Gebiert der Berg am Ende eine Maus?
Als wir Niederländer am 23. November 2023 aufwachten und uns das Ergebnis der Parlamentswahl am vorigen Tag anschauten, wurde sofort klar: das erwartete politische Erdbeben war wesentlich heftiger, als selbst Geert Wilders es erwartet hatte. Der Parteichef und Spitzenkandidat der rechtspopulistischen Freiheitspartei PVV (Partij voor de Vrijheid) schaffte es, seine Partei zur mit Abstand stärksten im neugewählten niederländischen Parlament zu machen. 23,5 Prozent der Wähler und damit fast ein Viertel stimmten für die EU- und migrationskritische Formation des 60-jährigen, die ihr Ergebnis im Vergleich zur Wahl im März 2021 mehr als verdoppeln konnte.
Besonders auffallend war auch, dass die linken Parteien gemeinsam weniger als ein Drittel der Stimmen gewinnen konnten und dafür die rechtsliberalen und Rechts-Mitte-Parteien mehr als zwei Drittel der Stimmen auf sich vereinen konnten. Für Premierminister Mark Rutte, der das Land seit 2010 ununterbrochen regiert, zuletzt in einer Koalition aus Liberalen, Progressiven und Christdemokraten, war das Wahlergebnis verheerend. Insgesamt verlor die Koalition 60 Prozent ihrer Mandate.
Die Bedeutung und Auswirkungen dieser Wahl und die Regierung, die daraus möglicherweise gebildet wird, sind für ganz Europa nicht zu unterschätzen, vor allem aber wie mit diesem erneuten europäischen Wähleraufstand umgegangen wird. Werden wir etwas daraus lernen oder bleibt es bei Empörung der Etablierten?
Die Krisen haben den falschen Frieden beendet
Weil es den Niederlanden in den letzten Jahrzehnten wirtschaftlich sehr gut gegangen ist, vor allem ab den neunziger Jahren, konnten viele Probleme, die sich heute klar zeigen, jahrelang von der politischen Elite ignoriert oder bagatellisiert werden. Jedoch die kombinierten Geschehnisse der Wirtschaftskrise von 2008, die besonders schädlichen Corona-Maßnahmen ab 2020, der Ukraine-Krieg und die daraus resultierende Kostenexplosion in Energie und Lebenshaltung, verbunden mit einem dramatischen Mangel an günstigem Wohnraum und eine gleichzeitige Überforderung der Strukturen und Institutionen durch Massenimmigration, haben, ähnlich wie in Deutschland, den falschen Frieden beendet. Dabei wird auch eine sehr besorgniserregende Verhärtung des gesellschaftlichen Klimas sichtbar, wodurch eine Flucht nach den (politischen) Extremen immer häufiger wird.
Dies alles war allerdings spätestens ab 2002 bereits sichtbar, wurde aber größtenteils von den Etablierten ignoriert, als der erfolgreiche populistische Politiker Pim Fortuyn am 6. Mai 2002 einem Attentat auf offener Straße zum Opfer fiel. Dies war der erste politische Mord in den Niederlanden seit 1584, als der „Vater des Vaterlands“, Willem van Oranje, in Delft erschossen wurde.
Nachdem die Koalition unter Mark Rutte am 7. Juli 2023 über der Frage des Familiennachzugs von in den Niederlanden lebender Flüchtlinge zerbrochen war, stellten sich bei den vorgezogenen Neuwahlen nicht weniger als 20 politische Parteien zur Wahl. 15 davon zogen in das Parlament in Den Haag ein, wenn auch die meisten Sitze nur in einstelliger Zahl gewannen.
Niedergang der Christdemokraten: Ein Absturz mit Ansage
Doch um einen Eindruck davon zu bekommen, wie sehr sich die politische Landschaft in den Niederlanden grundlegend verändert hat, braucht man nur den Niedergang der einst größten und bis heute fast immer mitregierenden christdemokratischen Partei CDA (Christen-Democratisch Appèl) zu beobachten. Diese Partei nahm 1989 noch 54 der 150 Mandate im Parlament ein. Bei der Wahl am 22. November 2023 kam sie nur noch auf 3,3 Prozent der Stimmen und errang fünf Mandate. Es bräuchte einen eigenen Aufsatz, um zu analysieren, woran dieser dramatische Absturz liegt, aber eines ist klar: die Partei hat in den Jahren seit 1989 immer mehr ihre christlich-sozialen Gründungsprinzipien verwässert und besitzt kein Alleinstellungsmerkmal unter den Parteien mehr, was auch die rasche Säkularisation der Gesellschaft seit den sechziger Jahren widerspiegelt.
Die Entwicklung der CDA sagt aber auch viel über die Entwicklung der Politik in den Niederlanden allgemein: In den zurückliegenden Jahrzehnten ist die Politik oberflächlicher, technokratischer und globalistischer geworden, wodurch die Bürger mit der Landespolitik immer weniger anfangen können und somit auch ständig neue politische Parteien kommen und gehen. Es gibt kaum noch Vertrauen in die Politik und in die staatlichen Institutionen. So wurde diese Wahl für viele dann doch eine Protestwahl.
