört werden möchte. Wenn wir aber alle unsere Diskurskompetenz stärken, indem ich zumindest mal in den Diskurs gehe, zuhöre, gegenargumentiere und den Zahn zu ziehen versuche, ist das schon mal was. Denn wenn Meinungsfreiheit auch nur gefühlt eingeschränkt wird, stärkt das linke wie rechte Radikale, weil die sich dann bestätigt sehen.

Reitz: Man muss da schon vorher ansetzen. Um die Resilienz gegenüber Falschmeldungen und Verschwörungstheorien zu stärken, muss schon in der Kindheit eine Sensibilität entwickelt werden, die hilft, Falschdarstellungen sowie bestimmte Drehungen und Deutungen von Nachrichten als solche erkennen zu können. Deswegen müssen schon die Schulen anfangen, Medienkompetenz zu lehren. Wie entstehen Meldungen, wie sollten sie idealtypisch aussehen etc. Gerade in der heutigen Zeit, in der wir uns gegenseitig in maximal 280 Zeichen bei Twitter oder einer Kachel bei Instagram die Welt erklären, muss man verstehen können, was der Unterschied zwischen Fakt und Meinung ist, denn einen Fakt kann man mit verschiedenen Meinungen beurteilen, der Fakt bleibt aber derselbe. Wenn man Friedrich Merz und Annalena Baerbock zu ein und demselben Fakt befragt, können in der Antwort Welten dazwischen liegen. Gleichzeitig müssen wir es hinbekommen, dass der Wunsch nach Sensibilisierung und Moralisierung der Gesellschaft und des Diskurses nicht vom Progressiven ins Regressive umkippt und dadurch zu einer gesellschaftlichen Polarisierung führt, in welche die Suche nach Verständnis und Kompromiss verloren geht.

„Die Menschen sind nicht naiv, aber zunehmend emotionalisiert“

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Reitz: Man kann sagen: Hey, ich finde es nicht gut, wenn du das Wort Zigeunerschnitzel verwendest, weil sich davon Menschen diskriminiert fühlen können. Man sollte aber nicht sagen: Wer ein Zigeunerschnitzel bestellt, stellt sich außerhalb des Diskurses, der darf nicht mehr gehört, der muss geächtet werden, weil er auf einer Stufe mit denen steht, die den Begriff „Zigeuner“ zur Zeit des Nationalsozialismus abwertend für eine Bevölkerungsgruppe verwendet haben, die damit stigmatisiert und entmenschlicht werden sollte. Das Problem ist auch, dass eine Ächtung von Begriffen ein rein oberflächlicher Akt ist. Denn das dahinterstehende Problem wird dadurch ja nicht angegangen, diskutiert, erklärt und damit greifbar und verständlich gemacht, sondern verschwiegen. Es löst also nicht die Ursache, sondern lediglich eine Auswirkung. Und: Es öffnet Leuten Tür und Tor, die sich dadurch interessant machen, die dadurch als Alternative gelten können, wenn sie sagen: Hier kommen wir, und bei uns wirst du nicht bevormundet, bei uns herrscht eine größere Freiheit, bei uns darfst Du alles sagen! Aber das ist natürlich ein Trugschluss, denn die linken und rechten Extremisten wollen ja am Ende viel mehr verbieten, zensieren, reglementieren und haben keinerlei Interesse an individuellen Freiheiten außerhalb ihrer ideologischen Kollektive. Das wird in dem Augenblick aber nicht hinterfragt.

Glauben Sie, die Menschen sind so naiv?

Reitz: Nein. Die Menschen sind nicht naiv. Aber zunehmend emotionalisiert. Was dann gerne von Extremisten ausgenutzt wird. Unser Medienkonsum verführt uns oftmals zu einer einseitigen und nicht selten auch dramatisierenden Weltsicht, die mitnichten der Realität entspricht. Urteile werden dann nicht mehr auf Grundlage von Tatsachen gefällt, sondern vom Bauchgefühl diktiert. Anstatt in den Dialog zu gehen und einen tragfähigen Kompromiss zu suchen, der auf Verständnis, Toleranz und der Bereitschaft zur Selbstreflexion basiert, gehen wir in solchen Fällen lieber aufeinander los und versuchen nach dem Motto zu verfahren: Wir oder die! Es kann nur einer gewinnen! Anstatt uns über Fragen wie Schuld, Unschuld, Moral, Ethik oder Ideologie die Köpfe einzuschlagen, müssen wir wieder lernen, was Demokratie bedeutet: Nicht die eigene Weltsicht als Nonplusultra begreifen und den Versuch unternehmen sie gegen alle Widerstände auf Teufel komm raus durchzudrücken. Sondern in Kontakt miteinander treten, einander zuhören, verstehen und wo das nicht möglich ist, tolerieren, ohne abzuwerten, anzugreifen oder zu verurteilen. Nur so sind die überlebensnotwendigen Kompromisse möglich, die in einer offenen Gesellschaft Platz und Raum für vielfältige Lebensentwürfe möglich machen.

