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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Agenten der Provokation

Wussten Sie schon, dass eine starke Wirtschaft wichtig ist für den Staat? Dass es schlecht ist, wenn es Armut gibt im Land? Dass die Sozialsysteme gut finanziert sein müssen? Dass sich Menschen auf der Straße sicher fühlen wollen?

Falls nicht, erfährt man das in der Schweiz so oder in ähnlicher Form derzeit auf unzähligen Webseiten, Anzeigen und Plakaten von Politikern oder solchen, die es werden wollen. Es gibt nichts Praktischeres als eine Binsenwahrheit, einen Allgemeinplatz, dem beim besten Willen niemand widersprechen kann. Allerdings gibt es auch nichts Sinnloseres.

Die Angst vor deutlichen Aussagen und klaren Botschaften ist im Wahlkampf 2023 mit den Händen greifbar. Die Neue Zürcher Zeitung hat diese Zurückhaltung in einem Kommentar thematisiert und dabei selbst das Gegenteil gemacht: Der Text ist wohltuend deutsch und deutlich.

Hasenherzigkeit und Politikverdrossenheit

Da ist die Rede von „Null-Botschaften“, vom „Floskel-Reduit“, von „intellektueller Selbstverzwergung“ und „Hasenherzigkeit“. Die Parteien, so die Bilanz, würden tunlichst auf jede Provokation verzichten, um nicht in den (sozialen) Medien unter die Räder zu kommen. Ganz nach der Devise: So sehr sich die Parteiprogramme unterscheiden mögen, man muss das ja deshalb noch lange nicht zu klar sagen. Denn die Erfahrung zeigt: Irgendeiner ist immer empört oder beleidigt. Dann ruft wieder ein Journalist an, und der Tag ist ruiniert.

Die Beobachtung der NZZ ist korrekt, aber nicht vollständig. Denn trotz nichtssagender Wahlslogans kommt dennoch permanent Empörung auf. Dafür sorgen die Querschläger in den Parteien, die sich wenig Gedanken darüber machen, ob sie danach abgewatscht werden. Oder die diesen Effekt im Gegenteil sogar suchen. Sie sind die „agents provocateurs“ in der Politik, sie bringen damit die Führungsriege ihrer Parteien oft zur Verzweiflung – aber es braucht sie, und das weiß auch die Chefetage. Denn sie sind diejenigen, die dafür sorgen, dass sich nicht auch noch der Allerletzte gähnend von der Politik abwendet.

Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass fast jeder zweite Schweizer unzufrieden ist mit der Politik. Diese sei immer weniger in der Lage, die eigentlichen Probleme zu lösen. Angesichts der Tatsache, dass vor den Wahlen alle vier Jahre immer über dieselben Themen gesprochen wird, stimmt das wohl. Aber wenn über die bewussten Probleme nicht einmal offen gesprochen werden kann, wird sich daran auch nichts ändern.

Die „Provokateure“ sind es, die auf Twitter Klartext sprechen

Linken Kräften mag es schon zu weit gehen, wenn die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) derzeit vor einer „Zehn-Millionen-Schweiz“ warnt. Aber selbst diese angeblich populistische Kraft ist mit angezogener Handbremse unterwegs, sobald es darum geht, die Auswirkungen der massiven Zuwanderung anhand konkreter Beispiele aufzuzeigen. Es gilt, einen „Shitstorm“ zu verhindern.

Die Freisinnigen (FDP) möchten die künftige Energieversorgung der Schweiz sicherstellen. Das erreiche man „durch die Stärkung der inländischen Stromproduktion im Sinne der Eigenversorgung“, schwadroniert die Partei in ihrem Positionskatalog. Einfach zu sagen, dass die Schweiz schnellstmöglich neue Atomkraftwerke planen sollte, weil es ohne sie schlicht nicht gehen wird, traut sich die Partei nicht. Das wäre ja schließlich eine konkrete Ansage.

In beiden Fällen müssen die bewussten Agenten der Provokation das erledigen. Sie sind es, die auf Twitter und Co. Klartext sprechen, konkrete Forderungen stellen, negative Beispiele aufzeigen und damit die sperrigen Parteiprogramme ausdeutschen. Sie fungieren als Übersetzer für das allgemeine Volk. Die Konsequenzen dafür baden sie selbst aus. Diese reichen von digitalen Beschimpfungen bis zu Strafanzeigen.

Es gibt die politischen Pole, und das ist auch gut so

Immer mal wieder distanzieren sich Parteifunktionäre deshalb sogar sicherheitshalber von den Klartextrednern in ihren Reihen. Gerade mal so sehr, dass sie selbst als unschuldig gelten, aber der Beschuldigte doch bei der Stange bleibt. Denn es geht nicht ohne ihn. Er ist die Brücke zum Stammtisch, zum ganz normalen Wähler. Er macht die Politik verständlich.

Das Problem ist vor allem bei den bürgerlichen Parteien virulent. Links von der Mitte hat man sehr viel weniger Hemmungen, deutliche Ansagen zu machen. Der Grund ist offensichtlich. Man kommt nicht medial unter die Räder, wenn man die Reichen schröpfen und staatliche Gelder in alle möglichen Richtungen verteilen will. Aber sehr wohl, wenn man das Gegenteil macht.

Es gibt die politischen Pole, und ihre Aufgabe ist durchaus auch die Polarisierung. Sie schafft Klarheit. Viel schlimmer ist es, wenn die Pole beginnen, ihre eigentliche Haltung mit viel Wischiwaschi auszudrücken. Man soll wissen, was man wählt. Nur dann hat man eine echte Wahl.

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Kommentare

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Paul Dornfeld
Vor 1 Jahr 2 Monate

In der NZZ mutmaßt Niall Ferguson, die Schweiz könne Nutzniesser eines neuen kalten Krieges zw. China und den USA sein. Das mag vorstellbar sein, sympathisch ist es nicht. Das bedrohliche Arsenal an Vernichtungsmöglichkeiten, das er schildert, macht uns schaudern, und besorgt um Enkel und nachfolgende Generationen. Ja, kluge, kritische Köpfe tun dringend not.

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Paul Dornfeld
Vor 1 Jahr 2 Monate

In der NZZ mutmaßt Niall Ferguson, die Schweiz könne Nutzniesser eines neuen kalten Krieges zw. China und den USA sein. Das mag vorstellbar sein, sympathisch ist es nicht. Das bedrohliche Arsenal an Vernichtungsmöglichkeiten, das er schildert, macht uns schaudern, und besorgt um Enkel und nachfolgende Generationen. Ja, kluge, kritische Köpfe tun dringend not.