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Soziale Marktwirtschaft weiterentwickeln

Für eine leistungsgemeinschaftliche Ordnung

Der folgende Text ist kein Plädoyer für Wohlfahrtsstaat, Planwirtschaft oder Sozialismus. Er plädiert allerdings dafür, dass sowohl die real existierende soziale Marktwirtschaft wie auch die soziale Marktwirtschaft der neoliberalen Theorie aus christlicher und selbst noch aus konservativer Perspektive defizitär ist und zeigt einen Weg auf, dieses Defizit zu beheben.

Ein Neoliberaler wie Wilhelm Röpke erkannte ganz klar:

„Die Gesellschaft als Ganzes kann nicht auf dem Gesetz von Angebot und Nachfrage aufgebaut werden […]. Menschen, die auf dem Markte sich miteinander im Wettbewerb messen und dort auf ihren Vorteil ausgehen, müssen umso stärker durch die sozialen und moralischen Bande der Gemeinschaft verbunden sein, anderenfalls auch der Wettbewerb aufs schwerste entartet. So wiederhole ich: die Marktwirtschaft ist nicht alles. Sie muss in einen höheren Gesamtzusammenhang eingebettet sein.“

(Wilhelm Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage; 5. Aufl., Bern und Stuttgart 1979, S. 146)

Die Frage ist: Worin besteht dieser höhere Gesamtzusammenhang? Christen mögen intuitiv antworten, dieser sei der Glaube, in dem alles auf Gott hingeordnet würde. Allein: Menschen sind keine Engel, sie sind keine reinen Geistwesen. Der Glaube ist tot ohne Werke, und es gibt im Zusammenleben der Menschen keinen höheren Gesamtzusammenhang, wenn sich dieser nicht in der einen oder anderen Form institutionalisiert. Katholiken sind sich vielleicht bewusster als andere Christen, dass der Mensch als ein leibliches Wesen einer Form von Institutionalisierung bedarf.

Ohne diese Institutionalisierung sind die Menschen nur eine Ansammlung von Individuen, die sich auf dem Markt punktuell als Käufer und Verkäufer, Arbeitgeber und Arbeitnehmer begegnen, jeder darauf ausgerichtet, seinen eigenen Vorteil zu maximieren und ohne tiefere Bindung zueinander. Woher sollte diese Bindung auch kommen? Freiheit ist ein hohes Gut, aber ohne Einbettung wird sie zum Fetisch. Das mag liberal sein. Christlich, oder auch nur konservativ, ist das nicht.

Unsichtbar bleiben die Gemeinschaften zwischen Individuum und Staat

Die soziale Marktwirtschaft beantwortet die Frage nach dem höheren Gesamtzusammenhang auf eine sehr spezielle und, wie sich zeigen wird, nicht die einzig mögliche Weise.

Die soziale Marktwirtschaft baut auf der Polarität von Staat und Markt, von Staat und Individuum auf, wobei es hierbei der Staat ist, der für den höheren Gesamtzusammenhang verantwortlich zeichnet. Das Individuum wirtschaftet auf dem Markt, und der Staat sorgt für sozialen Ausgleich, indem er das Erwirtschaftete im Anschluss umverteilt; im neoliberalen Modell etwas weniger, im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat sehr umfassend.

Was in diesem Modell unsichtbar bleibt, ist die Gesellschaft, sind die Gemeinschaften zwischen Individuum und Staat, angefangen bei Ehe und Familie.

Infolge ist das, was heute von unserer Zivilgesellschaft noch übrigbleibt, in weiten Teilen ein Witz: zum Teil pressure groups, deren einzige Zielsetzung darin besteht, den Staat dazu zu bringen, in ihrem Sinne aktiv zu werden; zum Teil der am Steuerzahlertropf hängende verlängerte Arm desselben Staates. In beiden Fällen fehlt es an der nötigen Distanz zum Staat.

