Wie die Union die Städte erobern will – und woran dies scheitern könnte
Die meisten modernen Städte und Metropolen sind weit davon entfernt, den Eindruck eines Venedigs oder Brügges des 14. Jahrhunderts zu erwecken. Hohe Mietpreise, Verkehrsbelastung, drastische Bevölkerungsumwälzungen und die verlorene Fähigkeit der Architektur, lebenswerte Stadtviertel neu zu entwerfen, sorgen dafür, dass für manche der Wegzug aufs Land naheliegt – und sich gerade diejenigen Gruppen am ehesten aus den Städten zurückziehen, die die Zukunft jeder Gesellschaft ausmachen: Familien.
Wem überlassen sie das Feld? Und was können die Kräfte der gesellschaftlichen Bewahrung dagegen tun, dass die Städte immer mehr zu weltanschaulichen Blasen der Wohlstandsverwahrlosung werden? Sie aufgeben? Oder vielleicht doch den Gedanken wagen, dass die Städte eine lebenswerte Zukunft haben (müssen) – eben weil sie eine lebenswerte Vergangenheit hatten. Eine Vergangenheit, die ja in den meisten Städten zumindest baulich noch viel präsenter ist als in den suburbanisierten Land- und Speckgürtelgemeinden des 21. Jahrhunderts.
Aber was tun? Sind die Städte nicht politisch verloren? Studenten, Singles und kinderlose Pärchen haben doch wohl naturgemäß mehr Ressourcen und Sympathie zu einer Politik des Augenblicks und nicht zum langen Atem eines konservativen Gesellschaftsentwurfs? Aber sind es wirklich nur diese, die die Städte bewohnen? Und selbst wenn es diese sind: Kann man nicht auch diese gewinnen für den reiferen Blick in die Zukunft?
Schwierig, aber nicht unmöglich
Es scheint schwierig, aber nicht unmöglich, mit konservativen Positionen Großstädte und Metropolen zu gewinnen. Selbst das sprichwörtlich links-utopistische Berlin hat jüngst das Berliner Abgeordnetenhaus mit einer satten relativen Mehrheit von CDU-Abgeordneten gefüllt. Was das bedeutet? Vielleicht nichts, vielleicht manches, vielleicht sogar einiges.
Ein Beispiel aus der Tagespolitik führt weiter. Es ist die Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart im Jahr 2021, aus der der CDUler Frank Nopper als Sieger hervorging, für viele überraschend. Wie geht das überhaupt? Und dann auch noch in Baden-Württemberg, dem Land, wo die Häuser abbezahlt und die Portemonnaies so gut gefüllt sind, dass man sich einige politische Absonderlichkeiten gut und einfach leisten kann, ohne ihre direkten Auswirkungen schmerzhaft zu merken.
Diese Frage hat sich wohl auch die Münchner CSU gestellt, die in einem scheinbar schwarzen Land, aber einer sicher grün-roten Stadt lebt und denkt und grübelt, wie das möglich sein soll, hier noch einmal einen Oberbürgermeister zu stellen. In den frühen 1980er-Jahren, da gab es mal einen solchen von der CSU.
Es ist schon besonders, wenn das sonst so selbstfixierte Bayern nach Baden-Württemberg schaut. Und so haben sie diesen Frank Nopper an einem Samstag im Februar 2023 einfach eingeladen in den Münchener Augustinerkeller und ihn gefragt: Wie hat er das gemacht?
„Bürgermeisterwahlen sind Persönlichkeitswahlen“
Der Weg nach München fällt dem Baden-Württemberger offenkundig leicht – hier in diese Jäger-Stube hinein, in der an diesem Vormittag weiße Wurst und weißes Bier für diesen atmosphärischen Kleister sorgen, der es so einfach macht, Bayern als einen besonderen Flecken Erde zu sehen. Besonders aber scheint auch die außergewöhnliche Demut der Münchener CSU, sogar einen Stuttgarter um Rat zu fragen. Denn diese Souveränität, auch einmal Rat anzunehmen – eigentlich scheint sie nicht zum bayrischen Selbstverständnis zu gehören. So arg ist es dann also vielleicht doch, mit der CSU und den Großstädten.