Beara: Noch eine Ergänzung zur Bedeutung der Medienkompetenz. Dieser Wert kann gar nicht hoch genug bewertet werden – wie wichtig das ist, Fake-News zu erkennen, weil damit auch der Kinderzimmer-Radikalisierung entgegengewirkt werden kann.

Reitz: Ja, in Deutschland haben wir generell immer das Problem, dass wir dazu neigen, nur zu reagieren. Das heißt: Ein Problem kommt, ein Problem wächst sich aus und kann nicht mehr ignoriert werden. Und erst dann kommt die Idee, irgendwas dagegen zu tun. Aber da müssen wir früher ansetzen, gerade was die Jugend und die Digitalisierung anbelangt, den Zugang zu Algorithmen, die Radikalität pushen, die Einseitigkeit pushen, die totalitäre Weltbilder pushen. Wir müssen die Leute schon vorher darauf vorbereiten, zu verstehen: Okay, auch wenn ich jetzt hier von 100 Leuten was erzählt bekomme, muss das nicht der Wahrheit entsprechen, und ich kann auch durchaus einen anderen Blick einnehmen und mir angewöhnen, immer zwei, drei, vier, fünf unterschiedliche Quellen heranzuziehen, um mir ein ausgewogenes Bild machen zu können.

Medien sind ein gutes Stichwort. Ein Jugendformat des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hat die CDU vor wenigen Tagen in eine Ecke mit der NPD und der Partei „Der Dritte Weg“ gestellt. Herr Beara, wie gehen Sie damit um? Berührt Sie das?

Beara: Es berührt mich schon, aber nicht tief im Herzen. Wenn man sich mal die jüngsten Entgleisungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks anschaut, dann war das jetzt ein I-Tüpfelchen. Vorher kamen solche Entgleisungen von einzelnen Mitarbeitern, aber hier kam sie konkret von einem ganzen Format, von „Funk“, das sich gezielt an jüngere Menschen richtet. Und was dahintersteckt, welche Intention das hatte? Wahrscheinlich hätte Axel früher das nicht anders gemacht. Ein Thema derart framen, derart tendenziös darzustellen, das ist eine Form von Manipulation, die mir sehr missfällt, insbesondere dann, wenn ich dafür noch Zwangsgebühren zahlen muss. Das ist eine Frechheit und muss Konsequenzen haben.

Man wird in Deutschland oft sehr schnell als Extremist bezeichnet. Ist der Extremismus-Begriff heute nicht völlig entwertet, weil er so beliebig geworden ist?

Reitz: Ich sehe zwei Probleme. Ich habe schon sehr früh darauf hingewiesen, dass der Begriff „Nazi“ inflationär gebraucht wird. Das ist eine Beschimpfung wie Armleuchter oder Vollidiot. Das entzaubert aber den Schrecken in der Wahrnehmung vieler Menschen, was der Nationalsozialismus tatsächlich bedeutet hat. Wir sprechen da über eine Ideologie, die auf Vernichtung, die auf Ausrottung anderer Völker und Glaubensgemeinschaften hinzielt und das ganz offen artikuliert hat. Wir reden hier von Menschen, die kleine Kinder ins Gas geschickt haben, die nicht nur andere Völker, sondern auch ihr eigenes Volk gefoltert, gemordet, unterdrückt und letztlich dann für nicht lebenswert erklärt haben, als es den Zweiten Weltkrieg nicht gewinnen konnte. Und wenn man dann Oma Erna, die bei Pegida mitläuft und Angst vor dem Islam oder Angst vor irgendwelchen von Propaganda gezüchteten Feindbildern hat, auf eine Stufe mit Adolf Hitler, Reinhard Heydrich und Heinrich Himmler stellt, dann dämonisiert man nicht Oma Erna damit, sondern verniedlicht und bagatellisiert diese Massenmörder und Menschenschlächter. Oder anders gesagt: Wenn jeder Nazi ist, dann ist keiner mehr Nazi. Interessanterweise existiert dieses Phänomen bislang nur auf der rechten Seite. Es kommt ja zu Recht keiner auf die Idee, den Vorsitzenden der Jusos wegen der Forderung nach Verstaatlichung von Kreditinstituten auf eine Stufe mit Molotowcocktail-Werfern der autonomen Antifa zu stellen. Auf der anderen Seite fehlt diese Trennschärfe. Da wird dann Friedrich Merz, wenn er mal einen flapsigen Spruch bringt, auf dieselbe Stufe gestellt wie NPD, Dritter Weg oder klassische Neonazis. Das ist einfach unlauter und hilft letztlich nur diesen Strukturen, weil dadurch auch Grenzen aufgeweicht werden und weil dann auch keine tragfähige Brandmauer nach rechts entstehen kann, die alle Demokraten einschließt, egal ob konservativ oder progressiv. Es war Franz Josef Strauß, der damals sagte, rechts von uns ist die Wand. Damit meinte er, alles, was danach kommt, ist nicht mehr im demokratischen Rahmen.

