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Kolumne „Kaffeehaus“

Der Psychotherapie-Boom

In meinem Freundeskreis erlebe ich zurzeit einen regelrechten Psychotherapie-Hype. „Mein Therapeut empfahl mir“ – einem solchen Autoritätsargument lässt sich nur schwer etwas entgegensetzen, selbst wenn man einer anderen Meinung ist. Sicher: Dass Menschen an ihrem seelischen Gleichgewicht arbeiten wollen, ist erst einmal positiv. Doch die Psychotherapie scheint bei vielen zu einem Lifestyle der Unselbstständigkeit zu mutieren. Jede Celebrity hat heute ihren Psychotherapeuten, auf den sie mal mehr, mal weniger hört, aber nie müde wird, seine Präsenz zu erwähnen und ihm öffentlich zu danken. Die Therapeuten sind die neuen Gurus und Priester der modernen Gesellschaft geworden.

Unbestritten gibt es nach wie vor Menschen, die einen Therapeuten dringend benötigen und sich nicht trauen, ihn aufzusuchen. Menschen mit einem Trauma aus der Kindheit oder mit ungelösten und angestauten Problemen, die ihre Beziehungen beeinträchtigen. Doch wie lässt sich bestimmen, wann eine Therapie wirklich sinnvoll ist?

Den Richtlinien zufolge ist eine psychotherapeutische Behandlung dann zu empfehlen, wenn eine seelische Krankheit vorliegt. Zu Faktoren, die bei der Diagnosestellung und einer möglichen Therapie eine Rolle spielen, gehören die Funktionsbeeinträchtigung und persönlicher Leidensdruck. Wenn man also selbst oder das Umfeld unter den eigenen Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen leidet, wäre es an der Zeit, sich an einen Arzt oder Psychotherapeuten zu wenden.

Auch ein Therapeut hat ein Weltbild und eine eigene Moralvorstellung

Heute meinen aber viele, dass praktisch jeder einen Therapeuten braucht, dem eine unangenehme Situation passiert oder der im Alltag kurzfristig erschöpft ist. Überhaupt ist es dann einfach, für alles eine Ursache in der Kindheit oder in anderen Menschen zu suchen. Ja, gute Therapeuten stellen die relevanten Fragen, zu denen man nicht durchdringt und zeigen einen Weg, auf dem man die Antworten selbst finden kann. Ganz nach dem Vorbild der sokratischen „Maieutik“ (Hebammenkunst), verhelfen sie im Dialog einer Person zur Erkenntnis, indem sie durch geeignete Fragen dazu veranlasst werden, den betreffenden Sachverhalt selbst herauszufinden.

Es darf aber nicht vergessen werden: Auch ein Therapeut hat ein Weltbild und eine eigene Moralvorstellung. Auch er richtet seine Empfehlungen nach diesen. Gerade bei Themen wie Beziehungen, Familiengründung oder Trennung wird eine lesbische Feministin andere Ratschläge geben als eine verheiratete christliche Mutter.

Ich erfuhr von einer Psychotherapeutin, die einer Frau mit Kinderwunsch empfahl, diesen Wunsch nochmal zu überdenken und zu überlegen, ob sie ihn wirklich hat, oder die Gesellschaft vielmehr diesen Druck auf sie ausübt. Die Psychotherapeutin des Partners wiederum empfahl ihm, diesen Wunsch besser nicht zu erfüllen, wenn er sich dadurch unter Druck gesetzt fühlt. Kurzum: Ein gesunder Menschenverstand würde eine einfachere Lösung vorschlagen. Immerhin trennten sich auch dank der Psychotherapie die Wege der beiden.

Nicht jede Erkenntnis kann von Dritten vermittelt werden

In einer Zeit der gesellschaftlichen Veränderungen und Wertezusammenbrüche sollte man gut überlegen, welche Spezialisten man beispielsweise jungen Menschen zumutet, die nach ihrer Identität suchen. Oder Menschen, die sich in einer Spirale aus Selbstmitleid und Beschuldigung anderer drehen und aus dieser nicht herauskommen. Es sollte nicht nur eine Person von fachlicher Kompetenz, sondern auch mit einer Verankerung in echten Werten sein.

Und so hart es auch klingen man: manchmal muss man sich im Leben zusammenreißen, Ängste und Trauer aushalten und nach vorn schauen. Die tiefsten Erkenntnisse müssen manchmal durchgerungen und durchlitten werden. Nicht jede Erkenntnis kann von Dritten vermittelt werden, so gut sie auch ausgebildet sind und so gut sie es mit uns auch meinen. Zeit und Geduld sind die besten Therapeuten – wenn man sie denn walten lässt.

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