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Grundgesetz im Sturm

Die „Kritische Rassentheorie“ spielt längst im juristischen Diskurs mit

Vergangene Woche feierte das Grundgesetz seinen 75-jährigen Geburtstag. War es im Spiegel der historischen Sondersituation in der Nachkriegszeit und der sich anbahnenden deutschen Teilung zunächst als Übergangslösung gedacht, ist es spätestens mit der Wiedervereinigung zu einer vollwertigen Verfassung herangewachsen.

Allerlei Staatsorgane und zivilgesellschaftliche Akteure bekundeten dabei ihre Achtung vor der Grundlage der bundesrepublikanischen Staatsordnung. Doch ignoriert werden darf nicht, dass die bundesdeutsche Verfassung immer wieder Gegenstand ideologischer Reformbestrebungen geworden ist, insbesondere in der jüngeren Vergangenheit. Das Grundgesetz hat sich während des Dreivierteljahrhunderts seiner Geltung bewährt. Dies sollte aufhorchen lassen, wenn politische und gesellschaftliche Kräfte ihm Partikularinteressen mit oftmals ideologischer Grundierung aufstempeln wollen.

Klangvoller Vorschlag, fatale Folgen: „Kinderrechte“

„Kinderrechte“ ins Grundgesetz – das klingt doch erst einmal nach einem gutherzigen Vorhaben, denn Kinder sind schließlich besonders schutzwürdig. Wer könnte dazu nein sagen? „Kinderrechte“ also ins Grundgesetz – so jedenfalls ein vielfach geäußerter Vorschlag der jüngeren Vergangenheit. Ein von der Regierungskoalition der vergangenen Legislaturperiode unterbreiteter Vorschlag für eine Verfassungsänderung ist im Jahr 2021 jedoch an einer Vielzahl terminologischer und handwerklicher Streitpunkte gescheitert.

Gut so, könnte man meinen. Denn es bleibt ungeklärt, worin genau der Mehrwert einer solchen Verfassungsänderung liegen soll. Entgegen dem Eindruck, den diese Reformdiskussion erweckt, sind Kinder nach geltender Verfassungsrechtslage nicht etwa „vogelfrei“. Im Gegenteil: Sie sind mit aller Selbstverständlichkeit schon jetzt Grundrechtsträger. Der persönliche Schutzbereich der Grundrechte des Grundgesetzes ist schließlich nicht nur auf Erwachsene begrenzt.

Diesen Befund nahm man auch im Parlamentarischen Rat zum Anlass, von einer Integration solcher kinderspezifischen Grundrechtsgewährleistungen in das Grundgesetz abzusehen (PR 14/I, S. 602 ff.). Ähnlich sah das Beratungsergebnis der im Nachgang der Wiedervereinigung einberufenen Gemeinsamen Verfassungskommission (GVK) aus (BT-Drs. 12/6000, S. 59 f.). Darüber hinaus wird Kindern in ihrer Entwicklung bereits nach der gegenwärtigen Verfassungsrechtslage ein staatlicher Schutzanspruch aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zuteil (BVerfGE 24, 119 [144]). Ein gespaltener Grundrechtsschutz würde nicht absehbare Spannungen im System der Grundrechtsdogmatik provozieren.

Also alles nur wenig praktikable Symbolpolitik? Ganz so einfach ist es leider nicht. „Kinderrechte“ sollen vor allem als Eingriffstitel für staatliche Interventionen in die Familie dienen. Massives Konfliktpotenzial ergibt sich dabei vor allem mit dem ebenfalls grundrechtlich geschützten elterlichen Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG), das dort sogar als „natürliches Recht“ bezeichnet wird.

Kommt ein „Eigentumsrecht“ des Staates an Kindern?

In Ansehung dieses vorrechtlichen sozialen Faktenbestandes verfügt der Staat hier auf Grundlage des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG allenfalls über ein „Wächteramt“, das sich zum Beispiel lediglich im Falle drohender Gefährdungen des Kindeswohls von einiger Schwere zu einer Handlungspflicht und Eingriffsermächtigung gegen die Elternrechte verdichtet (grundlegend BVerfGE 24, 119 [144]).

Bekannt ist dies aus der politisch-gesellschaftlichen Diskussion in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dort wird von radikalen Anhängern der „Critical Social Justice“-Lehren bereits jetzt eine Art „Eigentumsrecht“ des Staates an Kindern propagiert, um diese etwa in der Schule uneingeschränkter Indoktrination aussetzen zu können.