Im Gegensatz zu anderen Aussteigern sind Sie nicht in die linke Szene abgedriftet. Sie kritisieren sogar regelmäßig linksextreme Gruppierungen und linke Parteien. Wie kommt das?

Axel Reitz

Reitz: Es ist in Deutschland leider so, dass der Linksextremismus oftmals als weit weniger problematisch als der Rechtsextremismus betrachtet wird. Deshalb ist es für Aussteiger aus dem Rechtsextremismus manchmal verführerisch, vom einem Extrem ins andere zu wandern. Eben weil das andere als gar nicht so schlimm wahrgenommen wird. Als ehemaliger Rechtsextremist hast Du mit unglaublich viel Vorbehalten zu kämpfen. Und das ist auch in Ordnung.

Denn es ist legitim, sich erst mal eine Zeit lang anzugucken, wohin sich ein Aussteiger entwickelt, um auch zu wissen, ob er wirklich ausgestiegen ist, sein altes Weltbild abgelegt hat und Verantwortung für seine Taten übernimmt. Das kann dann aber natürlich auch sehr schnell dazu verleiten, dass Aussteiger sich nicht die Zeit für den Marathonlauf des grundlegenden und in die Tiefe gehenden Ausstiegs nehmen sondern einen Sprint in Richtung links hinlegen, weil es auf diesem Wege möglich ist sich schnell „unverdächtig“ zu machen und Vorbehalte abzubauen.

Das ist durchaus verständlich, denn in dem Augenblick, wo man als ehemaliger Nazi vielleicht sagt, ich bin aber immer noch konservativ, dann kommt bei vielen sofort der Rückschluss, rechts, rechtsradikal, rechtsextrem – ist ja alles das Gleiche. Der kann also gar nicht ausgestiegen sein!  Das ist in etwa so, als würde man einen Aussteiger aus dem Salafismus seinen Ausstieg nicht glauben, weil er immer noch Moslem ist. Wieder Akzeptanz in der Gesellschaft zu erlangen ist für Aussteiger aus dem Extremismus, die sich ein neues Leben, neues Umfeld und auch ein neues Selbstbild aufbauen müssen, elementar wichtig. Einige gehen dann aus Angst nicht akzeptiert zu werden den Weg der totalen Wandlung und gefallen sich in der neuen Rolle als „Kämpfer gegen rechts“. Doch ich habe es oben schon angedeutet: Ein Ausstieg ist ein Marathon, kein Sprint, und es reicht nicht, das Firmenschild zu wechseln. Man muss aufarbeiten und verstehen, was einen dazu verleitet hat, sich zu radikalisieren und zum Extremisten zu werden. Man muss sich selber, seine Fehler und seine Bedürfnisse erkennen, sich fragen: Warum hab ich das gemacht?

Manche Leute suchen Nestwärme, die anderen suchen Bestätigung, wieder andere wollen ein Gefühl der Überlegenheit erlangen. Nur so kann verhindert werden, dass man wieder in ähnliche Muster in anderen Strukturen verfällt. Es bringt ja schließlich nichts, von der einen Form des Extremismus in eine andere überzugehen. Bei Süchtigen weiß man auch, wenn man ein Suchtpotential hat, bleibt man anfällig, auch wenn man seine Sucht in den Griff bekommen hat. Dem ehemaligen Heroinsüchtigen applaudiert aber natürlich niemand, wenn er zum Alkoholiker wird. Dabei ist Alkoholsucht ja auch viel weniger gefährlich als Heroin. Trotzdem weiß man: Jede Sucht ist falsch, gefährlich und schädlich. Ich würde mir wünschen, dass diese Erkenntnis sich auch in Bezug auf extremistische Gruppierungen und Weltbilder ausweitet, egal ob diese rechts, links, muslimisch, christlich, ökologisch oder unpolitisch sind. Es gibt keinen guten Extremismus. Punkt.

