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Kolumne „Mild bis rauchig“

Wahl der Qual

Dieter Nuhr, der Hofkabarettist der ARD, ist sicher kein Konservativer oder gar ein „Neuer Rechter“. Und trotzdem wird er offenbar in beiden Lagern geschätzt. Der Grund liegt in dem, was der Doyen der deutschen Nachkriegskabarettszene, Hanns Dieter Hüsch, einmal auf die Frage, wie er an Material komme, als ein kabarettistisches Grundgesetz formuliert hat. Es sei im Jahre seines hundertsten Geburtstags hier kurz erwähnt: „Zugucken, zuhören, aufschreiben, vortragen“. Seinem Publikum riet er dementsprechend: „Sie brauchen gar nicht ins Kabarett zu gehen, sie können eigentlich gleich ins Foyer gehen!“

Genauso ist es! Die Komik, mit der Kabarettisten ihr Geld verdienen, spielt sich im Alltag ab. Allein, es kommt darauf an, sie zu beobachten, sie aus Gesprächen herauszuhören und sie so mittels einer sensiblen Auffassungsgabe hinter den Fassaden unreflektierter Lebenseinstellungen, Phraseologien und gesellschaftlicher Anerkennung hervorzukitzeln. Die Menschen lachen eben immer erst in dem Moment, in dem der kleine Junge aus Hans Christian Andersens Kunstmärchen auf den nackten Monarchen zeigt und ruft: „Der Kaiser hat ja gar nichts an!“ Und der bereits Entkleidete wird durch den Hinweis auf das, was hier wirklich geschieht, erst recht nackend.

Zuvor sind die Augen aller gehalten, weil sie vor lauter Ehrfurcht, vor wirklichkeitsblinder Intellektualität und besonders durch das „Feeling“ für das, was alle meinen, keinen Zugang zur Wahrheit gefunden haben. Der kleine Kabarettist entfesselt die Situation, indem er wie auf Knopfdruck der Menge den Schleier von den Augen zieht und sie sehen lässt, dass die edlen Tuche, in die Seine Majestät gehüllt sei, gar nicht existieren. Die Komik der Situation muss nicht hergestellt werden, sie muss nur freigelegt werden.

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Am Ende lachen alle, weil sie es geschafft haben, die Sache mit unverstellten Augen zu sehen. Es liegt eine Befreiung darin, eine geradezu seelische Entschlackung, mit der das Lachen alles abzuschütteln in der Lage ist, das sich unrechtmäßig zwischen den Menschen und die Wirklichkeit gestellt hat.

„Gefährden dann freie Wahlen die Demokratie?“

Von diesem kabarettistischen Grundgesetz lebt auch Dieter Nuhr und sein Publikum. Präzises Beobachten und das Versprachlichen dessen, was sonst aus den verschiedensten Gründen besser nicht ausgesprochen wird, stoßen derzeit allerdings an einen besonderen Prüfstein. Es ist der Umgang mit unserer parlamentarischen Demokratie und mit dem, was sie gerade in den letzten zwei Wochen an Wortmeldungen, Entscheidungen und Tendenzen hat vermelden lassen. Dieter Nuhr schafft es dabei, die Beobachterperspektive des kleinen Jungen am Rande der Modenschau des „Kaisers ohne Kleider“ einzunehmen und einfach nur das zusammenzufassen, was den meisten Menschen in unserem Land ganz offensichtlich schon länger auffällt, ohne dass sie es offen zu sagen wagen.

Es ist die Ahnung, dass die Demokratie, um deren Erhalt man sich in den politischen Lagern augenblicklich solche Sorgen macht, wohl nur deswegen zum Sorgenkind wird, weil sie funktioniert. Eine herbe Einsicht. Die Parlamentarier, die im Rund des Deutschen Bundestages als gewählte Volksvertreter sitzen, sind derzeit mehrheitlich unzufrieden mit genau diesem Umstand. Sie sind nicht durch ihre Propagandaleistung in die aktuelle Sitzverteilung im Berliner Reichstag gelangt, sondern durch freie Wahlen.

