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Programm der neuen Regierung in Österreich

Das Richtige tun? Wien drückt nur auf die Pause-Taste

„In Zeiten großer Herausforderungen“, verkündet die Präambel des druckfrischen Regierungsprogrammes tapfer, „hat Österreich seine Stärke stets aus dem Konsens der konstruktiven Kräfte gewonnen“. Die Dreierkoalition bestehend aus ÖVP, SPÖ und Neos hat ihren zweihundert Seiten schweren Kompromiss auch taufen lassen: „Jetzt das Richtige tun“, heißt es in der Überschrift. Und, etwas kleiner darunter, „Für Österreich“, falls das unklar war.  

 Damit ist das, was Politikberatungen gerne ein Narrativ oder schlicht eine Geschichte nennen, im Grunde erzählt: Weil die Zeiten schwer und die Aufgaben groß sind, rauft man sich eben zusammen. Nach den Regeln der Heldendichtung wird die selbstlose Kompromissfähigkeit hier zur distinguierten Superkraft, denn, so heißt es ein paar Abschnitte später, „andere verweigern diese Kooperation“.  

Nun könnten aufmerksame Beobachter allerhand freche Fragen stellen. Beispielsweise, ob Österreich in turbulenten Zeiten wirklich allweil aus dem Kompromiss in der politischen Mitte erfolgreich war – immerhin findet man sowohl vor als auch in der Zweiten Republik einige Prüfsteine für diese Hypothese. Man könnte auch grübeln, warum man ausgerechnet jetzt und nicht nach Möglichkeit immer das Richtige tun sollte. 

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Österreich befindet sich in einer multiplen Krise

Schließlich hat es seit der Nationalratswahl satte zweiundzwanzig Wochen gedauert, in denen gerade die Kanzlerpartei ÖVP das Land auf der eigenen Sinnsuche mitgenommen und das Richtige weitläufig ausgelotet hat. Der vorherige Versuch einer Regierungsbildung mit dem Wahlsieger FPÖ scheiterte schlussendlich neben ein paar inhaltlichen Details weniger an moralischen Fragen als vor allem an der Verteilung der Ressorts. Immerhin das ist tatsächlich typisch österreichisch.

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Abseits aller Kritik gibt es aber auch ausreichend Anlass, der neuen Regierung, die am heutigen Montag von Bundespräsident Alexander Van der Bellen vereidigt wurde, eine glückliche Hand zu wünschen. Einerseits haben Volkspartei, SPÖ und Neos die irritierenden Geschmeidigkeiten der Parteipolitik weder erfunden noch exklusiv für sich gepachtet. Andererseits steht das Land vor drängenden Problemen, die beim besten Willen keinen Aufschub mehr dulden. 

Der strauchelnde Wirtschaftsstandort Österreich findet sich zum dritten Jahr in Folge in der Rezession, die Produktivität stagniert – bei weiterhin erhöhter Inflation. Im Haushalt wiederum, der in Wien auch Budget heißt, klafft ein derart großes Loch, dass man darin ein kleineres Bundesland verstecken könnte. Das Defizit entspricht dabei etwa der vierfachen Menge der Verteidigungsausgaben. Die Geburtenrate ist zudem tief, die Zukunftsstimmung der jungen Leute düster.

Weder ein großer Wurf noch eine Katastrophe

In dieser Situation haben die künftigen Koalitionäre ein Regierungsprogramm aufgesetzt, das weder den großen Wurf noch eine Katastrophe darstellt. Viele Maßnahmen sind kleinteilig und orientieren sich an der jeweiligen Klientel, andererseits dürften die vergleichsweise behutsamen Maßnahmen zur Stabilisierung des Budgets zumindest ein Maastricht-Verfahren seitens der EU verhindern. Das dürfte auch im Interesse der beteiligten Parteien sein, die mit Blick auf die FPÖ den Eindruck vermeiden möchten, Wien ginge am Brüsseler Gängelband. 

Ohnehin zieht sich die Europapolitik als roter Faden durch viele der vorgeschlagenen Lösungen, was geradehin der Außen- und Wirtschaftspolitik für eine kleinere Nation auch Sinn ergibt. Dieser Ansatz spiegelt sich auch in einer etwas holprigen Kompetenzüberschneidung der geplanten Staatssekretäre wider, das Bekenntnis zur EU dürfte indes aber die tatsächliche große weltanschauliche Gemeinsamkeit der Koalitionsregierung unter Kanzler und ÖVP-Chef Christian Stocker sein.