Welche Rolle spielt eine intakte Familie im Zusammenhang mit Extremismus?

Kristian Beara

Beara: Das ist auf jeden Fall eine elementare Stellschraube, aber natürlich auch kein hundertprozentiger Garant. Aber eine Wichtigkeit ist natürlich gegeben und eigentlich auch völlig logisch. Ist die Familie intakt, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, nicht vollends in den Extremismus abzurutschen. Schauen wir wieder in die Kinderzimmer: Radikalisierung passiert auch in Familien, die intakt sind. Am Ende sind es viele kleine Punkte, angefangen bei den Werten, die vermittelt werden, ein intaktes Familienleben usw. Je mehr dazukommen, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, Extremist zu werden.

Es passiert ja viel im Kopf, und man kann auch zurückrudern, wenn man mal eine Zeitlang einen falschen Weg eingeschlagen hat. Da ist die Familie, da sind gute Freunde viel wert, es ist ein Gesamtpaket. Auch Prävention spielt dabei eine Rolle. Vielleicht hat man das Glück, und jemand wie Axel kommt in der Schule zu Besuch. Denn wenn jemand wie Axel den Kindern und Jugendlichen etwas mitteilt, ist das sicher authentischer, als wenn Anti-Extremismus-Redner darüber sprechen, die das aber nicht miterlebt haben.

Herr Reitz?

Reitz: Familie ja, aber das muss nicht unbedingt mit einem klassischen Familienbild zusammenhängen, auch Patchwork-Familien, Alleinerziehende und homosexuelle Ehen können intakt sein und sich gut um Kinder kümmern. Die Hauptsache ist, dass keine Brüche entstehen, dass keine unüberwindbaren Probleme entstehen, keine Entfremdung stattfindet, kein Vertrauensverlust, weil das sind immer die Ansatzpunkte, wo Extremisten hineinstoßen können, um eine Alternative anzubieten – erst mal den Kümmerer mimen und Love-Bombing machen.

Was heißt das?

Reitz: Ich erkläre es anhand meines Beispiels: Als ich in meinem Elternhaus und in der Schule den Eindruck gewann, ich würde nicht ernst genommen, hätte keine Stimme, der Gehör geschenkt wird, und kein Recht, mich eigenständig zu entfalten, kamen die Leute von der NPD und klopften mir auf die Schulter, unterhielten sich mit mir und lobten mich dafür, dass ich den „Mut“ hätte, mir ein eigenes Bild zu machen anstatt auf andere zu hören oder deren Vorgaben blind zu folgen. Sie kümmerten sich also um mich und gaben mir das Gefühl, etwas wert zu sein, ihnen etwas zu bedeuten. Das ist immer der Anfang, wenn es darum geht jemanden extremistische Strukturen oder Sekten zu gewinnen, und wenn der Anfang einmal gemacht ist, sind die Haken eingeschlagen, und dann ist es oft schon zu spät. Denn wenn dann von anderen dagegen argumentiert wird, ist schon eine Haltung da nach dem Motto „Die wollen mich jetzt von den Leuten trennen, die gut zu mir sind und die mich verstehen“. Extremismus ist übrigens kein Jugendproblem, wie wir bei Corona gesehen haben. Bei der Jugend ist die Gefahr aber höher, weil Jugendliche gerne auch ihre Grenzen austesten und in eine Phase kommen, wo sie rebellieren, was ja auch zum Jungsein und Erwachsenwerden dazugehört. Das kann von Extremisten schnell ausgenutzt werden.

„Die AfD wird nicht wegen, sondern trotz ihrer Politiker gewählt“

Ist es wirklich so einfach: Ich gebe jemandem das Gefühl, für ihn da zu sein, und er wird Extremist?

