„Eine größere Kinderfreundlichkeit in der Gesellschaft wäre ein Weg“
Ost- und Westdeutschland haben sich mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung in vielen Punkten zwar etwas angeglichen, aber in Sachen Demographie klafft eine große Lücke. Viele junge Menschen verließen die Länder der ehemaligen DDR, die Alterung schreitet entsprechend schneller voran. Bevölkerungswissenschaftler und Volkswirte warnen inzwischen seit Jahrzehnten vor den Folgen des demographischen Wandels. Immer wieder gibt es auch neue Erkenntnisse. Die 32-jährige Volkswirtin Katharina Heisig von der Dresdner Niederlassung des ifo Instituts hat vor kurzem zusammen mit ihrem Kollegen Marius Kröper eine neue Studie mit dem Titel „Was Ersteltern von Personen ohne Kinder in Ostdeutschland unterscheidet“ publiziert. Corrigenda hat mit der jungen Wissenschaftlerin über ihre Ergebnisse gesprochen.
Das Thema Demographie ist in der Öffentlichkeit in den vergangenen Jahrzehnten sehr stiefmütterlich behandelt worden. Sie forschen dazu. Was ist Ihr Antrieb, was fasziniert Sie an dem Thema?
Mein Eindruck ist, dass das Interesse an diesem Thema sehr groß ist, gerade in Ostdeutschland, wo der demographische Wandel zeitiger einsetzte und schneller voranschreitet als in Westdeutschland. In der breiten Öffentlichkeit wird das Problem der zurückgehenden Geburtenzahlen oft vorwiegend den Frauen angehangen, die lieber Karriere machen, als Kinder kriegen wollen. Dass die Entscheidung für Kinder aber auf vielschichtige und individuelle Gründe von Einzelpersonen und Paaren zurückzuführen sind, gerät dabei oft in Vergessenheit. Das ist auch einer der Gründe für mich, zum Thema Demographie zu forschen.
„Aktuell bleibt die Geburtenziffer in den ostdeutschen Ländern zurück“
Wie steht es um die Bevölkerungsentwicklung in Ostdeutschland, können Sie ein paar Kennzahlen nennen?
2015 ist die zusammengefasste Geburtenziffer erstmalig seit den 1990er Jahren, und für Westdeutschland seit den 70er Jahren, wieder auf über 1,5 Kinder pro Frau gestiegen. Aktuell bleibt die zusammengefasste Geburtenziffer in den ostdeutschen Ländern allerdings hinter der westdeutschen Geburtenziffer zurück und liegt bei rund 1,5 Kindern pro Frau. Für Westdeutschland gab es im Jahr 2021 immerhin nochmals einen geringen Anstieg auf circa 1,6 Kinder pro Frau. Einen ähnlichen Anstieg gibt es für Ostdeutschland nicht.
Sie haben nun zusammen mit Ihrem Kollegen Marius Kröper einen Aufsatz über Menschen mit und ohne Kinder in den östlichen Bundesländern veröffentlicht. Titel: „Was Ersteltern von Personen ohne Kinder in Ostdeutschland unterscheidet“. Darin unterscheiden Sie zwischen soziodemographischen und ökonomischen Faktoren einerseits und subjektiven Faktoren andererseits. Welche sind relevanter?
Wir zeigen in dieser Untersuchung, dass sowohl soziodemographische und ökonomische als auch subjektive Einflussfaktoren relevant für Familiengründungen in Ostdeutschland sind. Vor allem scheint wichtig zu sein, wie hoch der Stellenwert von Hobbies, Freunden und dem Beruf ist. Der Einfluss einer Partnerschaft oder Ehe ist ähnlich bedeutsam wie der Einfluss von Arbeitslosigkeit. Auch begünstigen ein großer Anteil an Personen mit Kindern im Freundes- und Bekanntenkreis eine hohe ideale Kinderzahl und ein hohes Bildungsniveau Familiengründungen. Wir betrachten noch einige weitere Faktoren, aber die genannten scheinen am bedeutsamsten zu sein.
Moment, ein hohes Bildungsniveau begünstigt Familiengründungen? Das Klischee lautet anders.
Dieses Ergebnis steht durchaus dem gängigen Klischee gegenüber, dass gut gebildete Frauen lieber kinderlos bleiben und niedrig gebildete Frauen viele Kinder bekommen. Das Klischee entspringt aber eher dem traditionell geprägten Frauenbild. Im Kontext von Ländern mit weniger traditionellen Rollenvorstellungen, wie den nordeuropäischen Ländern, aber auch in Ostdeutschland, ist dies tatsächlich anders. Hier zeigt sich ein umgekehrtes Bild. Neben unserer Studie gibt es noch einige weitere, die diesen umgekehrten Effekt zeigen.
Kann man die Ergebnisse auch auf Westdeutschland projizieren?