Dies scheint ein zunehmendes Problem zu sein. Denn was macht man mit Mehrheitsentscheidungen, die nicht das abbilden, was man haben will? Wie geht man damit um, wenn die Wirklichkeit des in den freien Wahlen artikulierten Volkswillens beginnt, von dem abzuweichen, was über Jahre an quasidogmatischem Common Sense als unverrückbar galt? Dieter Nuhr fragt dazu: „Ist Demokratie noch möglich, wenn sich der Wähler immer weniger an die Vorgaben der Medien hält? Da steht doch die Frage im Raum: wenn der Wähler nicht wählt wie vorgesehen, gefährden dann freie Wahlen die Demokratie?“

Unbekümmert aussprechen, was die meisten Wähler wissen

Hier sind die Lacher mehrheitlich auf seiner Seite. Und zwar, weil hier die Majorität der Bevölkerung in ihrer Ahnung, im parlamentarischen Geschehen nicht wirklich vorzukommen, ein Ventil für dieses Gefühl bekommt. Denn worum geht es? Es geht gar nicht – so hören wir –, um dieses Land und sein Volk, um Wohl und Wehe der Gesellschaft oder um die Abwendung von Schäden und Gefahren, wie es die Inhaber von Staatsämtern versprochen haben. Sondern es geht um die Frage, ob die Schräubchen, an denen man außerparlamentarisch, gesellschaftlich oder kulturell seit Jahren autokratisch dreht, nun plötzlich dort eine Auflösungsbremse erfahren, wo man es offenbar am wenigsten gebrauchen kann: im Parlament.

 

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Die Unruhe, die derzeit in unserem Land herrscht, entsteht dadurch – so sieht es möglicherweise der kleine Junge am Wegesrand –, dass der Wähler sich plötzlich, anders als erwartet, als Souverän gebärdet. Ein Grund, weshalb der kluge und klarsichtige Harald Schmidt, im Brustton seiner gewohnt ironisch gestreuten Verunsicherung auf die Frage, ob er selbst in die Politik gehen würde, antwortet: „Bin ich schon oft gefragt worden, immer dieselbe Antwort: Mich stören die Wähler.“ Harald Schmidt sorgt sich um den „Populismus-Standort Deutschland“.

Hier zieht jemand mit derselben Unbekümmertheit wie der des wirklichkeitskompatiblen Stichwortgebers aus Andersens Märchen den Schleier von den Augen des Straßenpublikums, indem er ausspricht, was die meisten Wähler wissen: Du störst, wenn du darauf bestehst, dass deine Meinung einen realen Widerhall in den Beschlüssen der dich parlamentarisch Regierenden bekommt.

Sind Mehrheitsentscheidungen eine Gefahr?!?

Die Demokratie ist durch neue Mehrheitsverhältnisse in Gefahr? Geht’s noch?

Ganz egal, über was sich in diesen Wochen des Wahlkampfs aufgeregt wird, eines ist unverrückbar: dass nämlich ganz offensichtlich die Demokratie genau deswegen so lange nicht in Gefahr ist, wie sie nicht durch den kontrollierten Anbau eines die Gewaltenteilung missachtenden Politbüros dominiert wird. Solange Mehrheitsentscheidungen, die für die Demokratie wesentlich sind, die Ebene des Fortkommens sind, muss man sich wohl um die Demokratie weniger Sorgen machen als über die „Omas gegen Rechts“.