Der Staat soll auf Grundlage wohlklingender Neuerungen im normativen Bestand des Grundgesetzes wohl zu einer Art „Grundrechtstreuhänder“ für Kinder avancieren und deren „Rechte“ damit auch gegen den Willen ihrer Eltern durchsetzen.

Solche ideologischen Auswüchse wirken nicht nur befremdlich, sondern sie sind hochgradig gefährlich. Schwerwiegende gesellschaftliche Konflikte wären programmiert. Es bleibt aus diesem Grund festzuhalten: Derlei Reformvorhaben sind bisher zu Recht gescheitert.

„Rasse“ als Relikt einer düsteren Vergangenheit?

Für Schlagzeilen sorgt der wiederkehrende Vorschlag, den Terminus „Rasse“ aus dem besonderen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG zu eliminieren. Auch diese Forderung vermag im ersten Zugriff einige Sympathien für sich in Anspruch zu nehmen, wirkt dieser Begriff doch archaisch wie unwissenschaftlich und ist vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Unrechts historisch enorm belastet.

Dabei offenbart sich indes gerade der Zweck der Gewährleistung: Das Differenzierungsverbot stellt einen ideengeschichtlichen Gegenentwurf als Reaktion auf die Verbrechen des „Dritten Reiches“ dar und steht ganz im Zeichen des „Nie wieder“. Die Rassenideologie der Nationalsozialisten soll dergestalt nicht legitimiert oder gar fortgesetzt, sondern verunmöglicht werden.

Es finden sich unterschiedliche Reformvorschläge. Den verpönten Ausdruck durch „rassistisch“ zu ersetzen, mag auf den ersten Blick als entscheidender Problemlöser und als befriedende Kompromissformel wirken. Doch ein solcher Schritt offenbart gleich ein ganzes Bündel unerwünschter Folgewirkungen.

Der Begriff „Rassismus“ als Türöffner für verworrene Glaubenslehren

An den Rassismusbegriff anzuknüpfen stellt im schlimmsten Falle einen Türöffner für die Inkorporation der pseudowissenschaftlichen Glaubenslehren der „Critical Race Theory“ (CRT, „Kritische Rassenlehre“) in die Verfassungsrechtsdogmatik dar. Dieser Eindruck wird flankiert von der Forderung nach einer staatlichen Pflicht zur Nachteilsbeseitigung in einem Gesetzesentwurf der Grünen aus dem Jahr 2021 (BT-Drs. 19/24434, S. 6 f.) nach dem Muster des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG, der ein solches Verfassungsgebot seit 1994 bereits für die Gleichberechtigung von Mann und Frau statuiert („Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“).

Eine derartige Verfassungsnorm würde wohl schnell als Grundlage für „reverse discrimination“ (in den USA vor allem im Kontext der umstrittenen „Affirmative action“-Maßnahmen zur „Minderheitenförderung“ diskutiert) und eine umfassende staatlich erzwungene Sozialgestaltung auf ideologischer Basis verwendet werden.

Wie tief die weltanschaulichen Grundlagen der CRT bereits in den politischen und juristischen Diskurs in Deutschland vorgedrungen sind, offenbaren die Reaktionen auf einen seinerzeitigen Gegenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV). Letzterer sah eine Umformung des Art. 3 Abs. 3 S. 1 vor, wonach Diskriminierung „aus rassistischen Gründen“ erfasst sein sollte.

Das Differenzierungsverbot stellt einen ideengeschichtlichen Gegenentwurf als Reaktion auf die Verbrechen des „Dritten Reiches“ dar

Die Stellungnahme des Hamburger Rechtsprofessors Mehrdad Payandeh spricht hier Bände: Eine solche Formulierung sei ungeeignet, denn das Vorliegen rassistischer Diskriminierung sei angeblich unabhängig von Intention feststellbar, es bestehe gar die „Gefahr“ (sic!) einer Interpretation im Sinne eines Diskriminierungsvorsatzes (Stellungnahme v. 16. Juni 2021, S. 8 f.). Die Begründung rekurriert ganz ungeniert auf das ideologische Gedankengebäude der „Critical Race Theory“. Hiernach ist Rassismus angeblich ein jeden Teilbereich westlicher Gesellschaften umfassendes Phänomen, das unabhängig von einer individuellen Geisteshaltung existiert. Weiße sind demnach angeblich immer und überall „rassistisch“, egal, was sie tun und gänzlich losgelöst von ihrer persönlichen Einstellung und Absicht (paradigmatisch Di Angelo, „White Fragility“, S. 13 ff.).