Ob diese Ergebnisse auf Westdeutschland übertragbar sind, können wir nicht sagen. Ein Nachteil unserer Studie ist zum Beispiel die relativ kleine Stichprobengröße und dass wir den Einfluss der Verfügbarkeit von Kinderbetreuung nicht ausreichend untersuchen konnten. Da die öffentlich finanzierte Kindertagesbetreuungslandschaft in Ostdeutschland allerdings sehr gut ausgebaut ist, würden wir eher erwarten, dass dieser Einflussfaktor für Ostdeutschland weniger wichtig ist – anders sieht das aber für Westdeutschland aus.
Ersteltern bewerten Hobbies, Freunde und Beruf als weniger wichtig als Kinderlose. Sind Eltern aufopferungsvoller, selbstloser, weniger egoistisch?
Da wir versuchen, den kausalen Einfluss eines Faktors auf die Wahrscheinlichkeit, Eltern zu werden, zu bestimmen, betrachten wir die für uns interessanten Faktoren, wie die Wichtigkeit von Hobbies, Freunden und Beruf vor der Geburt des ersten Kindes. Den Schluss, dass Eltern selbstloser sind, können wir aus unserer Studie daher nicht ziehen.
Zur Person Katharina Heisig
Katharina Heisig hat an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Wirtschaftswissenschaften und Japanologie im Bachelor, und Volkswirtschaftslehre im Master studiert. Seit 2016 ist sie Volkswirtin an der Dresdner Niederlassung des ifo Instituts und promoviert an der TU Dresden zu Themen der Familienökonomik und frühkindlichen Bildung.
Menschen, die schon Kinder haben, geben eine höhere ideale Kinderzahl an als solche, die nicht Eltern sind. Außerdem haben Eltern zuvor öfter mit Freunden und Bekannten zu tun gehabt, die Kinder haben. Könnte man diese Erkenntnisse auf die Formel bringen: Kinder befördern den Kinderwunsch?
Was wir aus unseren Ergebnissen schließen können, ist, dass (noch kinderlose) Menschen mit einer höheren idealen Kinderzahl auch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine Familie gründen werden. Unsere Ergebnisse bestätigen auch, dass Personen, die noch keine Kinder, aber mehr Kontaktmöglichkeiten zu Kindern im Freundes- und Bekanntenkreis haben, tatsächlich mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Kinder bekommen.
„Feste Partnerschaften oder Ehen sind grundlegende Basis für Familiengründungen“
Sie haben sowohl einen Zusammenhang zwischen einer festen Partnerschaft als auch Berufstätigkeit und Familiengründungen festgestellt. Befördert der bürgerlich-konservative Lebensentwurf Familiengründungen?
Auch gegenwärtig sind feste Partnerschaften oder Ehen die grundlegende Basis für mehr als neun von zehn Familiengründungen in Ostdeutschland. Dies zeigt, dass die meisten Kinder in bestehende Partnerschaften hineingeboren werden. Unsere Studie kann allerdings keine Hinweise auf die Förderlichkeit eines bürgerlich-konservativen Lebensentwurfs für Familiengründungen in Hinblick auf ein traditionelles Familienmodell geben, da es in unserer Stichprobe für Ostdeutschland nur eine einzige Hausfrau unter rund 640 betrachteten Personen gibt.
Die Ergebnisse zeigen, dass, unabhängig vom Geschlecht, eine Berufstätigkeit im Vergleich zur Arbeitslosigkeit zu einer geringeren Wahrscheinlichkeit für Familiengründungen führt. Temporäre Phasen der Arbeitslosigkeit scheinen demnach für Familiengründungen genutzt zu werden, da in dieser Zeit kein Ausstieg aus dem Job notwendig ist und Einkommenseinbußen die Folge sind.
Und was bedeutet das dann für eine Politik, die an einer höheren Geburtenrate interessiert ist?
Aus unserer Studie können wir schließen, dass die Lebensbereiche Hobbies, Freunde und Beruf dem Lebensbereich Familie und Kinder entgegengesetzt wahrgenommen werden, und auch, dass wahrgenommene Kosten von Kindern eine Rolle spielen. Dies liegt zum einen an der immer noch mangelhaften Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mütter wie für Väter, aber auch an einer anscheinend mangelnden Vereinbarkeit von Hobbies und Freunden mit Familie und Kindern. Oftmals führt letzteres dazu, dass sich Personen mit Kindern stärker an Personen orientieren, die selbst Kinder haben, und bisherige, möglicherweise noch kinderlose Freunde weniger treffen als vorher aufgrund der wahrgenommenen „Parallelwelten“.
Auch wenn diese persönlichen Entscheidungen nicht von der Politik beeinflussbar sind, gibt es doch gewisse Ansatzpunkte. Wir denken, dass eine größere Kinderfreundlichkeit im Alltag und Beruf der Schlüssel sein könnte, um die „Parallelwelten“ Familie und Beruf, aber oft auch Hobbies und Beruf, aneinander anzunähern. Kinderspielecken oder -betreuung in Shopping-Malls sind teilweise ja bereits vorhanden, könnten aber noch stärker ausgebaut werden. Denkbar wären solche Dinge auch in Fitnesscentern oder zum Beispiel Kletterhallen. Natürlich ist das dann wiederum eine Frage des Personalmangels, ob Einrichtungen so etwas umsetzen können.
