Kleine begriffliche Volkskunde
Vergangene Woche gab das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) bekannt, dass es mehrere Organisationen des rechten Spektrums, darunter auch die Jugendorganisation der AfD, nun als „gesichert rechtsextremistische Bestrebungen“ einstufe. Vor allem der Begriff des Volkes ist den Entscheidungsträgern ein Dorn im Auge. In einer Pressemitteilung wandte sich Thomas Haldenwang, der Präsident des BfV, vor allem gegen ein „ethnisch-abstammungsmäßiges Volksverständnis“ und die These, „dass es ein deutsches Volk jenseits des im Grundgesetz als der Gesamtheit der deutschen Staatsangehörigen definierten Staatsvolkes gebe“.
Die Rede von einem „ethnisch-abstammungsmäßigen Volksverständnis“ ist ein Pleonasmus. Denn ein Synonym für „Ethnie“ ist schließlich „Volk“, was wiederum heißt, dass die Verfassungsschützer einen volksmäßigen Volksbegriff für illegitim erklärt haben. Über diesen simplen begrifflichen Punkt hinaus drängt sich ein weiterer, schwerwiegender Einwand auf: Der inkriminierte Gedanke, „dass es ein deutsches Volk jenseits […] der Gesamtheit der deutschen Staatsangehörigen“ gibt, findet sich ausdrücklich auch im Grundgesetz.
Dort heißt es in Art 116 (1): „Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.“ Es ist also ausdrücklich von Menschen „deutscher Volkszugehörigkeit“ die Rede, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen (sie heißen im Fachjargon „Statusdeutsche“). Das Grundgesetz selbst müsste demnach als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft werden.
Einen deutschen Pass haben und Deutscher sein ist nicht in jedem Fall dasselbe
Der Volksbegriff ist aber nicht nur in unserem Grundgesetz verankert, sondern auch ein etablierter Grundbegriff der Philosophie, des Völkerrechts und der politischen Praxis – ein paar Beispiele: Johann Gottfried Herder und Georg Wilhelm Friedrich Hegel dachten im Rahmen ihrer politischen Philosophie über die kollektive, geistig-kulturelle Verfasstheit von Völkern nach und sprachen dabei von „Volksgeistern“; das gewohnheitsmäßige Völkerrecht und die UN-Charta zählen die „Selbstbestimmung der Völker“ zu ihren Grundlagen; auf dem Reichstagsgebäude erinnert die Inschrift „Dem deutschen Volke“ (und nicht etwa „Der deutschen Bevölkerung“) die Abgeordneten daran, wem sie in Wahrheit verpflichtet sind.
Auf individueller Ebene kann die Frage, welchem Volk man angehört, von großer persönlicher Bedeutung sein, auch wenn viele Deutsche sich diesem Gedanken heutzutage innerlich verweigern mögen. Gerade für Einwanderer und ihre Kinder liegt die Sache auf der Hand: Einen deutschen Pass haben und Deutscher sein ist nicht in jedem Fall dasselbe.
So ist es zumindest in meinem Fall. Ich bin in Deutschland geboren und auch deutscher Staatsbürger, aber meine Eltern sind aus Ungarn in dieses Land gekommen (und zwar als Ungarn und nicht als deutsche Spätaussiedler). Das taten sie zwar mit allergrößtem Assimilationswillen – der Familienname etwa wurde umgehend eingedeutscht –, jedoch ändert das nichts daran, dass ich von mir weiß: Ich bin anders Deutscher, weil ich eben auch Ungar bin. Für meine Kinder, Enkel und Urenkel wird dies vermutlich einmal anders sein, insofern ihre ungarische Abstammung immer mehr in den Hintergrund, die deutsche Identität dagegen in den Vordergrund treten wird.
An seinen Rändern ist der Volksbegriff zwangsläufig unscharf
Schon an diesen ersten, einfachen Überlegungen zeigt sich, dass die Frage der Volkszugehörigkeit selbstredend keine rein abstammungsmäßige ist, sondern die willentliche Selbstidentifikation, vor allem in Form von Sprach-, Kultur- und Brauchtumspflege, miteinschließt. Der Begriff „Volk“ bezeichnet offenbar einen komplexen, historischen Zusammenhang, in dem abstammungsmäßige, kulturelle, geistige, rechtliche und politische Aspekte zusammenspielen. An seinen Rändern ist der Volksbegriff daher zwangsläufig unscharf.
Das allerdings heißt nicht, dass es keine Völker gibt und sich der Begriff des Volkes auf den legalistisch-geographischen Begriff der Bevölkerung reduzieren ließe. Durch eine solche falsche Schlussfolgerung würde man das Kind mit dem Bade ausschütten. Die unauflösliche Komplexität, die zu einer Sache – hier: dem Begriff des Volkes – gehört, nicht ertragen zu können und sie daher in Bausch und Bogen zu verwerfen, das freilich ist Ausdruck einer extremistischen Haltung, von der wir alle Abstand nehmen sollten.
Konzeptuell spricht auch in der Grundgesetzpräambel das deutsche Volk. Damit es sich selbst ein Grundgesetz geben kann, muss es aber diesem Grundgesetz zeitlich vorausgehen. Würde man dem Verfassungsschutz folgen, so dürfte man auch Goethe keinen deutschen Dichter nennen.
Konzeptuell spricht auch in der Grundgesetzpräambel das deutsche Volk. Damit es sich selbst ein Grundgesetz geben kann, muss es aber diesem Grundgesetz zeitlich vorausgehen. Würde man dem Verfassungsschutz folgen, so dürfte man auch Goethe keinen deutschen Dichter nennen.