Bestimmende Themen waren vor allem die explodierenden Kosten für den Lebensunterhalt, einschließlich der höchsten Energiepreise für Privatkunden im europäischen Durchschnitt, der chronische Mangel an bezahlbarem Wohnraum, vor allem für junge Berufstätige mit noch niedrigen Gehältern, die ungezügelte Immigration, wobei die Integration durchaus nicht oder nur sehr beschränkt gelingt, und ein Gesundheitssystem, das für den normalen Bürger kaum noch leistbar ist. Unter vielen Niederländern grassiert auch eine Stimmung, die den jeweiligen Regierungen unterstellt, sie würden das Land zunehmend intransparent und undemokratisch führen. Eine grundlegende Reform der Verwaltungskultur und ein Wiederaufbau des Parlamentarismus wird als dringlich empfunden.
Kommt eine härtere Gangart in der Einwanderungspolitik?
Zunächst steht noch gar nicht fest, ob und wann es eine Koalitionsregierung unter einem Ministerpräsidenten Geert Wilders geben wird. Zurzeit laufen mühsame Verhandlungen zwischen den vier Mitte-Rechts-Parteien – Wilders’ PVV, der Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD), der Bauern-Bürger-Bewegung (BBB) und dem zentristischen Neuen Gesellschaftsvertrag (NSC). Wie üblich in den Niederlanden, ist dies ein langwieriger Prozess, der Monate dauern kann und nochmalige Neuwahlen nicht ausgeschlossen sind. Solange eine neue Regierung nicht vereidigt worden ist, bleibt das alte Kabinett Rutte IV als Übergansregierung im Amt, hat aber keine Mehrheit mehr im Parlament und darf nur noch die laufenden Geschäfte wahrnehmen.
Sollte allerdings eine neue Regierungskoalition mit diesen vier Parteien zustande kommen, dann wäre zuallererst ein Fokus auf innenpolitische Themen zu erwarten und eine weniger aktive Rolle Den Haags gegenüber dem Ausland, inklusive mehr Zurückhaltung bei EU-Agenden und eine kritische Haltung zu Brüssel. Vor allem ist eine härtere Gangart in Migrationsfragen zu erwarten und die Errichtung zusätzlicher Hürden für die Zuwanderung und eine wesentlich strengere Integrationspolitik.
Obwohl viel gesprochen wird über eine Reform der Staatsverwaltung und die Unterstützung der Bevölkerung bei den Lebenshaltungskosten und insbesondere dem Wohnen, wird hier in den kommenden Jahren nicht viel zu erwarten sein, weil das System dafür zu festgefahren ist. Die Probleme sind zu groß für schnelle Lösungen. Vieles wird auch davon abhängen, inwieweit die neue Führungsschicht in Den Haag bereit ist, „verrostete“ Strukturen aufzulösen und übertriebene Bürokratie abzubauen.
Wilders rudert schon zurück
Wird somit das grundsätzlich immer EU-treue Königreich der Niederlande nun zu einer Kältekammer der EU-Skepsis werden? Erinnerungen werden wach an den in den Niederlanden 2005 per Referendum abgeschmetterten EU-Verfassungsentwurf, zu dem eine deutliche Mehrheit von 61,5 Prozent der Teilnehmer nein sagten. Kann es sein, dass einer der Gründungsstaaten des EU-Vorläufers Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wirklich einen Kurs fahren wird, der Abstand nimmt von der EU?
In den Tagen direkt nach der Wahl wurde von allen eventuell möglichen Koalitionspartnern von Wilders’ PVV klargemacht, dass ein Ausstieg aus der Europäischen Union oder eine Anpassung der Beziehung der Niederlande zur EU nicht in Frage kommt. Geert Wilders selbst ließ wissen, dass diese heikle Frage auch nicht – anders als er es in seinem Wahlprogramm vorgeschlagen hatte – zu einer Volksabstimmung gemacht wird.
Gleiche Aussagen der Milderung folgten, was verschiedene andere umstrittene Pläne oder Programmpunkte der PVV anbetrifft. Inwieweit sich Wilders an diese Mäßigung halten wird, sollte er als Chef der größten Partei eine neue Regierung bilden, bleibt natürlich offen. Eines aber steht fest: Die Niederlande sind eine mächtige Handelsnation und wollen gern ihre Wirtschaft fördern. Auch Wilders wird daran nicht rütteln können. In Kombination mit der langen Tradition der Koalitionsregierungen wird es wohl zu pragmatischen Kompromissen kommen. Am Ende wird sich daher vieles von der Empörung der „politisch Korrekten“ über das niederländische Wahlergebnis als vollkommen überzogen herausstellen.
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