Der Beginn einer neuen Wirklichkeit
Die Deutungen der EU-Wahlergebnisse sind so divers wie die eingebildeten Geschlechter bei einem Kongress der Grünen Jugend. Doch auf eine Interpretation können sich nach der gestern beendeten EU-Parlamentswahl alle einigen: Die deutsche Ampel-Regierung erlebt ein Desaster. SPD (minus 1,9 Prozentpunkte), Grüne (minus 8,6 Punkte) und FDP (minus 0,2 Punkte) verlieren reihum. Zusammen kommen sie gerade noch auf 35 Prozent Zustimmung. Allein die Union, die auf dem Ergebnis von 2019 stagniert, erhält 30 Prozent der Stimmen. Die AfD legt signifikant auf 15,9 Prozent zu (plus 4,9 Punkte), das Bündnis Sahra Wagenknecht kommt aus dem Stand auf 6,2 Prozent.
In Italien, Frankreich und Österreich ist die Sache noch deutlicher: Die Mitte-Rechts-Regierung von Giorgia Meloni (Fratteli d’Italia) gewinnt mit 28,8 Prozent klar vor den Sozialdemokraten. Zusammen mit ihren Koalitionspartnern von Forza Italia (9,7 Prozent) und Lega (9,1) Prozent erhält die Regierung in Rom sogar mehr Stimmen als bei der Parlamentswahl 2022.
In Frankreich verliert die Partei von Präsident Emmanuel Macron sogar so stark, dass dieser vorgezogene Neuwahlen ausgerufen hat. Dahinter steckt sicher ein machtpolitisches Kalkül. Doch auch Kanzler Olaf Scholz, dessen Konterfei großflächig auf den SPD-Wahlplakaten prangte, muss sich von der Opposition Forderungen nach Bundestagswahlen noch in diesem Jahr anhören lassen.
In Österreich geht Herbert Kickl mit seiner FPÖ erstmals aus einer bundesweiten Wahl als Sieger hervor. Mit einem satten Plus von 8,5 Prozentpunkten auf jetzt 25,7 Prozent zieht sie mit Volldampf an der liberalkonservativen ÖVP vorbei, die mit fast zehn Punkten minus weniger als ein Viertel der Wähler hinter sich weiß. Die zusammen mit der ÖVP regierenden Grünen verlieren gut drei Punkte und stehen bei 10,7 Prozent. Die SPÖ stagniert auf 23 Prozent.
Wer hat gewonnen?
So viel zu dem, worüber sich alle einig sind. Nun zum Komplizierten: Wer ist Wahlsieger? Wohin steuert Europa?
Der von vielen Politikern und Medien vorhergesehene Rechtsruck trat ein, aber längst nicht so stark, wie ihn die einen befürchtet und die anderen herbeigesehnt haben. Von den 720 Sitzen im EU-Parlament gehen 184 (plus 8 Sitze) an die Europäische Volkspartei (EVP, zu der Union und ÖVP gehören), 139 an die Sozialisten und Sozialdemokraten (plus minus 0), 80 an die Liberalen (minus 22), 73 (plus 4) an die Konservativen und Reformer (EKR, zu der die Fratelli d’Italia und die polnische PiS gehören) und 58 (plus 9) an Identität und Demokratie (ID, zu der FPÖ und Lega gehören und bis vor kurzem noch die AfD).
Die Grünen verlieren ähnlich wie die Liberalen brutal und kommen nur noch auf 52 Sitze (minus 19). Die Linken halten immerhin 36 Sitze (minus 1). Die fraktionslosen Parteien erhalten 99 Sitze (plus 37).
Nach der Wahl ist vor den Fraktionsverhandlungen. Das neue Parlament tritt erst Mitte Juli zum ersten Mal zusammen. Wie schlagkräftig die Konservativen und Rechten werden, wird auch damit zusammenhängen, ob und wie sie sich schließlich einigen können. Gibt es eine „Superfraktion“ bestehend aus den bisherigen EKR- und ID-Parteien exklusive radikalerer oder für politikunfähig gehaltener Gruppierungen? Oder bleibt das Lager fragmentiert?
Die multiplen Krisen Europas angehen
Fest steht: Ohne die EVP gibt es keine Mehrheiten im Parlament. Dass die Liberalen abschmierten, könnte eine Chance für das Mitte-Rechts-Lager sein, Teil derer zu werden, die in Brüssel und Straßburg künftig den Ton angeben. Zu tun gäbe es einiges: Die Migrationskrise ist akut wie eh und je; der demografische Winter hält an, Ehe und Familie, mithin die europäisch-abendländische Kultur sind im Abschwung befindlich; und wirtschaftlich sowie geopolitisch bahnen sich stürmische Jahre an.