Reitz: Wenn ein falsches Setting vorhanden ist, wenn mehrere Probleme auf einmal auftreten, für deren Bewältigung gerade keine praktikablen Strategien vorhanden sind, dann reicht es manchmal tatsächlich, dass zur falschen Zeit die falschen Leute auftauchen und die Hand reichen. Wenn ich meine Vorträge halte, gibt es sicher viele, die sich fragen: Was redet dieser Typ da für ein Zeug, der kommt von einem anderen Stern, ich hab’ mit dem ja rein gar nichts gemein, ich wäre nie so doof wie der es war. Dabei ist niemand vor Radikalisierung gefeit. Es muss gar nicht politisch sein: Wie viele ganz normale Menschen treten irgendwelchen Sekten bei, folgen wahabitischen Hasspredigern oder möchten konkrete Missstände mit Gewalt beheben, wenn sie nicht so schnell ans Ziel gelangen wie sie es für notwendig erachten? Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Und die Politik als Sachwalter der Interessen der Menschen muss sich fragen: Wie können wir dafür sorgen, dass Gefühle absoluter Unsicherheit und Unzufriedenheit vermieden werden? Wie können wir dafür sorgen, dass die primären Probleme der Menschen adressiert werden? Leider macht die Politik derzeit kommunikativ keinen guten Job. Es kann leicht der Eindruck entstehen, dass „die da oben“ für „uns da unten“ nicht viel Verständnis aufbringen und über die Köpfe der Bürger hinweg entscheiden. Etwa beim Atomausstieg, der vom Großteil der Wähler abgelehnt wurde, und die Angst vor steigenden Energiepreisen anfacht. Hinzu kommen akademische Elite-Projekte wie den Versuch, die Geschlechter abzuschaffen, welche die Menschen überfordern, und schon haben Populisten und Radikale leichtes Spiel mit ihrer flachen Argumentation: „Die da oben tun nix für Euch! Wir sorgen dafür, dass die wegkommen und machen alles besser!“

Was sollten Politiker stattdessen kommunikativ arbeiten?

Reitz: Die Fragen, die den Menschen in Deutschland aktuell unter den Nägeln brennen, sind andere: Wie soll ich durch den Tag kommen, wenn Reallohnverluste nicht angegangen werden, wenn die Politik nichts gegen die Inflation tut, wenn wir immer noch keine klar regulierte Migration in Deutschland haben? Und hier muss die Politik endlich handeln und klar kommunizieren, welcher Weg eingeschlagen werden soll und welche Hürden dabei auf die Bürger zukommen. Kurzum: Es muss Klartext gesprochen werden! Auch wenn es schwerfällt und die nächste Wahl gefährdet. Das gilt für alle Parteien gleichermaßen, egal ob SPD, CDU, FDP oder Grüne. Den Grünen möchte ich dazu noch empfehlen, jenen Teil ihrer Partei etwas im Zaun zu halten, der ein Hauptaugenmerk auf Themen legt wie „Welches Kostüm darf Oma Erna im Karneval tragen?“, „Darf ich noch ein Zigeunerschnitzel bestellen?“ oder „Wie setze ich den Genderstern richtig?“ und sich nicht als härtere Klientel-Partei zu begreifen als die FDP. Die Energiewende ist enorm wichtig, keine Frage, und auch der Klimaschutz verdient große Aufmerksamkeit. Diese Themen können aber nicht ohne den Bürger angegangen werden und schon gar nicht gegen ihn, sondern nur mit ihm! Wenn dies nicht der Fall ist, profitieren die Falschen davon. Man muss deshalb auch deutlich sagen, die AfD liegt nicht bei 20 Prozent in den Umfragen, weil diese Partei so unglaublich tolle Programme oder dass sie so unglaublich sympathische Politiker hat. Im Gegenteil, die AfD wird ja nicht wegen ihrer Politiker, sondern trotz ihrer Politiker gewählt, weil sie nichts anderes machen muss, als einfach zu sagen: Wir sind dagegen, verpasst den anderen einen Denkzettel, indem ihr uns wählt!

Teil 2 des Doppelinterviews mit Axel Reitz und Kristian Beara erscheint am morgigen Freitag. Darin geht es unter anderem um den Umgang mit Extremismus, die Entwicklung der AfD und die Wichtigkeit des Verzeihens.