Aber Stuttgart antwortet auf die anscheinend so bohrende Frage: Wie hat er das gemacht?
Nopper hat sich Gedanken gemacht. Sein Erfolg als konservativer Kandidat in einer Großstadt wirkt auf einmal nicht mehr als Zufall oder als Ausnahme, sondern als etwas, das funktioniert hat aus Gründen. Und diese Gründe legt Nopper dar. Es wird deutlich, dass das in Zukunft vielleicht doch wieder vermehrt möglich sein könnte, auch Großstädte für Kandidaten der gesellschaftlichen Mitte zu gewinnen. Nopper hat aus dem Lande Hegels und Hölderlins weniger eine Festrede mitgebracht als eine Vorlesung, hier in diesen Bierkeller. Eine volkstümliche zwar, aber eben auch eine mit Substanz.
Wen also haben die Stuttgarter da zu ihrem Oberbürgermeister gewählt? Und vor allem: Warum?
Nopper beginnt mit dem Punkt: „Bürgermeisterwahlen sind Persönlichkeitswahlen“ – noch mehr in Baden-Württemberg als in Bayern. Nicht die Partei wird gewählt, vielleicht noch nicht mal ein Programm, sondern ein Gesicht. Traut man diesem oder jenem Gesicht? Traut man das, die Stadt also, diesem Gesicht zu? So verschwindet die Parteizugehörigkeit von den Plakaten aller Kandidaten – außer bei der AfD und, als Andeutung bloß, bei den Grünen.
Die Kernklientel aktivieren
Wer aber ist dieser Nopper? Ein Kandidat, der das zu verkörpern scheint, was in Baden-Württemberg für Vertrauen sorgt. Eine alte Stuttgarter Familie, frühere Eisenwarenhändler und Stadtschultheiße – „kilometertiefe Stuttgarter Wurzeln“, sagt Nopper. Aber eben nicht nur das gemachte Nest der alten Netzwerke, sondern auch der Umstand: Man muss sich erst woanders beweisen. Im Falle Noppers im doch gehörig kleineren Backnang mit rund 35.000 Einwohnern – unmittelbar im Speckgürtel, vor den Toren der Stadt. „Das Narrativ war: Der in der nahen Fremde bewährte Sohn kehrt heim.“
Die Grundkonstellation stimmt also. Aber wie macht man das jetzt in einer Stadt, in der in bestimmten Stadtvierteln der Name CDU für Schrecken sorgt – oder am meisten doch in Redaktionen der Zeitungen? Und vor allem in einer Stadt, in der sich dann nach dem überraschenden Sieg im ersten Wahldurchgang der Rest der politischen Landschaft „links der Mitte“ verbündet mit dem Ziel: „Nopper verhindern“?
Man kann nicht alle für sich gewinnen in dieser großen Stadt. Das ist eine Erkenntnis, die gilt. Auch wenn Nopper dann im zweiten Wahlgang relativ klar gewinnt mit 42,3 Prozent der Stimmen vor Marian Schreier (SPD, 36,9 Prozent) und dem Stadtrat Hannes Rockenbauch (parteilos, 17,8 Prozent). „Alle achtzehn Außenbezirke gingen an mich, aber alle fünf Innenbezirke gingen an Marian Schreier.“ Die Kernklientel also nicht aufgeben, sie nicht befremden – sondern sie aktivieren.
Konservative und Migranten – eine Chance?