Demokratietheoretisch bedenkliche Konsequenzen

Gleichzeitig hat dieser Staat in Ermangelung gesellschaftlicher Gegengewichte immer mehr Kompetenzen an sich gezogen und sieht sich als allzuständig an. Dies geht dann so weit, dass er sich nicht darauf beschränkt, wie das Grundgesetz es von ihm verlangt, Ehe und Familie zu schützen, sondern sich anmaßt, sie zu definieren.

Das hat durchaus auch demokratietheoretisch bedenkliche Konsequenzen. Gewählte Volksvertreter haben über komplexe Sachverhalte in einer Vielzahl von Feldern zu entscheiden, die sie unmöglich zu überblicken im Stande sind. Auf diese Weise wächst ihre Abhängigkeit von der Expertise einer sich so verselbstständigenden Verwaltung sowie der eben erwähnten pressure groups. Besonders beklagt wird dieses Phänomen auf der Ebene der EU, doch sicher ist es nicht auf diese beschränkt. Dies begünstigt eine gegen das System der repräsentativen Demokratie gerichtete Haltung, wie sie der Ausspruch verdeutlicht „Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten.“

In den USA hat sich die dortige politische Rechte daher schon seit langem die Demontage des administrativen beziehungsweise „tiefen“ Staates zum Ziel gesetzt. Allerdings hat ihr libertärer Individualismus zur Folge, dass an dessen Stelle am Ende nicht die Gesellschaft und die sie bildenden Gemeinschaften, sondern die Wirtschaft in Form der Konzerne treten dürfte. Sicher auch ein Grund, weshalb Unternehmer wie Elon Musk oder Peter Thiel ihr Herz für Donald Trump entdeckt haben.

Wirtschaften ist auch Dienst am Gemeinwohl

So gesehen bedeutet soziale Marktwirtschaft Atomisierung und Entwurzelung („Autonomie“, „Selbstbestimmung“) des Individuums bei gleichzeitiger Allzuständigkeit des Staates. Beides zusammen ergibt dann unter anderem die „Ehe für alle“.

Dass es so nicht sein muss, zeigt ein Blick in das Deutschland der 1950er Jahre. In der damaligen Diskussion um die künftige Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik traten katholische Sozialethiker wie Pater Oswald von Nell-Breuning (1890-1991) für eine leistungsgemeinschaftliche Ordnung ein. Was ist damit gemeint? Nun, nicht die Absage an die Marktwirtschaft, aber sehr wohl deren soziale Einbettung, wobei „sozial“ hier tatsächlich gesellschaftlich meint und nicht staatlich.

 

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Die Idee: Wirtschaft bedeutet eben nicht nur individuelles Profitstreben, sondern vor allem das Erfüllen einer sozialen Funktion zugunsten der Allgemeinheit, Dienst am Gemeinwohl. Alle, die in einem bestimmten Wirtschaftsbereich tätig sind, sind miteinander verbunden durch ihr Hinwirken auf die Verwirklichung eines bestimmten gesellschaftlichen Teilziels, sei es etwa die Lebensmittel- oder die Gesundheitsversorgung, das Versicherungswesen, die IT-Wirtschaft oder das Medien- und Verlagswesen. Sie bilden faktisch eine Leistungsgemeinschaft, ohne dass heute diese Leistungsgemeinschaft aber als solche institutionalisiert und so objektiv handlungsfähig und subjektiv erfahrbar wäre.

Mitbestimmen bei alldem, woran einer beteiligt ist

Handlungsfähig – wozu? Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass es jedweder Gemeinschaft von Natur aus – das heißt nicht erst durch staatliche Beauftragung – zusteht, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln. Aufgabe des Staates ist es lediglich sicherzustellen, dass dies nicht im Widerspruch zum Gemeinwohl geschieht und wo nötig seine Unterstützung anzubieten.

Leistungsgemeinschaftliche Ordnung bedeutet nun, dass die verschiedenen faktisch ohnehin existierenden Leistungsgemeinschaften auch organisatorisch und rechtlich zu Leistungsgemeinschaften im Sinne von Körperschaften des öffentlichen Rechtes werden, die ihre eigenen Angelegenheiten tatsächlich selbst regeln, das heißt anstatt, dass der Staat es für sie tut.