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Andreas Nothelle
Vor 1 Jahr 4 Monate

Na ja, auf Menschen eingehen ist grundsätzlich wichtig und erfolgreich. Aber Viele lassen diese Annäherung nur bis zu einem gewissen Punkt zu, dann geht die Klappe zu, und zwar beim angeblich besseren Wissen über "Fakten". Kein Expertenwissen kann sie davon abbringen. Wie es dann oft heißt: "Es ist einfach so". Das hat mit Meinung, also Wertung, wenig zu tun und schließt deshalb Dialog aus. Es ist eine Persönlichkeitsstörung, und leider häufig Ursache für Konflikte und Extremismus. Auch die Suche nach einer gleichgesinnten Gruppe - nicht als Zweckgemeinschaft, sondern als "Familie", offenbart psychische Probleme, vor allem einen Mangel an Selbstwertgefühl. Ein echter Skeptiker fällt auf so etwas nicht herein. Leider sind solche Persönlichkeitsmängel weit verbreitet, vielleicht sogar typisch für die meisten Menschen. Sie sehen den offenbaren Widerspruch nicht: So sicher, wie sie in ihrer Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft sind, so unbedingt ist ihr Glaube an die neue Gruppe. Das erklärt ja auch den Erfolg der "sozialen" Medien. Auch da ist hinterfragtes Faktenwissen Nebensache, was dagegen zählt ist die Geborgenheit in einer Gruppe mit gleichlautenden Glaubenssätzen. Allenfalls generationenlange und psychologisch geschickte Bildungsbemühungen können da vielleicht etwas ausrichten. Da aber weder Lehrer noch die Beschäftigten in den Medien hierzu befähigt sind - oftmals sind es gerade Personen mit den beschriebenen Störungen, die solche Berufe ergreifen - bin ich wenig optimistisch, dass es gelingt. Bestimmte Schriftsteller und auch Filmemacher hat es immer gegeben, die hier emotional ansetzen. Ihre Produkte haben aber wenig Erfolgsaussichten gegen die übliche "Unterhaltung". Und die Religionen? Im Kern könnten sie helfen, aber was eine Religion ausmacht ist nicht ihre positive Kernbotschaft, sondern tradierte Regeln und Gebote, oftmals von den Mächtigen ausgeheckt, durch die sie sich selbst zur faktenleugnenden Extremistenszene gesellt haben. Und aufgeklärten Religionsgemeinschaften fehlt meist der emotionale Reiz. Insgesamt bin ich also eher pessimistisch.

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Andreas Nothelle
Vor 1 Jahr 4 Monate

Na ja, auf Menschen eingehen ist grundsätzlich wichtig und erfolgreich. Aber Viele lassen diese Annäherung nur bis zu einem gewissen Punkt zu, dann geht die Klappe zu, und zwar beim angeblich besseren Wissen über "Fakten". Kein Expertenwissen kann sie davon abbringen. Wie es dann oft heißt: "Es ist einfach so". Das hat mit Meinung, also Wertung, wenig zu tun und schließt deshalb Dialog aus. Es ist eine Persönlichkeitsstörung, und leider häufig Ursache für Konflikte und Extremismus. Auch die Suche nach einer gleichgesinnten Gruppe - nicht als Zweckgemeinschaft, sondern als "Familie", offenbart psychische Probleme, vor allem einen Mangel an Selbstwertgefühl. Ein echter Skeptiker fällt auf so etwas nicht herein. Leider sind solche Persönlichkeitsmängel weit verbreitet, vielleicht sogar typisch für die meisten Menschen. Sie sehen den offenbaren Widerspruch nicht: So sicher, wie sie in ihrer Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft sind, so unbedingt ist ihr Glaube an die neue Gruppe. Das erklärt ja auch den Erfolg der "sozialen" Medien. Auch da ist hinterfragtes Faktenwissen Nebensache, was dagegen zählt ist die Geborgenheit in einer Gruppe mit gleichlautenden Glaubenssätzen. Allenfalls generationenlange und psychologisch geschickte Bildungsbemühungen können da vielleicht etwas ausrichten. Da aber weder Lehrer noch die Beschäftigten in den Medien hierzu befähigt sind - oftmals sind es gerade Personen mit den beschriebenen Störungen, die solche Berufe ergreifen - bin ich wenig optimistisch, dass es gelingt. Bestimmte Schriftsteller und auch Filmemacher hat es immer gegeben, die hier emotional ansetzen. Ihre Produkte haben aber wenig Erfolgsaussichten gegen die übliche "Unterhaltung". Und die Religionen? Im Kern könnten sie helfen, aber was eine Religion ausmacht ist nicht ihre positive Kernbotschaft, sondern tradierte Regeln und Gebote, oftmals von den Mächtigen ausgeheckt, durch die sie sich selbst zur faktenleugnenden Extremistenszene gesellt haben. Und aufgeklärten Religionsgemeinschaften fehlt meist der emotionale Reiz. Insgesamt bin ich also eher pessimistisch.