Transzendentalismus: Ein politisches Programm
Der moderne Konservatismus scheint gegenwärtig recht verloren; und zwar nicht so sehr, was sein konkretes Grundlagenprogramm angeht, sondern vielmehr, was dessen ultimative Begründung betrifft. Anders ausgedrückt: Der sogenannte Konservative hat zwar immer noch ein gewisses Gespür für das, was richtig und wahr ist, aber er vermag nicht mehr, es auch stringent zu begründen, und wendet sich daher Argumentationslinien zu, die für seine Absicht nicht oder doch nur sehr indirekt geeignet sind, indem er teils auf das „Gemeinwohl“ verweist (wie der soziale Patriotismus), teils sich auf die „individuelle Freiheit“ beruft (wie die liberalen oder libertären Konservativen).
Nun ist freilich weder an Gemeinschaft noch an Freiheit etwas auszusetzen; absolut gesetzt führen sie allerdings genau dahin, wovor der Konservative (zu Recht) einen heiligen Schrecken empfindet: in den Materialismus der Moderne, sei er nun kollektivistisch oder eben hochkapitalistisch angelegt – zwei Tendenzen, die ohnehin gegenwärtig im Milliardärssozialismus zu verschmelzen beginnen.
Auch der Konservative spürt dieses Problem, weshalb er seinen Ansatz durch entsprechende Beiworte wie „Patriotismus“ oder „liberaler“ Konservatismus einzuhegen versucht; allein ist dies gleichzeitig auch ein Eingeständnis des Scheiterns, zu dem hinzukommt, dass das entsprechende Beiwort nicht direkt aus dem ursprünglichen Konzept entwickelt werden kann, sondern irgendwie „von außen“ kommen muss – eine konzeptuell überaus unbefriedigende Hybridität.
Die absolute Priorität der Transzendenz
Denn auf die Frage, wieso der Sozialismus durch patriotische Solidarität auf die Nation bezogen werden soll, oder wieso der Liberalismus durch konservative Werte gebändigt werden müsse, weiß der moderne Konservative nur rein pragmatisch-utilitaristische Antworten, die eher empirischer als absoluter Natur sind und obendrein völlig epochenspezifisch ausfallen; die wahre Erklärung scheint ihm nicht zugänglich.
Und doch liegt sie auf der Hand: das Wissen um die absolute Priorität der Transzendenz. Was bedeutet das? Transzendenz, also das höchste Einssein und damit auch Wahrheit, Schönheit und Güte, wurde von den Menschen im Laufe der Geschichte in den unterschiedlichsten Facetten empfunden, wahrgenommen und verehrt. Und obwohl die dogmatischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Religionen oft beträchtlich sind und keineswegs bagatellisiert oder gar zugunsten einer Art vagen körperlosen Theismus aufgegeben werden sollen, sind die drei Konsequenzen der Anerkennung der Transzendenz zu allen Zeiten und Orten relativ ähnlich.
- Erstens, die Überzeugung, dass diese transzendente Wesenheit (die wir auch Gott nennen) nicht etwa in der geschaffenen Welt aufgeht, sondern ihr übergeordnet ist und folglich von allen begrenzenden Zwängen wie Zeit oder Raum befreit ist.
- Zweitens, die Vorstellung von der Welt als einer göttlichen Schöpfung und damit zumindest teilweise als Spiegel eines bestimmten Plans, der mit der Schönheit, der Güte und der Wahrheit der Gottheit übereinstimmt.
- Drittens, die Folgerung, dass jener Teil unserer menschlichen Existenz, der fähig ist, das Transzendente zu erkennen und sich ihm zu nähern, von derselben tieferen Essenz sein muss wie dieses und daher in gewissem Maße an dessen unsterblichen Eigenschaften teilhaben muss – daher die Vorstellung von der Existenz einer Seele, durch die das Geschöpf nach Abschluss seines irdischen Lebens zur bewussten Vereinigung mit seinem Schöpfer zurückkehrt.
Wer nun diese drei Axiome zugunsten eines reinen Materialismus ablehnt, trifft nicht nur eine einfache Wahl zwischen verschiedenen Varianten „privater spiritueller Überzeugungen“, sondern beraubt sich unwissentlich (oder freiwillig) des edelsten Teils seiner Existenz, der im Übrigen der Grundstein jeder menschlichen Zivilisation ist, die diesen Namen verdient.
> Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge.