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Aus demokratietheoretischer Sicht erfreulich ist, dass das Regierungsprogramm nicht zur totalenTrotzreaktion gegen die FPÖ-Wählerschaft verkommen ist. Immerhin war die Partei von Herbert Kickl die eigentliche Wahlsiegerin, die auch in Umfragen weiterhin klar führt. Drängende Probleme mit der inneren Sicherheit und der Zuwanderung sind keine Erfindung der Rechten, sondern beschäftigen längst Bürger mit und ohne Migrationshintergrund. 

Für eine Koalition der Wahlverlierer, deren Konzepte und Personal an der Wahlurne deutlich abgestraft wurden, sind die geplanten Maßnahmen überraschend deutlich und weitreichend. Das gilt insbesondere für die Begrenzung des Familiennachzuges und der Asylanträge sowie für die beabsichtige Erhöhung der Rückführungen.

Die Sozialarbeiter-Mentalität hält sich auch im Programm hartnäckig

Für die bereits rechtmäßig im Land befindlichen außereuropäischen Zuwanderer und jene mit einer Bleibeperspektive setzt der Koalitionsvertrag auf Integrationskurse und Wertevermittlung sowie auf einen erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt. Zweiteres ist dringend notwendig und dürfte sich als der effektivste Integrations-Motor erweisen. Ersteres aber ist bereits jetzt zum Scheitern verurteilt: Auch nach Jahrzehnten der Migration in westlichen Ländern hält sich hartnäckig die Sozialarbeiter-Mentalität, dass man Integration und die Vermittlung von Werten staatlich verordnen und organisieren könnte. 

Wirft man einen Blick auf die im Regierungsprogramm aufgelisteten österreichischen Normen, die Zuwanderern als exemplarisch beigebracht werden sollen, wird außerdem deutlich, dass einige davon außerhalb einiger Wiener Bezirke nicht einmal die angestammte Bevölkerung restlos überzeugen dürften. Dazu zählen beispielsweise ideologisch gefärbte Vorstellungen über LGBTQ oder Geschlechterrollen, die weit über staatsbürgerliche Rechte und den gesunden Menschenverstand hinausgehen. Auch für die Wirksamkeit von Demokratieförder- und Präventionsprogrammen, die finanziell gestärkt werden sollen, gibt es kaum überzeugende Belege. 

Bei der Kriminalitäts- und Extremismusbekämpfung allerdings ist ein notwendiger Ausbau der polizeilichen und nachrichtendienstlichen Befugnisse geplant. Auch die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft von der Politik – in Österreich wie in Deutschland seit lange eine Baustelle – soll endlich ausgebaut werden. Das ist, wie beim Bundeskartellanwaltes, auch unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten eine positive Entwicklung. 

Kopftuchverbot: Symbolpolitik, die auf das schwächste Glied zielt

Was die Schulbildung und für Eltern relevante Themen anbelangt, finden sich einige Maßnahmen, die gerade für ein bürgerliches Klientel von Bedeutung sein könnten. So soll beispielsweise die Autonomie der Schulen gestärkt und selbiges auch im Ministerium koordiniert werden; der Quereinstieg in den Lehrerberuf wird erleichtert, Deutschkurse auch in den Sekundarstufen ausgebaut. Die Religionspädagogik wird enger an staatliche Kontrolle gebunden, was sich als zweischneidiges Schwert erweisen könnte: Einerseits ermöglicht es eine engere Integration des islamischen Religionsunterrichtes, andererseits könnten Reformen hier das Fundament für die Einschränkung der Beinfreiheit christlicher Religionspädagogik legen.  

Auch ein verpflichtendes zweites Kindergartenjahr ist im Regierungsprogramm vorgesehen. Was bei Neos unter frühkindlicher Bildung rangiert, ist unter den Volksparteien wohl eher ein Ansatz, um Integration und Deutschkenntnisse zu fördern. In jedem Fall ist es ein Einschnitt in die Autonomie der Eltern, nur in manchen Fällen – nämlich dort, wo die große Mehrheit der Kinder tatsächlich Deutsch spricht – wird es wohl einen nennenswerten Effekt geben. 