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Giorgia Meloni, die angesichts des Wahlergebnisses von der „stärksten Regierung Europas“ jubilierte, kann und muss ihre Strategie nun in die Tat umsetzen und den Massenansturm auf Europa auf EU-Ebene in den Griff bekommen; dieser war neben dem wirtschaftlichen Abschwung bei einem Großteil der Bürger wahlentscheidendes Thema). Wer die „stärkste Regierung Europas“ ist, der muss auch starke Akzente in Europa setzen, sonst ist er in Wirklichkeit schwach.
Willkommen in der neuen Realität
Doch weit mehr als die (partei-)politischen Folgen ist eine andere Entwicklung als Ergebnis dieses Urnengangs bemerkenswert und hoffnungsvoll. Seitdem die Generation des Verfassers, also die unter 35-Jährigen, politisch denken kann, hatte das linksprogressive Lager stets die Deutungshoheit inne. Es hatte ein nicht nur politisches, sondern auch kulturelles Momentum bei sich.
Zudem wusste es die Jugend und damit die Zukunft auf seiner Seite. Konservativ und rechts – das ist etwas für ältere, verbitterte Wutbürger oder Globalisierungsverlierer, hieß es. Doch schon bei der Bundestagswahl 2021 lagen FDP-Wähler zusammen mit den Grünen auf Platz 1. In östlichen Bundesländern legte die AfD seither unter jungen Wählern massiv zu – ähnlich wie übrigens die FPÖ in Teilen Österreichs.
Die Gründe dafür sind vielschichtig: Zum einen spielt ein gewisses Rebellentum gegen das miefig-linke tonangebende Milieu eine Rolle, zum anderen haben Teile der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ihre eigenen Erfahrungen mit den Folgen von „Multikulti“ gemacht, die eben nicht romantisch-beglückend, sondern hart und befremdlich waren. Zudem haben jüngere Wähler erkannt, dass die Zukunft eben kein kostenloser, rosarot-grüner Ponyhof mit „Kaviar und Hummer im Überfluss“ im immerwährenden „Frühling“ zu werden scheint, wie eine junge Musikerin sich das in einem zur Anti-Rechts-Hymne gewordenen Lied ausgedacht hat.
All das hat dazu geführt, dass CDU und AfD die Nase vorn haben bei den Jungen: Beide Parteien liegen gleichauf sowohl bei den 16- bis 24-Jährigen als auch bei den 25- bis 34-Jährigen. Die Grünen hingegen haben massiv verloren: Lagen sie 2019 bei den unter 30-Jährigen noch bei 33 Prozent, erreichten sie diesmal nur noch zwölf Prozent. Dabei sollte man sich jedoch nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass die Mehrheit der jungen Wähler links steht, wenn man auch die kleineren Parteien mit einbezieht.
Mit der Erosion des Wohlstands-, Friedens-, Sicherheits- und Freiheitsversprechens geht auch die angemaßte moralische Hoheit des grünen Milieus in die Brüche. Wir stehen am Beginn einer neuen Wirklichkeit, die rauer, gefährlicher, ernster und härter sein wird. Solche Phasen waren oft Zeiten für gute Politiker, die mehr als die nächste Legislaturperiode im Blick haben, und sich auf Werte berufen, die jegliche Trends und Moden überdauern.
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Die Europawahl sollte nicht überinterpretiert werden, denn das Europaparlament ist praktisch ohne Einfluss. Zur Erinnerung: Den großen milliardenschweren Impfstoffdeal fädelte die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einem Handstreich mit einer kleinen E-Mail mit ihrem Intimus Albert Bourla von Pfizer ein, wohlgemerkt ohne Parlament. Niemand belangt sie dafür. Nur Bekloppte feiern den "konservativen" Wahlerfolg.
Dem Kommentar von Herrn Steinwandter ist nichts hinzufügen. Allerdings kann ich die Aufregung ebenso nicht verstehen. Wie Sie schon sagen, Herr Graf, das Europapalarment ist ein zahnloser Tiger. Wichtig ist, wie die Kommission zusammengesetzt wird und wenn es Frau von der Leyen oder Herr Draghi an der Spitze werden, dann standen beide nicht zur Wahl. Die Macht liegt also nicht beim Volk.
Die Europawahl sollte nicht überinterpretiert werden, denn das Europaparlament ist praktisch ohne Einfluss. Zur Erinnerung: Den großen milliardenschweren Impfstoffdeal fädelte die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einem Handstreich mit einer kleinen E-Mail mit ihrem Intimus Albert Bourla von Pfizer ein, wohlgemerkt ohne Parlament. Niemand belangt sie dafür. Nur Bekloppte feiern den "konservativen" Wahlerfolg.
Dem Kommentar von Herrn Steinwandter ist nichts hinzufügen. Allerdings kann ich die Aufregung ebenso nicht verstehen. Wie Sie schon sagen, Herr Graf, das Europapalarment ist ein zahnloser Tiger. Wichtig ist, wie die Kommission zusammengesetzt wird und wenn es Frau von der Leyen oder Herr Draghi an der Spitze werden, dann standen beide nicht zur Wahl. Die Macht liegt also nicht beim Volk.