Das Christentum ist der abendländische Weg
Seit weit über einem Jahrtausend ist es nun das Christentum, das für den abendländischen Menschen nach dem Untergang der griechisch-römischen Zivilisation den bevorzugten Weg darstellt, um die Transzendenz zu verstehen, zu verehren und zu erreichen. Die Liebe zu einem persönlichen Gott, der Glaube an seine Inkarnation und sein Leiden, der heilbringende Charakter der hl. Messe, die Einsicht in die Begrenztheit des Menschen aufgrund seiner Sündenanfälligkeit, die Unsterblichkeit der Seele, die Bedeutung der Nächstenliebe und alles, was daraus folgt, bilden seit vielen Jahrhunderten die Grundlagen unserer abendländischen Gesellschaft, bis diese in solchem Maße von innen heraus zerstört wurde, dass selbst moderne Konservative sich scheinbar scheuen, ihr Programm offen transzendent zu legitimieren, sondern lieber verschämt den Umweg über jene pragmatisch-materialistischen Notbehelfe nehmen, deren Ungenügen wir eingangs skizzierten.
Wie aber könnte eine transzendente Letztbegründung eines politischen Programms aussehen? In der Folge eine kurze, notwendigerweise unbefriedigende Skizze, die in Buchform bislang nur in französischer Sprache erhältlich ist („Défendre l’Europe civilisationnelle. Petit traité d’hespérialisme“, Paris 2024):
- Die Akzeptanz des eigenen Körpers mit allen seinen Unvollkommenheiten und Gebrechen. Im Gegensatz zur gefährlichen gnostischen Illusion des Transhumanismus. Denn dieser Körper ist uns durch die Transzendenz zur Erfüllung unserer Mission zugewiesen worden und sollte daher gepflegt, aber nicht abgelehnt werden.
- Die Bejahung des uns zugewiesenen Geschlechts. Im Gegensatz zur Hybris der LGBTQ-Ideologie. Denn Geschlecht ist kein Kleid, das man ablegt, es drückt in seiner Dualität eine Polarität aus, die letzten Endes metaphysischer Art ist und sich somit gewissermaßen erst sekundär in der Natur manifestiert.
- Die Liebe zu unseren leiblichen wie kollektiven Vorfahren als positive und dankbare Annahme einer uns gestellten Aufgabe. Im Gegensatz zur als „Befreiung“ ausgegebenen bewussten Entwurzelung des Individuums. Denn auch unsere familiäre und sonstige Herkunft ist kein „Zufall“, sondern Schicksal und muss konstruktiv in unseren Lebensentwurf eingebunden werden, denn wir sind, wer wir sind, wesentlich auch durch die Bemühungen anderer, die wir bei aller berechtigten Kritik würdigen sollten.
- Die Ehe zwischen Mann und Frau als Sublimation der Geschlechtlichkeit. Im Gegensatz zu den materialistischen Verirrungen von Hedonismus und Gender-Theorie. Denn das Zusammenleben zweier Menschen dient nicht nur der Befriedigung körperlicher Instinkte, sondern sublimiert die Anlagen des eigenen Geschlechts durch beständige Abstimmung mit dem anderen, lässt Menschen gemeinsam auf die Transzendenz hin wachsen und erfüllt vor allem den Zweck der Familiengründung.
- Die Übernahme liebender Verantwortung für die eigenen Kinder. Im Gegensatz zur Auslagerung von Erziehung an Dritte und den Kult ewiger Jugendlichkeit. Denn Erziehung ist viel mehr als Vermittlung von Lebenstüchtigkeit: Sie ist eine mikrokosmische Spiegelung göttlicher Liebe, erfüllt unsere natürliche Berufung der Weitergabe von Erfahrungen, die in undenkliche Vorzeiten zurückreichen, und ist ein wichtiger Abschnitt innerhalb der Stufen unseres eigenen generationellen Wachstums.
- Der absolute Respekt für Leben wie Tod als zentrale Formen menschlicher Kontingenzerfahrung. Im Gegensatz zur Banalisierung von Abtreibung und Euthanasie. Denn nicht nur ist der Eintritt in diese Welt ebenso wie ihr Verlassen ein Geschenk, dessen Entscheidung nicht uns, sondern der Transzendenz obliegt; auch das Leiden kann eine Vergegenwärtigung der zentralen Lebensfragen bewirken, die wir nicht leichthin von uns weisen dürfen.
