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Kolumne „Ein bisschen besser“

Schattenspiele

„Judith“, sage ich zu meiner Frau, „die Welt macht sich ständig etwas vor.“ „Ach ja?“, fragt sie und schaut fast nicht von ihrem Instagram-Gedöns auf. „Ja“, sage ich, „zum Beispiel, das, was du dir da gerade anschaust: Lauter schöne Menschen im Sonnenuntergang oder mit einem Orangendrink oder Hand in Hand mit dem Geliebten.“ Dabei werde in Wahrheit geschossen, verlassen, und regnen tue es jetzt auch noch dauernd.

Und dann hole ich ganz weit aus. Ich glaube nämlich, dass die Menschheit auf dem Holzweg ist, wenn sie glaubt, dass es Liebe ohne Leiden gibt, wenn sie denkt, dass die Grenzen sperrangelweit aufstehen sollen, aber jeder zu Hause erst mal hinter sich die Türe abschließt, wenn sie meint, dass sie wirklich die letzte Generation ist, wie das seit Menschengedenken vor ihnen bereits so ziemlich jede Generation gedacht hat, wenn sie das Klima für die nächsten hundert Jahre vorhersagt, aber sich schon beim Wetterbericht für morgen irrt, wenn sie ihr Geschlecht wie ein Pokerspieler seine Karten behandelt, die er zurückgibt, wenn ihm das Blatt nicht passt.

Ich sprüh’s an jede Wand, bin der Prophet im eignen Land

Ich glaube, es ist ein bisschen besser, wenn endlich einer all diesen sich selbst etwas Vormachenden einmal wie einst dem Kaiser mit seinen neuen Kleidern zuruft: „Ihr habt ja gar nichts an!“ Und dieser eine, stelle ich mir vor, der bin ich. Ich sprüh’s an jede Wand, ich ruf’s vom Kirchturm, ich poste es eine Million Mal oder zwei, ich rufe es einsam in die Wüste, ich bin der Prophet im eigenen Land: Ja, ich reiße der Welt die Larve ab, ich rüttele sie und schüttele sie. „Judith, ich werde die Wahrheit verkünden. Ich werde dafür sorgen, dass Schluss ist mit den Schattenspielen. Ich werde brüllen: Ihr habt nichts an.“

Sie schaut auf. Sie ist die Fotografin von uns beiden, ich bin vielleicht der Wortgewaltigere, aber sie hat die Macht über die Bilder und versetzt jetzt meiner Wahrheitsliebe einen festen Tritt: „Ich will schöne Bilder machen“, sagt sie „die hässlichen interessieren mich nicht.“ Ich bin verdutzt, ich gebe mich geschlagen, ich ziehe mich zurück. „Du hast ja gar nichts an“, sagt sie, als sie später nachkommt, und ich fühle mich wie ein Kaiser.

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