Die Fundamente der freiheitlichen Gesellschaft würden untergraben

Dieses Rassismuskonzept steht allerdings nicht nur im Widerspruch zum konsentierten, tradierten und bewährten Rassismusbegriff, sondern attackiert in Gestalt einer völligen Entgrenzung dieses Phänomens und seiner Erklärung zum vermeintlichen „Normalzustand“ (etwa Delgado/Stefancic, „An Introduction to Critical Race Theory“, S. 7) die Fundamente einer freiheitlichen Gesellschaft als solche. Hierdurch wird auch die Zielsetzung einer nur augenscheinlich bloß begrifflichen Anpassung des Gleichheitssatzes deutlich. Ein denkbar weiter Rassismusbegriff führt zu einer völligen Umgestaltung der hiesigen Verfassungsordnung, wie die Forderungen der amerikanischen CRT-Koryphäe Ibram X. Kendi nach einem parakonstitutionellen, mit quasidiktatorischen Vollmachten ausgestatteten „Department of Antiracism“ veranschaulichen.

Der Ausdruck „Rasse“ mag vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte (zu Recht) verpönt sein. Im Rechts- und Verfassungsvergleich findet sich aber eine große Bandbreite von Gewährleistungen, die diesen Begriff mit aller Selbstverständlichkeit verwenden – etwa in Frankreich gleich zu Beginn der Verfassung der V. Republik (Art. 1 CF) oder auf völkerrechtlicher Ebene sogar Art. 2 der UN-Menschenrechtserklärung (AEMR) und Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Für den Moment mag die Beibehaltung des Rassebegriffs im Grundgesetz unzeitgemäß oder überarbeitungsbedürftig wirken – eine befriedigende Alternative ist noch nicht in Erscheinung getreten.

Entzug des Lebensrechts: „Grundrecht auf Abtreibung“

Unter dem unmittelbaren Eindruck der unlängst von beiden französischen Parlamentskammern, der Nationalversammlung und des Senats, beschlossenen Verankerung einer „Freiheit zur Abtreibung“ in der Verfassung sind auch in Deutschland ähnliche Forderungen lautgeworden, zuletzt etwa aus den Reihen der Linkspartei. Auch die Ende April präsentierten Ergebnisse der von der Regierung eingesetzten Reformkommission haben solche Forderungen befeuert. Dass dieser Vorschlag in geltendes Verfassungsrecht transformiert wird, ist unwahrscheinlich. Handelt es sich dabei also nur um Hirngespinste einer radikalen linken Partei am Rande der politischen Bedeutungslosigkeit?

Im Gegenteil. Solche Vorhaben sind nicht unpopulär und sollten die Alarmglocken schrillen lassen. Es geht hier nicht mehr nur um eine rhetorische, sondern auch um eine rechtliche Entgrenzung. Der nasciturus (lateinisch „Der geboren werden wird“) erfährt den Schutz der Menschenwürde, also des „tragenden Konstitutionsprinzips“ (BVerfGE 87, 209 [228]) des Grundgesetzes. Dieser Schutz würde durch ein im ersten Trimester der Schwangerschaft möglicherweise gar vorbehaltlos gewährleistetes „Recht auf Schwangerschaftsabbruch“ (wie zum Beispiel von besagter Kommission vorgeschlagen) ausgehebelt, denn auf etwaige Notlagen der Frau – wie in der Indikationslösung verrechtlicht – käme es dann nicht mehr an.

Eine Abtreibung ist während der gesamten Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht zu betrachten. Ein derartiges Recht würde sich also nicht nur in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts setzen, sondern auch zu erheblichen Reibungen in der Grundrechtsordnung des Grundgesetzes führen.

Ein „Grundrecht auf Tötung“ ist undenkbar

Ein eigenständiges Grundrecht der Schwangeren auf Beendigung der Schwangerschaft ist der Verfassungsordnung des Grundgesetzes bereits prinzipiell fremd. Die Schwangerschaft umfasst eine einmalige grundrechtliche Sonderkonstellation, denn die „Grundrechtsausübung“ ist stets mit der unwiderruflichen „Vernichtung“ des gegenläufigen Rechtsgutes verbunden (der Tötung des Fötus).

