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KOLUMNE „DER SCHWEIZER BLICK“

Unrecht von oben nach unten

„Transparency International“ berechnet jedes Jahr den „Korruptionswahrnehmungsindex“. Er soll zeigen, wie es bei den einzelnen Staaten um die Korruption der öffentlichen Hand steht. Je höher man rangiert, desto weniger wird gemauschelt.

Die Schweiz belegte 2022 Platz 7. Das ist ein hervorragender Wert, und er ist nicht unverdient. Wer hierzulande mit einem prall gefüllten Briefumschlag zur öffentlichen Verwaltung geht, damit sein Bauprojekt schneller behandelt wird, der wird höflich zur Tür herausgeführt oder gleich zur Polizei gebracht. Systematische Korruption – gib du mir, dann geb’ ich dir – existiert in der Schweiz kaum. Jedenfalls nicht auf so tiefem Niveau. Keine Frage, dass es auch hier von Vorteil ist, die richtigen Leute zu kennen, und natürlich gibt es auch in der Schweiz Bevorzugung und Übervorteilung ohne Rechtsgrundlage. Wie überall, wo es Menschen gibt.

Eine niedrige Korruptionsrate heißt nicht, dass es kein staatlich verordnetes Unrecht gibt. Allerdings ist es meist „nur“ ein gefühltes Unrecht, das juristisch oder demokratisch legitimiert ist. Oder wie soll man es sonst nennen, wenn der Mieter einer gemeindeeigenen Wohnung nach 15 Jahren ohne eigenes Verschulden die Kündigung erhält, weil in seinem Zuhause künftig Flüchtlinge wohnen sollen?

Darüber spricht das Land in diesen Tagen. Es ist ein Mini-Skandal, weil er einen Einzelnen betrifft, es nicht um Millionen geht und irgendwie niemand so recht schuld ist. Letzteres ist der eigentliche Skandal: Einer versteckt sich hinter dem anderen und der wieder hinter dem nächsten in der Reihe.

Niemand will Verantwortung übernehmen

Die Schweiz ächzt derzeit – wie viele Staaten in Europa – unter einer Flüchtlingswelle. Es gibt kaum noch Platz in den für Flüchtlinge vorgesehenen Behausungen. Die Menschen strömen über die Grenze, werden administrativ erfasst, so gut es geht und dann den Kantonen (gleichbedeutend mit den Bundesländern in Deutschland) zugewiesen, die wiederum die Gemeinden in die Pflicht nehmen. Diese bleiben auf dem Elend sitzen, weil sie die unterste Staatsebene sind.

Im Kanton Zürich heißt das beispielsweise: Jede Gemeinde muss derzeit 0,9 Prozent ihrer Einwohnerzahl in Asylsuchenden aufnehmen. Auf eine Stadt von 100.000 Menschen kommen also 900 Flüchtlinge, die es unterzubringen gilt. Und für Seegräben, eine Zürcher Kleingemeinde mit 1400 Einwohnern, bedeutet das: 13 bis 14.

Um Seegräben geht es konkret. Das Dorf liegt malerisch mitten im Grünen mit einem See in nächster Nähe und doch nur knapp 30 Minuten von der Metropole Zürich entfernt. Die Lebensqualität ist hoch, und entsprechend gesucht ist die Lage. Wenn die Gemeinde eines nicht hat, dann das: überschüssigen Wohnraum. 13 bis 14 Flüchtlinge aufzunehmen, so klein die Zahl absolut klingen mag, das bringt die Gemeindeväter in einen Notstand.

Deshalb sitzt ein treuer Mieter einer Wohnung, die der Gemeinde gehört, ab Mai auf der Straße. Sein Mietvertrag wurde gekündigt, in die 5,5 Zimmer werden danach Flüchtlinge einziehen. Man habe keine andere Möglichkeit gehabt, lässt sich der Gemeindepräsident zitieren, die Suche nach einer anderen Unterbringung sei erfolglos gewesen.

Auch wenn sich die Seegräbner Obrigkeit derzeit sicher auf allen Kanälen viele Beschimpfungen anhören muss: Zumindest die Medien gehen rücksichtsvoll mit ihr um. Es gibt viel Verständnis. Was sollen die Leute dort auch anderes machen? So sehen nun einmal die kantonalen Auflagen aus. Was soll der Kanton denn anderes machen? So sieht es nun einmal der Bund vor. Und was soll der Bund denn anderes machen? Die Flüchtlingswelle ist global und lässt sich von einem Nationalstaat nicht beeinflussen.

Kurz und gut: Niemand ist schuld, was natürlich nichts daran ändert, dass ein Mann sich eine neue Behausung suchen muss, ohne etwas falsch gemacht zu haben.

Die Flüchtlinge, das tabuisierte Thema

In dieser Kaskade von Entschuldigungen liegt viel Hilflosigkeit. Was ist von einer Politik zu halten, die einfach stets „die anderen waren’s!“ ruft oder sich auf höhere Mächte beruft? Letztlich wählt man Volksvertreter, damit die dafür sorgen, dass alles seinen geregelten Gang geht. Was hier ganz offensichtlich nicht der Fall ist. Die Flüchtlingssituation darf niemals Ausmaße annehmen, dass die eigenen Bürger vor die Tür gesetzt werden. Also hätte man früher dafür sorgen müssen, dass das nicht der Fall wird.

Aber auch wenn viele Medien über den Fall berichtet haben: Kaum eines von ihnen kommt zum Schluss, dass es hier nicht nur um ein Einzelschicksal, sondern um staatliches Versagen auf ganzer Linie geht. Denn berührt wird ein tabuisiertes Thema. Kommt man zum Schluss, dass so etwas nie hätte geschehen dürfen, sagt man nichts anderes als: Wir nehmen seit langem zu viele Flüchtlinge auf, wir haben gar nicht den Raum und die Ressourcen, um diesen Menschen gerecht zu werden. Das will niemand laut sagen. Denn wer es tut, gilt als Fremdenfeind, als Nationalist, als Unmensch.

Als gut und edel hingegen gilt, wer die Grenzen offen lässt und es dann einem kleinen Dorf mitten im Grünen überlässt, wie es das Problem löst. Man muss das Unrecht nur von oben nach unten transportieren, dann verschwindet nach und nach auch die sichtbare Verantwortung. So weit reicht der Index der Korruptionswahrnehmung aber eben leider nicht.

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