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Kolumne „Kaffeehaus“

Realitätsschock: J. D. Vance und die alten Eliten

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, warnte sinngemäß Gorbatschow im Oktober 1989 die DDR-Eliten. Die DDR-Bürger waren seit Monaten über Ungarn in den Westen geflohen, es gab Demonstrationen auf den Straßen, aber die Staatschefs um Erich Honecker hofften auf Rückendeckung aus Moskau und ein „Weiter so“. Doch ein Zurückbleiben und Festhalten am Alten war nicht mehr möglich. 

Ähnlich wie heute in Europa: Wir sind ökonomisch, militärisch und technologisch zurückgeblieben. Wir sind intellektuell und moralisch bankrott. Wir sind unser eigener Feind geworden. Und in der Tat musste es ein Amerikaner sein, der uns diese bittere Pille verabreichte. Ein Vertreter der Macht, die gemeinsame Werte mit uns teilt und der nicht einfach „gecancelt“ werden kann. Und es musste ein Vertreter aus Donald Trumps Kabinett sein, der des Chauvinismus und der Skandale unverdächtig ist. 

Die Rede des amerikanischen Vizepräsidenten J. D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz ist aus mehreren Gründen ein politisches Erdbeben. Diese Rede stellt nicht nur die aktuellen TV-Wahlkampfdebatten, sondern auch alle strategischen Entscheidungen der vergangenen Jahre in den Schatten. Green Deal, Covid, Ukraine: lange Zeit wurde das öffentliche Narrativ als der einzig mögliche Weg dargestellt. Begriffe wie „Hassrede“ oder „Desinformation“ prägten den politischen Alltag. Nun kommt der amerikanische Vizepräsident daher und erklärt uns, dass wir uns endlich auf unsere Identität, Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit konzentrieren sollten und dass niemand uns retten wird – außer wir selbst. 

Die deutschen Funktionäre sind der Rede nicht gewachsen

J. D. Vance ist ein charmanter, eloquenter und authentisch konservativer Mann und Politiker. Zu Beginn seiner Rede bedankte er sich für die Gelegenheit, auf der Sicherheitskonferenz sprechen zu dürfen, sowie für die Gastfreundschaft und Herzlichkeit der Münchner, denen er nach dem schrecklichen Anschlag – mit inzwischen zwei Toten – sein Beileid aussprach. Das Publikum applaudierte, und Vance ahnte, dass dies der letzte Applaus während seiner Rede sein würde.

 

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Die Gesichter im Publikum sind schnell eingefroren. Nicht alle, denn manche haben die Augen verdreht oder gar zynisch gelacht. Kurios war aber nicht die Rede des US-Vizepräsidenten, sondern vor allem der Kreis der Eingeladenen – die Funktionäre der Bundesrepublik, die einer solchen Rede nicht gewachsen waren und derartige Narrative in der eigenen Bevölkerung ausschalten wollen. Durch die Internet-Zensur, Einseitigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien und nicht zuletzt durch die „Brandmauer“, die man als einen sicheren Schutz vor der Realität aufrechterhalten wollte, sollte ein „Weiter so“ möglich bleiben.

Die Gäste merken: Sie müssen umdenken oder gehören bald zu den Verlierern

Nun wollen ausgerechnet unsere atlantischen Verbündeten nichts mehr von einer „Firewall“, also Brandmauer hören und raten uns nachdrücklich, diese niederzureißen. Es zeigt sich jetzt, dass die „Ewiggestrigen“ womöglich näher an der Zukunft dran sind als jene, die durch die Zugehörigkeit zum Mainstream glänzen wollen. Gerade die Gäste der Münchner Sicherheitskonferenz bezeugen die alte Ordnung, in der Andersdenkende kaum eine Rolle spielen. Und von heute auf morgen repräsentieren sie nicht mehr die Gegenwart, sondern die Vergangenheit und merken vielleicht zum ersten Mal, dass sie entweder dringend umdenken müssen oder bald auf der Verliererseite stehen.