Ein solches „Grundrecht auf Tötung“ aber ist insbesondere vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Unrechts, als deren Kontrastfolie das Grundgesetz fungiert, undenkbar. Angesichts der engen Verbindung mit der staatlichen Schutzpflicht für das ungeborene Leben ließe sich womöglich sogar von einem Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie ausgehen.

Die Forderung nach einem „Recht auf Abtreibung“ in die EU-Grundrechtecharta aufzunehmen würde eine Verletzung der Verfassungsidentität der Bundesrepublik darstellen

Eine solche Verfassungsänderung wäre demnach unter der Prämisse des Art. 79 Abs. 3 GG, der die in Art. 1 und 20 GG fixierten Grundsätze schützt, unzulässig. Dieser Diagnose entspricht es auch, dass die seitens des französischen Präsidenten vorgeschlagene Integration eines „Rechts auf Abtreibung“ in die EU-Grundrechtecharta (GRCh) eine Verletzung der Verfassungsidentität der Bundesrepublik darstellen würde, wie der Bonner Staatsrechtler Christian Hillgruber zutreffend festgestellt hat.

Unabhängig von der verfassungsrechtlichen Beurteilung im Einzelnen ist die Forderung jedenfalls ein Frontalangriff auf den Schutz des ungeborenen Lebens und steht durchaus paradigmatisch für das soziokulturelle Klima, das im Zeichen sogenannter „reproduktiver Selbstbestimmung“ hierauf keinen Wert mehr legt.

Mut zur Zurückhaltung

Eine Verfassung bildet die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens, ihr Geltungsanspruch ist zeit- und generationenübergreifender Natur. Das Grundgesetz hat sich in den nunmehr 75 Jahren seiner Geltung bewährt. Es ist dabei kein Organisationsstatut, sondern formuliert getreu der Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 7, 198 [205]) eine Werteordnung. Es soll die Funktion eines Leuchtturms erfüllen, der insbesondere den widerstreitenden Kräften im politischen Alltag Orientierung bietet und ihnen – so es denn sein muss – auch Grenzen aufzeigt.

Vor diesem Hintergrund ist der Versuchung zu widerstehen, das Grundgesetz als Experimentierfeld für ideologische Forderungen zu missbrauchen und es letztlich zur bloßen Imprägnierungsfläche für aktuelle Strömungen des Zeitgeistes im Sinne politischer Momentaufnahmen zu degradieren.

Freilich muss auch eine Verfassung anpassungsfähig und Änderungen zugänglich sein, dies indes nicht grenzenlos. Die genannten Beispiele demonstrieren eindrücklich, dass viele der Reformbestrebungen der jüngeren Vergangenheit vor allem ein Vehikel für ideologische Agenden waren und es noch immer sind. Das Gebot der Stunde ist also vor allem eines: Mut zur Zurückhaltung.

 

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Kommentare

Kommentar
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Isis Alina Klinken
Vor 5 Monate 2 Wochen

Vor allem existiert gar kein Konflikt zwischen den Grundrechten von schwangerer Mutter und Kind. Schließlich endet die Selbstbestimmung dort wo einem anderen Menschen Gewalt angetan wird. Es gibt auch niemals eine medizinische Notwendigkeit für die Tötung eines ungeborenen Kindes. Die sogenannte "soziale Indikation" ist einfach nur widerlich, denn da wird Müttern gesagt, dass sie in einer sozialen Notlage ob finanzielle Nöte oder mangelnde Unterstützung im sozialen Umfeld,ihr Kind für diese Problem bestrafen dürfen anstatt dass der Staat die Mütterhilfszentren mal finanziell fördern würde. Die sind nämlich, anders als Anti- Familie, weitgehend auf Spenden angewiesen.

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Isis Alina Klinken
Vor 5 Monate 2 Wochen

Vor allem existiert gar kein Konflikt zwischen den Grundrechten von schwangerer Mutter und Kind. Schließlich endet die Selbstbestimmung dort wo einem anderen Menschen Gewalt angetan wird. Es gibt auch niemals eine medizinische Notwendigkeit für die Tötung eines ungeborenen Kindes. Die sogenannte "soziale Indikation" ist einfach nur widerlich, denn da wird Müttern gesagt, dass sie in einer sozialen Notlage ob finanzielle Nöte oder mangelnde Unterstützung im sozialen Umfeld,ihr Kind für diese Problem bestrafen dürfen anstatt dass der Staat die Mütterhilfszentren mal finanziell fördern würde. Die sind nämlich, anders als Anti- Familie, weitgehend auf Spenden angewiesen.