Von Nell-Breuning sprach hier von einer realen Demokratie, „in der ein jeder mitzusprechen und mitzubestimmen hat bei all den Dingen, an denen er beteiligt und folgerecht interessiert ist und von denen er in aller Regel auch etwas verstehen kann und verstehen wird“ im Gegensatz zur formalen Demokratie, die wie folgt charakterisiert ist: „das aus demokratischen Wahlen hervorgegangene Parlament verfügt über unumschränkte Souveränität, spricht in ausnahmslos allen Dingen das erste und letzte Wort.“ (Diese und sämtliche folgenden Zitate aus Oswald von Nell-Breuning, Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 1 Grundfragen, Verlag Herder, Freiburg 1956.)

Die Leistungsgemeinschaften machen lokal, was lokal gemacht werden kann

Zusätzlich heißt es, dass, was lokal gemacht werden kann, lokal gemacht wird; wofür es überregionale, nationale oder supranationale Kooperation braucht, findet dies auf der entsprechenden Ebene statt – aber immer im Rahmen der Leistungsgemeinschaften, nicht auf staatlicher oder Regierungsebene. Von Nell-Breuning und andere sprechen hier von einem sozialen beziehungsweise organischen Pluralismus im Unterschied zum in Marketingabteilungen und Redaktionsbüros geborenen Lifestyle- und Pseudo-Pluralismus unserer Tage.

So ließe sich auch der alte Vorwurf beseitigen, die EU sei bürgerfern und habe ein Demokratieproblem.

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Die Leistungsgemeinschaften müssten sich selbst demokratisch organisieren. Darüber hinaus wären sie hinsichtlich ihres Aufbaues völlig frei. Mitglied der Leistungsgemeinschaften sind nicht die Betriebe einer Branche, sondern alle in einer Branche Tätigen, seien es nun Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, Vorstandsvorsitzende oder Hausmeister. Dass etwa in einer Leistungsgemeinschaft Gesundheit der Stimme eines Arztes dabei in den meisten Fragen ein größeres Gewicht zukäme als dem Hausmeister im Krankenhaus, liegt in der Natur der Sache.

Zusammenwirken zum Wohle einer übergeordneten Sache

Worauf es ankommt, ist das Zusammenwirken zum Wohle einer übergeordneten Sache, sei es etwa der Lebensmittel- oder der Gesundheitsversorgung. Wer sich auf dem Markt als Arbeitgeber und Arbeitnehmer oder als Konkurrenten gegenübersteht, dient in der Leistungsgemeinschaft zusammen als Personen dem Gemeinwohl.

Was fiele in die Zuständigkeit der Leistungsgemeinschaften? Pauschal lässt sich das nicht sagen. Von Nell-Breuning beschrieb – vor dem Hintergrund der 1950er Jahre – die Zuständigkeiten einer Leistungsgemeinschaft Landwirtschaft wie folgt:

Sie ist Trägerin des Vermessungswesens, der Boden- und Betriebsbewertung als Grundlage der landwirtschaftlichen Betriebsführung wie auch der Besteuerung, Trägerin des gesamten landwirtschaftlichen Schul- und Hochschulwesens, der Betriebsberatung der Landwirte; sie unterhält Buchstellen, die namentlich für die kleineren Landwirte die Buchführung besorgen und die Ergebnisse der Buchführung für diese auswerten; sie unterhält die Gestüte und Bullenstationen und führt die Zuchtregister; sie unterhält Forschungs- und Prüfungsanstalten zur Begutachtung und Anerkennung von Saatgut und Düngemitteln, bei ihr liegt das Veterinärwesen, die Bekämpfung der Tierseuchen und Pflanzenschädlinge. Nach Bedarf regt sie an zur Gründung von Bezugs- und Absatzgenossenschaften, von Einrichtungen zur Pflege des ländlichen Personal- und Realkredits, führt Flurbereinigungen durch und übernimmt die Führung bei größeren Unternehmungen des Wegebaus, der Be- und Entwässerung usw. Sie regelt die Zusammenarbeit der Landwirtschaft mit den anderen Berufsständen oder Leistungsgemeinschaften, aber auch mit der Landwirtschaft anderer Länder; sie vertritt die Landwirtschaft gegenüber den Staatsbehörden und nimmt entgegen, was diese von der Landwirtschaft erwarten oder begehren. – Von besonderer Bedeutung sind die sozialpolitischen Aufgaben. Nicht bloß die heute schon berufsgenossenschaftliche Unfallversicherung, sondern die gesamte Sozialversicherung geht an die berufsständische Zuständigkeit über. Die Regelung der Arbeitsbedingungen und die Ausbildung des Nachwuchses sind die wichtigsten Gemeinschaftsaufgaben unter allen. An zweiter Stelle steht das rechte Zusammenwirken der verschiedenen Größen und Arten von Betrieben: Groß-, Mittel- und Kleinbetriebe; Ackerbau, Viehzucht, Weinbau, Obst- und andere Spezialkulturen.“

Wer das nun weiterspinnt und gedanklich auf alle übrigen Wirtschaftssektoren ausweitet – sowie auf die nicht-wirtschaftlichen Leistungsgemeinschaften wie Wissenschaft und Forschung oder Bildung und Erziehung, zu der im Übrigen auch die Eltern gehören würden –, wird schnell erkennen, dass ein Großteil dessen, was heute der Staat macht und Politik ist, eigentlich Aufgabe der Gesellschaft und der sie bildenden Gemeinschaften ist. Was bliebe dann noch Aufgabe des Staates?

Der Staat nur noch als Schiedsrichter

Festzulegen, was in einer gegebenen Situation das Gemeinwohl erfordert. Das ist meist wesentlich weniger kontrovers, als es zunächst den Anschein hat. Dass nach der Wiedervereinigung der Wiederaufbau der neuen Bundesländer eine dringende Erfordernis des Gemeinwohls war, war kein Aufregerthema. Was dagegen diskutiert wurde, war das „Wie“ des Wiederaufbaus. Das gleiche gilt für die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit Mitte der 1990er-Jahre.

Auch die Diskussion um den Klimaschutz ließe sich wohl entschärfen, wenn sich der Staat auf die Vorgabe des Ziels der Klimaneutralität beschränken würde und es ansonsten der Kreativität der Leistungsgemeinschaften überließe, wie dieses Ziel am besten zu erreichen sei.

Doch auch wenn nicht: Die Frage danach, welche Ziele zur Verwirklichung des Gemeinwohls in einer konkreten Situation zu verwirklichen sind und nach der rechten Reihenfolge der Prioritäten ist die genuin politische Frage, um die politische Parteien zu ringen haben. Das Mikromanagement der Gesellschaft ist nicht ihre Aufgabe. So ist die leistungsgemeinschaftlich geordnete Gesellschaft die in Wahrheit freiheitliche – und zugleich verbundene – Gesellschaft.

Alternative aus wahrhaft christlichem Geist

Die leistungsgemeinschaftliche Ordnung zielt also nicht auf die Beseitigung der sozialen Marktwirtschaft als solcher, sondern auf die Beseitigung eines ihr inhärenten Defizits, indem zwischen Staat und Markt die Gesellschaft, zwischen Staat und Individuum die Gemeinschaften als handelnde Akteure zu ihrem Recht kommen.

Sicher, realistisch ist das alles auf kurze Sicht nicht. Worum es geht, ist deutlich zu machen, dass Konservative und Christen keinen Grund haben, die real existierende soziale Marktwirtschaft oder aber die neoliberale Theorie der sozialen Marktwirtschaft zum Idol zu erheben und Neo- und Wirtschaftsliberalismus wesentlich anders zu beurteilen als den Links- und Sozialliberalismus. Beide haben dieselbe Wurzel und wirken einander verstärkend. Gott sei Dank gibt es eine Alternative aus wahrhaft christlichem Geist.

 

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