Vance’ Rede kann bereits heute als historisch gelten. Durch den Anlass und den Redner, aber vor allem durch die Kürze und Klarheit lässt sie sich als ein Abschied und ein Abgesang an die alte Weltordnung verstehen. Die ganze Krankheit Europas, aber auch der USA, wurde in einer präzisen Diagnose zusammengefasst: Europa hat sich selbst und seine Wurzeln vergessen. Es hat nicht nur vergessen, was ihm zu seiner Größe und Bedeutung verholfen hat, sondern lehnt es auch aktiv ab. Unsere Freiheit, unsere kulturelle und religiöse Identität und unsere Sicherheit stehen auf dem Spiel, wenn wir die echten Ursachen dieses bedauernswerten Zustandes nicht bekämpfen. Vance:

„Ich sehe hier heute viele, viele großartige Militärführer versammelt. Doch während die Trump-Regierung sich sehr um die Sicherheit Europas sorgt und glaubt, dass wir zu einer vernünftigen Einigung zwischen Russland und der Ukraine kommen können – und wir glauben auch, dass es in den kommenden Jahren wichtig ist, dass Europa sich in großem Umfang für seine eigene Verteidigung einsetzt –, ist die Bedrohung, die mir in Bezug auf Europa am meisten Sorgen bereitet, nicht Russland, nicht China, nicht irgendein anderer externer Akteur. Was mir Sorgen bereitet, ist die Bedrohung von innen. Der Rückzug Europas von einigen seiner grundlegendsten Werte: Werte, die es mit den Vereinigten Staaten von Amerika teilt.“

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Bemerkenswert auch: Wann hat sich ein Redner auf einer Veranstaltung wie der Münchner Sicherheitskonferenz zuletzt pro life bekannt? Der 2019 in die katholische Kirche aufgenommene Vance tat es, indem er ein fürchterliches britisches Gesetz kritisierte, das selbst das stille Gebet rund um Abtreibungseinrichtungen unter Strafe stellt. 

Einen wunden Punkt traf Vance auch, als er die mangelnde Zukunftsvision Europas ansprach. 

„Wie wollen Sie überhaupt anfangen, über die Art der Haushaltsfragen nachzudenken, wenn wir nicht wissen, was wir überhaupt verteidigen? Ich habe in meinen Gesprächen bereits viel gehört, und ich habe viele, viele großartige Gespräche mit vielen Menschen geführt, die hier in diesem Raum versammelt sind. Ich habe viel darüber gehört, wovor Sie sich verteidigen müssen, und das ist natürlich wichtig. Aber was mir und sicherlich vielen Bürgern Europas etwas weniger klar zu sein scheint, ist, wofür genau Sie sich verteidigen. Welche positive Vision steckt hinter diesem gemeinsamen Sicherheitspakt, den wir alle für so wichtig halten?“

You can’t stop the progress!

Doch trotz der schmerzhaften Diagnose war diese Rede beinahe ein Lobgesang auf die echte Demokratie und eine Aufmunterung. Man solle keine Angst haben: vor dem eigenen Volk nicht, vor der Freiheit nicht und schon gar nicht vor der Zukunft. Treu zu seinen Wurzeln soll Europa den Weg nach vorn schreiten, ganz nach dem Motto Johannes Pauls II., den uns ausgerechnet der US-amerikanische Vize als einen der größten Verfechter der wahren Demokratie in Erinnerung gerufen hat.

Für mich als Kind der Samtenen Revolution in der damaligen Tschechoslowakei ist diese Entwicklung persönlich ergreifend. Wieder einmal ändert sich das politische Koordinatensystem fundamental. 

Alte, scheinbar unabänderliche Gewissheiten werden infrage gestellt, und es entsteht Platz für das Neue. Wieder geht es um Meinungsfreiheit gegen alte Eliten, die sich dem Fortschritt entgegenstellen wollen. Und wieder ist der Ausgang absehbar: You can’t stop the progress!

 

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