- Die Wertschätzung der Eigeninitiative als Mittel zur Bewusstwerdung der eigenen Verantwortung. Im Gegensatz zum sozialistischen Zwangsstaat. Denn in letzter Instanz steht jeder Mensch trotz verschiedenster Formen von Fürsprache unmittelbar und alleine der Transzendenz gegenüber, und so muss auch unser Leben in der Welt diese Autonomie spiegeln und darf sie nicht unter dem Mantel eines Kollektivs begraben, das der einzigartigen Vernunftbegabung eines jeden Menschen Hohn spricht.
- Die Empfindung der konzentrischen sozialen Verantwortung für den Nächsten. Im Gegensatz zu Ultraliberalismus und Fernstenliebe. Denn wer die Transzendenz nicht nur außen, sondern auch innen gefunden hat, weiß, dass jene göttliche Präsenz, die ihn belebt, dieselbe ist, die alle anderen Wesen erhellt, so verschüttet sie auch sein mag. Aus der Einsicht in die Transzendenz folgt Nächstenliebe daher nicht optional, sondern notwendig; und wenn diese Liebe auch immer individuell ist, folgt sie doch im Allgemeinen dem „ordo caritatis“ der prioritären Verantwortung für den Nächsten.
- Die schrittweise sich vom Kleinsten zum Größten ausdehnende Liebe zur eigenen Heimat, zur eigenen Nation, zur eigenen Zivilisation und dann auch zur Menschheit als die uns gesetzten Rahmen der Selbstentfaltung. Im Gegensatz zum entwurzelten Kosmopolitismus, der nur noch atomisierte und in ihrer gleichgeschalteten „Diversität“ kollektivierte Individuen kennt. Denn auch gesellschaftliche Körper haben eine Funktion jenseits der bloßen Materie, spiegeln verschiedene, höchst individuelle Zugänge zum Wahren, Schönen und Guten und sind daher gerade aufgrund ihrer Unterschiede zu pflegen.
- Die liebende Sorge für unsere Umwelt als einer uns anvertrauten göttlichen Schöpfung. Im Gegensatz zur Vergöttlichung der Natur bei gleichzeitiger animalischer Erniedrigung des Menschen. Denn zwar spiegelt auch die Umwelt eine göttliche Absicht und Schönheit, doch besteht durch die Abstufung der Möglichkeiten der Transzendenzerfahrung eine Hierarchie, die den Menschen an die Spitze der Schöpfung stellt und ihm gleichzeitig eine Aufgabe jenseits des bloß Animalischen zugeschrieben hat.
- Der Kampf um die öffentliche Wertschätzung und Wahrnehmung von Transzendenz als eines für kommende Generationen offenzuhaltenden Weges zum Höchsten. Im Gegensatz zum letztlich anti-religiösen Säkularismus. Denn die aus der Erfahrung der Transzendenz sich ergebenden Lebensaufgaben sind keine „Privatsache“, sondern erfordern den ganzen Menschen und verpflichten auch zur Weitergabe nicht nur von Liebe, sondern auch theoretischer Einsicht – allen voran in Form der mit dem Abendland untrennbar verschmolzenen christlichen Tradition.
- Die Verpflichtung zur Reinhaltung der christlichen Lehre im Sinne echter Transzendenz- und Jenseitserfahrung. Im Gegensatz zu den gegenwärtigen sozialaktivistischen Verirrungen der Kirchen. Denn eine Religion, die ihrer unmittelbaren Aufgabe untreu wird, nämlich der Weitergabe des Gedächtnisses an die menschliche Inkarnation Gottes, der von diesem offenbarten Wahrheiten und der Aufbauleistungen von Kirche und Kirchenvätern, muss dringend zu ihrer ursprüngliche Mission zurückgeführt werden.
- Die Verantwortung für den Schutz unserer abendländischen Tradition als eines gewaltigen Zeugnisses der kollektiven Suche nach Jenseitigkeit. Im Gegensatz zur Dystopie von Cancel Culture, Selbsthass und globalem Schmelztiegel. Denn der abendländische Mensch hat in tausend Jahren Geschichte eine unverwechselbare Perspektive auf Transzendenz, Mensch und Natur geprägt, die ebenso wie alle anderen Hochkulturen Schutz, Wertschätzung und Weitergabe verdient.
Das Alleinstellungsmerkmal
Nur, wenn der abendländische Konservatismus sich erneut darauf besinnt, dass sein Alleinstellungsmerkmal eben nicht im Bereich des Materiellen, sondern des Transzendenten liegt, und jegliche Selbstbegründung mit den Methoden und dem Vokabular von Sozialismus und Liberalismus nur in die Selbstauflösung führen kann, wird er erneut eine argumentative Stringenz entwickeln, die auch für Außenstehende überzeugend sein kann.
