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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Mann gegen Mann

Anderswo ringt man, in der Schweiz schwingt man. Fast nur hier kennt man diesen Sport. Zwei Männer stehen sich in einem Rund aus Sägemehl gegenüber, die reißfeste Schwingerhose aus Zwilch, einem Leinengewebe, über der Kleidung. Es gilt, den anderen zu Boden zu bringen, bis beide Schulterblätter den Untergrund berühren. Es ist ein Kampf gegen den Mann, urchig, wie aus der Zeit gefallen. Aber die Tradition lebt weiter, mehr noch: In den vergangenen Jahren hat das Schwingen auch dank des Medieninteresses einen neuen Aufschwung erlebt.

Die Ursprünge des Schwingens dürften über 800 Jahre zurückliegen. Es war der Ursprung vieler Sagen – und das Zentrum von Auseinandersetzungen. Als „Vergeudung von Kraft“ wurde das Kämpfen vor Publikum schon vor Jahrhunderten angeprangert. Die Kirche befürchtete, die Jugend könne sich fürs Schwingen statt für den Gang in die Kirche entscheiden. In einzelnen Kantonen gab es sogar ein Verbot. Geschwungen wurde auch dort weiter, einfach versteckt. Im 20. Jahrhundert und vor allem während des Kalten Krieges galt das Schwingen als eine Art Gegenprogramm zur Jugendkultur, zu Punk, zu langen Haaren und importierter Musik. Und entsprechend standen die Schwinger in der öffentlichen Wahrnehmung für die „alte“ Schweiz und deren Werte.

Fünf Minuten reichten, um der Faszination zu erliegen

Darauf dürfte es zurückzuführen sein, dass man das alles außerhalb der „Szene“ misstrauisch beäugt. Wikipedia führt das Schwingen auf die „Romantisierung einer Bergidylle“ zurück, und die linksgrüne Seite mutmaßt ein Zeremoniell nationalkonservativer Kräfte hinter den Wettkämpfen. Edelweißhemden, Volksmusik, Würste auf dem Grill und große, massige Männer, die sich schwer atmend gegenüberstehen und im Eins zu Eins den Sieg suchen: Das ist doch genau die Schweiz, vor der sie warnen. Das sind die Retro-Kräfte, die ihr Heil im Gestern suchen. Denn dieser Sport ist Teil der Geschichte eines Landes, das viele von ihnen verachten.

Ich habe in einer Art Selbstversuch vier Stunden lang zugesehen. Nicht vor Ort, nur am Bildschirm. Auf dem Weissenstein, einem Bergrücken über der Stadt Solothurn, kämpften die Schwinger um den Titel und um den sogenannten Kranz, eine Auszeichnung für einige Platzierte dahinter. Mehr als fünf Minuten waren nicht nötig, um der Faszination zu erliegen.

Hier findet nicht wie geargwöhnt Politik im Sägemehl statt, und es ist auch kein Gedenkanlass für eine untergehende Kultur. Es ist viel eher, als würde man den Ursprüngen des Sports ins Auge blicken. Oder eher: des Sportgeistes.

Größe in der Niederlage

Als im „Schlussgang“, dem Finale, in dem es um alles geht, nach wenigen Sekunden die Entscheidung fällt, tobt der Unterlegene nicht. Er schiebt niemand anderem die Schuld zu oder zerfließt in Selbstmitleid. Er steht auf, hebt den Sieger auf seine Schultern – Kampfgewicht: 110 Kilogramm – und präsentiert ihn so dem Publikum. Es ist, als wollte er sagen: Seht her, er ist der Größte. Es war ein Kampf Mann gegen Mann, einer hat gewonnen, das gilt es auch in der Niederlage zu respektieren. Solche Bilder findet man in Fußballstadien selten. Dazu kommen kleine Gesten. Vor dem Kampf der obligate Handschlag, nach geschlagener Schlacht wischt der Sieger dem Konkurrenten das Sägemehl vom Rücken.

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Zwischen der bewussten Schlichtheit des Anlasses, dem Publikum auf Holzbänken, dem Fehlen jeder begleitenden Attraktion einerseits und dem wohligen Pathos, das einen in solchen Momenten durchaus ergreifen kann andererseits, liegen unerklärliche Welten. Auch als Laie erkennt man, wie viel mehr als bloße Kraft hinter diesem Sport liegt.

Manchmal geschieht minutenlang kaum etwas, weil keiner der Gegner in die Offensive gehen will. Dann folgen Sekundenbruchteile, in denen Erfahrung, Technik und mentale Stärke zusammenfließen und zur Entscheidung führen. Was im Vergleich zu manch anderer Kampfkunst roh und archaisch aussieht, weist eine verborgene Eleganz auf.

Erinnerung an den Kampfgeist der alten Eidgenossen: Was ist daran falsch?

Selbst wenn der eine oder andere im Geschehen im Sägemehl eine verblassende Erinnerung an den Kampfgeist der alten Eidgenossen sehen sollte: Was ist daran falsch? Es gab Phasen, als das Schwingen ein Symbol gegen die Obrigkeit war. Mit wachsender Akzeptanz brachte es Menschen zusammen im friedlichen Wettstreit. Aber vielleicht ist nur schon die Tatsache, dass es hier nach wie vor Gewinner und Verlierer gibt, in der heutigen Zeit verdächtig.

Nirgends wird die laufende Distanzierung von der eigenen Geschichte, der Wunsch, sich selbst als Nation kleinzumachen, so sichtbar wie in der Kritik am Schwingen. Vielleicht ist das steigende Interesse am Nationalsport auch ein sanftes Zeichen dafür, dass das Pendel allmählich in die andere Richtung schwingt. Zurück zu einem gesunden Stolz auf das, was war und immer noch ist.

 

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