Erstaunlich wiederum ist das geplante Kopftuch-Verbot für minderjährige Mädchen. Seitens der SPÖ und Neos dürfte es als die Durchsetzung eines sozialliberalen Frauenbildes verstanden werden, die ÖVP wiederum sieht hier womöglich einen Knochen, den sie der FPÖ-Wählerschaft hinwerfen will. Tatsächlich handelt es sich wohl eher um eine Nebelkerze, die zudem einen verfassungsrechtlich schwierig umzusetzenden Präzedenzfall für die Einschränkung der Religionsfreiheit schaffen könnte. 

In jedem Fall aber ist es eine Maßnahme, die – trotz aller Kritik am Kopftuch als solches – auf das schwächste Glied in der Kette zielt, anstatt den Mut aufzubringen, die Radikalisierung gewaltbereiter junger muslimischer Männer zum Thema zu machen. Es wird interessant sein zu sehen, ob ein solches Gesetz schlussendlich überhaupt eingeführt werden kann und ob rechte Wähler, die zwischen ÖVP und FPÖ schwanken, ihre Einschätzung der politischen Lage letztlich von derartiger Symbolpolitik abhängig machen werden. 

Der Begriff „Schwangere“ kommt nicht einmal vor

Wenig bis nichts findet sich zu kirchenpolitischen Themen, wobei das Bekenntnis zur Kulturpflege von Chören oder Orchestern auf dem Land für Kirchen und Traditionsvereine immerhin keine schlechte Nachricht ist. Ein Auge sollte die Kirche auf die geplante Evaluierung der Denkmalpflege-Gesetzgebung im Kulturbereich haben. Wird beim Denkmalschutz das Budget gekürtzt? Oder wird der Denkmalschutz Sinne des linken Kulturkampfes liberalisiert? 

In den großen und umstrittenen  Themenbereichen Sexualität, Frauenrechte und Selbstbestimmung schließlich bleibt es wohl bei der bestehenden Gesetzeslage. Der Begriff „Schwangere“ kommt im gesamten Regierungsprogramm nicht einmal vor. Immerhin bleibt damit auch eine Aufweichung der Abtreibungsgesetze aus. Ebenso bleibt das Verbot der Leihmutterschaft bestehen. Zwar findet sich in dem Papier der „Aktionsplan Frauengesundheit“, der die Ausweitung der Abtreibung fordert, doch eine solche Maßnahme müsste als einzelner Punkt im Regierungsprogramm ausgeführt werden. Im Parlament gäbe es dafür gegen ÖVP und FPÖ keine Mehrheit.

Sogenannte Konversionstherapien sollen verboten werden, für „vielfältige Familienkonstellationen“ wird eine – im Sinne einer Vereinfachung - Rechtsbereinigung überprüft. 

Sind die Protagonisten in Österreich am Ende vielleicht gar nicht die Politiker?

Was bleibt von der Lektüre des Regierungsprogrammes? Vor allem der Eindruck, dass die zukünftigen Koalitionäre den Kurs des Staates und der österreichischen Politik eher halten wollen. Wer auf eine nennenswerte Umkehr in gesellschaftlichen Fragen gehofft hat, darf sich hier allenfalls über eine Pause freuen. 

Während in haushaltspolitischen Fragen immerhin kleinteiliges Agieren und eine Portion Sachverstand zu erwarten ist, bleibt in der Wirtschaft der große Wurf aus. In der Migrationspolitik fällt die Wende aber deutlicher aus, als die „Zuckerl-Koalition“ es ihren Wählern vor der Wahl zugemutet hätte. Ob die neue Regierung bis 2029 durchhält, wird indes wohl kaum von der Umsetzbarkeit einzelner Maßnahmen im Politik-Mosaik ihres Programmes abhängen. Vielmehr gilt auch hier, was sich schon in der Präambel des Vertragswerkes niederschlägt: Am Ende zählt die Macht, genauer: Die Macht einer guten Geschichte. 

Solange alle drei Akteure einem überlappenden Narrativ anhängen, bleibt das auch so. Über die Jahre wird sich aber der Gründungsmythos der FPÖ-Verhinderung abschwächen. „Österreich ist eine Erfolgsgeschichte in Europa, deren nächstes Kapitel wir gemeinsam gestalten wollen“, heißt es im Programm. Der Koalitionsvertrag hat zwar eine Präambel, aber keinen Epilog. 

Wie der aussieht, hängt davon ab, wie dieses Kapitel beim Wähler verfängt. „Der tragische Held gehorcht den Pflichten zuungunsten der Neigung“, schrieb Friedrich Schiller. Vielleicht sind die Protagonisten Österreichs am Ende ja gar nicht die Politiker. 

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