Noppers bester Bezirk? Stuttgart-Mühlhausen – kein Hort des Großbürgertums, sondern: „Da wohnen viele Malocher und Schaffer“, sagt Nopper. Die älteren Bürger nimmt Nopper mit, die Gewerkschafter, die selbstständigen Handwerker – und die Arbeiter. „Aber nicht die urbanen, hippen, durchaus auch gut situierten Innenstadtmilieus.“ Denn obwohl diese ja das Bild der Stadt als Gesellschaftslabor prägen: Stuttgart – und sogar Berlin – besteht eben doch aus mehr als den Mitgliedern einer spezifischen Kaste.
Wie umgehen mit den Migranten? Mit denen, die ja eigentlich für konservative Werte empfänglich sein sollten, weil sie selbst die Bedeutung der Familie und der Traditionen leben – aber die es eben dann doch meistens nicht sind: zumindest parteipolitisch nicht. Nopper schafft es, sie anzusprechen. Die griechischen Gastronomen, die Pizzeria-Inhaber und Döner-Verkäufer. „Man muss auch neue Gruppen gewinnen – wie etwa Migranten, die zwar schon viele Jahre in der Stadt leben, aber vielleicht noch nie an OB-Wahlen teilgenommen haben.“
Es ist eben auch eine Gruppe, die groß ist – und die wächst. Warum also sollte ihre Bedeutung für demokratische Prozesse nicht wachsen, wenn man es eben geschickt anstellt als konservative Kraft?
Wenn es die Migranten sind, die wichtiger werden für den Sieg – wer sind dann die Gruppen, die an Bedeutung verlieren? „Die Tagespresse hat bei weitem nicht mehr den Einfluss, den wir Politstrategen ihr zubilligen“, sagt Nopper. Auch der Blick nach Berlin bestätigt das: Bei der Abgeordnetenhauswahl haben die meisten eingebürgerten Muslime die CDU gewählt, was Sozialdemokraten, die bisherigen klassischen Vertreter von Zuwanderern, stark überrascht haben dürfte.
Mit diesen Themen könnten Konservative punkten
Und inhaltlich, was gibt es für Themen, die man traditionell eher konservativen Kandidaten zutraut? Sicherheit – auch wenn erst keiner darüber sprechen will. „Am Anfang des Wahlkampfs war ich der Einzige, der Sicherheit und Sauberkeit thematisiert hat“, sagt Nopper: „Man muss Mut haben, Themen anzusprechen, die keiner anspricht.“ Auch hier gibt es Parallelen zum Beispiel Berlin: Die CDU hat im Wahlkampf stark auf das Thema Sicherheit gesetzt – und mit ihrer Anfrage zu den Vornamen der Silvester-Randalierer für haufenweise schlechte Presse gesorgt. Doch bei den Wählern, auch bei den muslimischen, scheint das nicht geschadet zu haben.
Einspruch, sagt der Parteienforscher Werner J. Patzelt, selbst CDU-Mitglied. Das Ergebnis der CDU in Berlin will er nicht als großartigen Sieg werten. „Früher siegte man bei einer Wahl mit gut 30, knapp 40 Prozent. Mit 28 Prozent ist die Berliner CDU deshalb nur der Einäugige unter den Blinden. Offensichtlich hat man sie bloß als das kleinere Übel gewählt. Insgesamt hat das bisherige Linksbündnis weiterhin eine klare parlamentarische Mehrheit. Also rate ich dringend davon ab, das Berliner CDU-Ergebnis als Trend hin zur ‘Rückgewinnung der Städte’ anzusehen“, mahnt Patzelt auf Corrigenda-Nachfrage.