Dazu zählt aber auch wesentlich die Verabschiedung von einer ganzen Reihe von Lebenslügen und Gewohnheiten und vor allem die Bereitschaft, endlich den überaus missverständlichen Begriff des „Konservatismus“ um die Bestimmung dessen zu klären, was denn überhaupt zu konservieren ist: nämlich ausschließlich das, was im Abendland im ehrlichen Bemühen um Transzendenz geschaffen worden ist.
› Treten Sie dem Corrigenda-Telegram- oder WhatsApp-Kanal bei und verpassen Sie keinen Artikel mehr!
Unglaublich. Herr Engels führt hier überaus eloquent auf den Punkt, was ich seit Jahren halbbewusst zu artikulieren suche. Herzlichen Dank!
Letztlich kann man das Kind auch beim Namen nennen. Es geht um die katholische Tradition. Nur diese kann diesen Anspruch erfüllen, weil alle europäischen Grundlagen vereint: die griechische Antike, die römische Kultur und die Städtebildung im Mittelalter.
BINGO! Möge dieser Text eine breite Leserschaft finden und noch breiter diskutiert werden.
Super Artikel!, ich kann dem Autor und dem ersten Kommentar von Bo Peters nur zustimmen.
Ich "kenne" Professor Engels schon seit Jahren. So ein Programm wurde Zeit, höchste Zeit. Tragen wir es in die Gesellschaft hinein. Wenn nicht für uns, so für unsere Kinder, Familien und Freunde.
Eine kritische Anmerkung hätte ich aber: Wie sieht eine transzendentalistische Wirtschaftspolitik aus? Ein technologisches Zurück wird es wohl nicht geben (können). Im Wettbewerb der Systeme – siehe BRD vs. DDR – geht es auch immer um die wirtschaftliche Potenz.
Ein sehr guter Artikel, dem ich nur voll und ganz zustimmen kann.
Tolle Analyse! - Die 12 Rules von Peterson auf Transzendenz bezogen. Und von den Amis kommt das auf Twitter wiederum gerne ganz praktisch so: „Reject hook up culture. Get married. Stay married. Have kids. Love your family. Be loyal. Give back. Go to Church. Find God. Care about the things that matter.“ - Auch dagegen ist nichts einzuwenden, stimmt einfach!
Wie viel Kuehnelt-Leddihn steckt in Engels? Vermutlich nicht so ganz wenig.
In jedem Fall ist es der richtige Weg, dem konservativen Denken ein geistesgeschichtlich tragfähiges Fundament zu gießen. Konservative schwimmen derzeit leider auf einem philosophischen Wackelpudding, wie man z.B. an den Versuchen, die CDU zu restaurieren, deutlich erkennt. Man sieht den guten Willen. Mehr ist es nicht.
Die ganze Tragik des zeitgenössischen Konservatismus auf den Punkt gebracht. Was noch interessant wäre: ab wann beginnt sich der parasitäre Charakter des Konservativismus definitiv durchzusetzen? Eventuell seit dem Ende des 19. Jahrhunderts?
BINGO! Möge dieser Text eine breite Leserschaft finden und noch breiter diskutiert werden.
Auf den Punkt gebracht. Was "metaphysischer Art" ist, kann nicht geändert werden. Das ist wohlbegründet, wie Herr Prof. Engels gezeigt hat. Vielleicht fehlt es nur an Mut, dafür entgegen dem lärmenden brüllenden Zeitgeist einzustehen. Warum sind wir so mutlos und feige?
Es fehlen halt die Zeichen und Wunder, die die Wahrheit legitimieren würden.
Letztlich kann man das Kind auch beim Namen nennen. Es geht um die katholische Tradition. Nur diese kann diesen Anspruch erfüllen, weil alle europäischen Grundlagen vereint: die griechische Antike, die römische Kultur und die Städtebildung im Mittelalter.
Super Artikel!, ich kann dem Autor und dem ersten Kommentar von Bo Peters nur zustimmen.
Ich "kenne" Professor Engels schon seit Jahren. So ein Programm wurde Zeit, höchste Zeit. Tragen wir es in die Gesellschaft hinein. Wenn nicht für uns, so für unsere Kinder, Familien und Freunde.
Eine kritische Anmerkung hätte ich aber: Wie sieht eine transzendentalistische Wirtschaftspolitik aus? Ein technologisches Zurück wird es wohl nicht geben (können). Im Wettbewerb der Systeme – siehe BRD vs. DDR – geht es auch immer um die wirtschaftliche Potenz.