Die nämlich ließen in ihrem Aufruf zum gestrigen bundesweiten „Oma“-Aktionstag genau dies, die „Gefahr“ von Mehrheitsentscheidungen, vermelden, Entscheidungen, die sie nicht vertragen können, wenn sie nicht zu ihrer linken Lebenseinstellung passen wollen: „Nie war die Gefahr so groß, dass unsere demokratischen Errungenschaften und damit die Basis unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens durch neue Mehrheitsverhältnisse im Bundestag in Gefahr geraten.“

Hallo?! Die Demokratie ist durch neue Mehrheitsverhältnisse in Gefahr? Geht’s noch? Ich dachte immer, Demokratie sei eine Verfahrensfrage und dazu da, Mehrheiten zu ihrem Recht kommen zu lassen. Insofern gehen die linken „Omas“ ganz offensichtlich nicht zum Schutz der Demokratie auf die Straße, sondern eher zum Schutz ihrer eigenen abnehmenden Möglichkeiten, die Demokratie zu instrumentalisieren.

Eine Gefahr, die viele spüren, aber nicht zu benennen wagen

Als Pfarrer bin ich weit davon entfernt, eine politische Einflussnahme vorzunehmen. Allein, ich merke im Kontakt zu den Menschen im Alltagsgeschäft, denen ich vom arabischen Taxifahrer über den deutschen Handwerker in der Brötchenschlange beim Bäcker bis zum nigerianischen Studenten der hier unweit entfernten RWTH Aachen begegne, dass es in der Tat eine lauernde Gefahr für unsere Gesellschaft gibt, die viele spüren, aber nicht zu benennen wagen: Es ist die Beachtungslosigkeit, mit der die etablierten Profi-Demokraten über die Einsichten der sie Wählenden hinweggehen, wenn die Ergebnisse der Bundestagsplanspiele nicht das einspielen, was man erwartet hat.

Es ist möglicherweise die Absicht der hysterischen Reaktionen auf unerwartete Demokratieausbrüche, dass man diese so schnell wie möglich moralisch stigmatisiert, noch bevor überhaupt jemand fragen konnte, um was es eigentlich ging.

Man darf dann zum Beispiel die Auffassung von zwei Dritteln der deutschen Bevölkerung, dass es gute und auch humanitäre Gründe geben könnte, eine unkontrollierte und in Teilen gefährliche Migration zu begrenzen, als „Sündenfall“ und Öffnung des „Tors zur Hölle“ (Rolf Mützenich, SPD) bezeichnen, nur weil bestimmte andere demokratisch gewählte, aber auf den Index der Missliebigen gesetzten Volksvertreter auch dafür waren. Es fragt anschließend niemand mehr, worum es ging, sondern wer dafür war.

Nicht müde werden! Die Instrumente nutzen!

Da empfindet man es als eine Beruhigung, wenn der jüdische Welt-Kolumnist Henryk M. Broder im Gegensatz zu allen linksorientierten maßgeblichen Inhabern politischer Deutungshoheiten nach dem am vergangenen Mittwoch im Januar mehrheitlich vom Bundestag goutierten Antrag der Union zur Verschärfung der Migrationspolitik nonchalant sagen konnte: „Was heute passiert ist, war eigentlich ein Beispiel für eine intakte Demokratie.“ Denn es habe sich schließlich nicht die Erde aufgetan und es seien auch keine Heuschrecken und Frösche vom Himmel gefallen, die Zugspitze sei nicht umgekippt, sondern „Was passiert ist, ist: die Abgeordneten haben von ihrem Recht Gebrauch gemacht.“

Im Sinne dieser klugen und beruhigenden Stimme drängt sich der Rat für alle auf, die müde geworden sind an staatsbürgerlicher Pflichterfüllung, diese nicht ganz entschlafen zu lassen.

Wenn die Demokratie durch die Demokratie in Gefahr versetzt ist, wie es heißt, müssen diejenigen, denen die Demokratie die Wahl gegeben hat, dieses veritable Mittel gegen jede Form von Demokratur, die sich hinter der Fassade der Staatsfrömmigkeit auftut, dringend nutzen. Auch wenn es manchmal die Wahl der Qual ist, im Verdacht zu stehen, als Wähler am Ende an allem schuld zu sein.

 

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