Viel mehr gebe es in den großen Städten „dauerhaft ein die Grünen begünstigendes Milieu“. Dies läge vor allem daran, dass grüne Politiker kommunal anders aufträten als im Bund. „Solange in Städten grüne Politiker so wie in Tübingen regieren, nämlich als ‘CDU-Grüne’, wird die Union keinen Stich machen; und also wird sich eine künftige Stärke der CDU in den großen Städten allein daraus ergeben, ob links-grüne Politik eine Stadt allgemein bemerkbar so um ihr gutes Funktionieren bringt, wie das in Berlin zu erkennen ist.“
„Die CDU bräuchte erst einmal eine geistig-programmatische Anstrengung“
Doch zurück in die Münchener Jäger-Stube. Nopper betont, er habe Themen wie das Gendern zur „Profilschärfung“ genutzt – „wenn auch dosiert“. Also doch die Polemik, nicht nur das seichte Lied der Mitte? Vielleicht ein wenig – aber doch nie, ohne den Blick dafür zu verlieren, dass die Stadt Gemeinschaft ist oder sein soll und kein Kampfplatz. Denn ohne Einheit geht es nicht, sagt Nopper.
Aber: Konservative Bürgermeister müssen sich erst beweisen – vor allem, wenn sie ein schwarzes Parteibuch haben. Zu viele Hoffnungen hat die Mutterpartei nicht erfüllt, zu viele Chancen liegengelassen. Nopper versucht das immer wieder mit baden-württembergischem Pragmatismus. Erst kürzlich kündigte er eine Pflicht für Migranten zu gemeinnütziger Arbeit an, wenn sie keiner anderen Tätigkeit nachgehen. In Städten wie Berlin, in denen die Verwaltung, die Zivilgesellschaft und ganze Bezirke seit Jahrzehnten tiefrot gefärbt sind, dürften solche Ansätze schwerer umzusetzen sein.
Doch welche Ziele, welche Tonalität und Ansprachen sollen konservative Kandidaten wählen? Politologe Patzelt formuliert die Antwort gegenüber Corrigenda so: „In den Städten bräuchte die CDU Intellektuelle, die sich sowohl im links-grünen Milieu Respekt verschaffen können, als auch das nicht mit Abstrichen an einer solchen konservativen Grundhaltung erkaufen, die sie für konservativ-sozialdemokratische Schichten der ‘kleinen Leute’ attraktiv machte.“ Mit Blick speziell auf die CDU fordert der Wissenschaftler aber zunächst „erst einmal eine geistig-programmatische Anstrengung dahingehend, dass sie klärt und auf überzeugende Redeformeln bringt, was heutzutage ‘Konservatismus’ überhaupt heißen soll. Von alledem ist noch nichts zu sehen“, betont Patzelt.
Was ist mit der AfD?
Und dann wäre da noch eine andere Partei, die tief im konservativen Lager fischt: die AfD. „In Ostdeutschland hat sich die AfD dauerhaft teils rechts neben der CDU, teils als die ‘Vor-Merkel-CDU’ etabliert“, erklärt Patzelt. „Sollte die AfD ihre rechtsradikalen Lautsprecher abstellen und auf eine vernünftige politische Linie einschwenken, könnte sie gar nicht mehr um ihre vielfach jetzt schon starke Stellung gebracht werden.“
Auf diese großen parteipolitischen Linien nimmt Nopper keinen Bezug, er kann sich den Luxus des Lokalen leisten. Ihm ist ein anderer Punkt wichtig:
„Es ist von großer Bedeutung, dass sich die bürgerlich-liberal-konservativen Kräfte nicht zersplittern.“ Vielleicht ist es das, was am Ende wirklich zählt.
Wenn die Stadt auch manchmal zu zerbrechen droht, wenn Ideal und Wirklichkeit so fundamental auseinanderklaffen, wäre es nicht gerade dann an der Zeit, das zu fokussieren, was diese Lebensform wirklich ausmacht: Nicht ihre Gesellschaftszersplitterungen und Sozial-Experimente, nicht die Wohlstandsghettos und die No-Go-Slums – sondern der einfache Gedanke, dass hier die Menschen trotz ihrer Unterschiede zusammenkommen, um zumindest eines gemein zu haben: Bürger dieser Stadt zu sein.
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