„Kosten werden stärker offengelegt als Gewinne“
Und hinsichtlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf?
Besonders essenziell sind familienorientierte Angebote und eine solche Kultur in Unternehmen, oder beispielsweise auch Hotels und Restaurants. Unternehmen könnten Familienarbeitszimmer oder, je nach Größe, Kitas einrichten und Arbeitszeiten und -orte wesentlich flexibler gestalten. Führungskräfte sollten Väter ermutigen, reichlich Elternzeit zu nehmen, anstatt sie daran zu hindern. Dass manche Frauen nach der Geburt eines Kindes gekündigt werden oder unfreiwillig auf eine andere Stelle mit zum Beispiel geringerem Verdienst oder geringerer Verantwortung verschoben werden, sollte eigentlich nicht passieren.
Der Kulturwandel ist zwar mancherorts auf dem Papier zu finden, wird aber nicht gelebt. Auch Werbung für Fachkräfte und Tourismus könnte familien- bzw. kinderfreundlicher sein. Für den Abbau der wahrgenommenen Kosten von Kindern, die bei Frauen stärker sind, ist beispielsweise die Förderung der Väterbeteiligung an Kindererziehung und Hausarbeit essenziell. Wenn Arbeitsplatz und Freizeitumgebung kinderfreundlicher wären, wäre das dann wiederum für noch kinderlose Personen eine Möglichkeit, positivere Erfahrungen in Hinblick auf Kinder zu sammeln. Von Kindern umgeben zu sein wird dadurch ja erst zur Normalität.
Diese Hürden der Unvereinbarkeit, insbesondere von Familie und Beruf, sind nicht umsonst eines der größten Hindernisse, eine Familie zu gründen. Wir glauben, dass hierin durchaus Potenzial liegt, den Bevölkerungsrückgang nicht nur in Ostdeutschland abzumildern.
Ihre Daten zeigen, dass es einen signifikanten Unterschied hinsichtlich der Kostenwahrnehmung von Kindern gibt: Mütter sehen die Kosten von Kindern als weit geringer an als Frauen ohne Nachwuchs. Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Herrscht in der Gesellschaft eine falsche Wahrnehmung von Elternschaft, zumindest was die Kosten anbelangt?
Hier ist wieder wichtig zu berücksichtigen, dass wir die wahrgenommenen Kosten vor der Geburt des Kindes betrachten, und dass dies lediglich Mittelwertvergleiche sind, die verzerrt sein können. Zum einen könnte sein, dass die Kosten einer potenziellen Elternschaft von allen Frauen wahrgenommen werden, die Gewinne durch Elternschaft, also die Erwartung an die gemeinsame Zeit mit den Kindern, dann aber nur von Frauen mit Nachwuchs erlebt wird. Letzteres könnte die wahrgenommenen Kosten teilweise aufwiegen und dazu führen, dass die Kosten als weniger drastisch empfunden werden oder zum entsprechenden Zeitpunkt eine untergeordnete Rolle spielen.
Zudem ist ein Großteil der befragten Frauen, die wir als Erstmütter definieren, zum Zeitpunkt der Fragestellung mit ihrem ersten Kind schwanger. In den meisten Fällen haben sie sich bewusst für eine Elternschaft entschieden und empfinden die Schwangerschaft möglicherweise und bestenfalls als eine glückliche Zeit voller Erwartungen. Diese Gruppe befindet sich teilweise sogar bereits in Mutterschutz, wohingegen als noch kinderlos definierte Frauen im normalen Berufs-, Ausbildungs- und Alltagsleben stehen und für die keine Auszeit bevorsteht. Es gibt also viele mögliche Ursachen für die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen.
Die Kosten von Elternschaft werden in der gesamtgesellschaftlichen Debatte vermutlich im Rahmen der notwendigen Diskussion um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf viel stärker offengelegt, wohingegen Gewinne durch eine Elternschaft für kinderlose Personen weniger greifbar sind. Auch hier wären eine größere Kinderfreundlichkeit und damit auch Kinderpräsenz in der Gesellschaft ein möglicher Weg, die Gewinne durch Elternschaft für alle stärker zu betonen.
Unglaublich spannendes Interview! Danke, Corrigenda!
Der Westen hat den Ostdeutschen jegliche Lebens- und Manneskraft ausgesaugt. Viele sind abgewandert, die anderen sind deprimiert, in Agonie. Deshalb auch die wenigen Familiengründungen.
Wer will ob dieser Zustände heute noch Kinder in die Welt setzen?
Unglaublich spannendes Interview! Danke, Corrigenda!
Der Westen hat den Ostdeutschen jegliche Lebens- und Manneskraft ausgesaugt. Viele sind abgewandert, die anderen sind deprimiert, in Agonie. Deshalb auch die wenigen Familiengründungen.
Wer will ob dieser Zustände heute noch Kinder in die Welt setzen?