Gut, dass du dich auflehnst
Meine Mutter war mit Einkaufstüten bepackt und hatte keine Hand frei, just als ich beschloss, mich mitten auf die Straßenkreuzung zu setzen. Ich war damals knapp zwei Jahre alt und wollte mich partout nicht wegbewegen. Es wurde ein Kampf, so wie es immer wieder ein Kampf mit mir ist, weil ich meinen ganz eigenen Kopf habe. Ich mag es, mich zu widersetzen. Und ich mag es, wenn andere sich mir widersetzen. Verbringe ich Zeit mit Kindern, ist für mich wesentlich, sie in ihrer Eigenheit zu bestärken und also auch darin, „Nein“ zu sagen und sich aufzulehnen. Das stets folgsame, das sogenannte „brave“ Kind ist nur für diejenigen ein Ideal, die sich einen Untertanen wünschen.
Nun mag man einwenden, dass individuelle Anpassungsbereitschaft erforderlich ist, um sozial zurechtzukommen. Die Frage ist nur, inwiefern dadurch die Fähigkeit erlahmt, sich zu widersetzen. Und damit eine wesentliche Fähigkeit, um eine Demokratie gesund und lebendig zu erhalten. Ungehorsam zu leisten ist kein Trotz, ist keine rebellische Attitüde. Die Philosophin Hannah Arendt sprach von einer Pflicht. Ihre Forschungen über den Totalitarismus führten zwangsläufig zu dieser Erkenntnis.
Tugendterror, Cancel Culture, „Petz-Portale”
An diese Pflicht zu erinnern und darüber nachzudenken, wie wir gerade auch Kinder dazu inspirieren können, ist in diesen Zeiten mehr als notwendig. Die gesellschaftlichen Entwicklungen sind besorgniserregend; ideologische Vereinnahmungsversuche, Tugendterror und Cancel Culture stehen an der gesellschaftlichen Tagesordnung. Im Internet strömen permanent Hetzmeuten gegen unliebsame Meinungen aus, staatliche und halbstaatliche „Petz-Portale“ und -Apps drängen die Deutschen dazu, ihre Mitbürger zu denunzieren – und damit zu demokratiefeindlichen Methoden.
Einem aktuellen Befund von Michael Hüter zufolge ist allerdings von der Jugend kaum zu erwarten, dass sie sich dagegen auflehnt, denn sie sei die „konformistischste seit beinahe fünf Jahrzehnten“. Der Kindheitsforscher ist zu Recht alarmiert. Schließlich sei „eine Gesellschaft, in der die Jugend nicht mehr hinterfragt, nicht aufbegehrt und sich den ‘Alten’ zuerst einmal widersetzt, sondern stattdessen blind gehorcht, wahrlich vergreist, an ihr Lebensende gekommen.“ Ist es das, was wir wollen, den Tod einer Gesellschaft? Und was folgt dann? Was droht uns von Regierenden, die ohnehin den eigenständigen, den selbstdenkenden Menschen gering zu schätzen scheinen?
Kinder brauchen Eltern mit Widerstandsgeist
Mein Widerstandsgeist hat seine Wurzeln nicht nur in meinem Charakter, sondern auch in der Biografie meiner Eltern, die aus dem tschechoslowakischen Kommunismus geflohen sind und mich ein gesundes Misstrauen gegenüber der Regierung lehrten. Obwohl ich im Westen Deutschlands sozialisiert bin, habe ich deshalb einen Seismografen in mir ausgebildet, wie ihn auch die Menschen aus der DDR haben dürften.
Ich bin sofort argwöhnisch, wenn beispielsweise in Bezug auf die Corona-Maßnahmen verkündet wird: „Diese Regeln dürfen überhaupt nie hinterfragt werden“ oder wenn es heißt: „In einer Demokratie hat man zu gehorchen“. Im Grundgesetz, nach dem ich mich gerne ausrichte, lese ich weder das eine noch das andere. Wenn Politiker also diese Pfade verlassen, braucht es Menschen, die sie entsprechend daran erinnern. Auch deshalb gibt es das Recht auf Demonstrationen.
Erleben Kinder also Eltern, die selbst Widerstandsgeist in sich tragen und ausleben, ist natürlich eine profunde Basis gelegt. Zudem braucht es die grundsätzliche Bereitschaft, mit Ungehorsam souverän umzugehen. Gewiss, Eltern sollen Grenzen setzen, nicht als pädagogische Maßnahme, sondern wenn sie fühlen, dass gerade ihre eigene Grenze überschritten wird, zugleich können sie sich darin üben, dem Kind sein Aufbegehren zuzugestehen. Das ist freilich leicht gesagt, denn wenn es im Alltag hoch hergeht, kann einen ein mehrfach entgegengeschleudertes „Nein“ schnell zur Verzweiflung treiben.
Das Aufbegehren des Kindes wertschätzen
Statt aber verbissen Kämpfe auszufechten, lohnt, eine andere Haltung auszuprobieren, indem man dem Kind signalisiert, dass man seinen Widerstand wertschätzt – was nicht automatisch bedeutet, dass man ihm nachgibt. Wesentlich ist, dass sich das aufbegehrende Kind weiterhin geliebt und gesehen weiß. Ohnehin gibt es keinen Grund, es deshalb abzulehnen – ist seine Fähigkeit, sich zu widersetzen, doch der Ausdruck von beachtlicher Vitalität.
Nicht jedes „Nein“ ist allerdings ein Indiz für Widerständigkeit, es kann auch ein Hinweis sein auf, unter anderem, Überforderung, Müdigkeit oder körperliches Unwohlsein. Zugleich ist Ungehorsam weit mehr als etwas abzuwehren. Er fußt auch auf der Fähigkeit des Zweifelns, die Grundvoraussetzung für jedes Philosophieren ist. Gemäß Descartes ist der Zweifel ohnehin die einzige Gewissheit, die wir haben können, er sei „so gewiss, dass du nicht daran zweifeln kannst“. Ihn zu erlauben, ihn zu befördern, dafür gibt es in den Interaktion zwischen Eltern und Kind ausreichend Gelegenheit. Und nur dann lässt sich übrigens das von Immanuel Kant ausgerufene „Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ leben.
Schon in der Antike wurden Andersdenkende vertrieben
Während der Regierungszeit des römischen Kaisers Vespasian wurden übrigens die philosophischen Schulen, insbesondere die der Stoiker, als politische Bedrohung angesehen – deren Anhänger wurden daher, als erste Amtshandlung des Herrschers, aus Rom vertrieben. Wen wundert’s. Die Abneigung der Regierenden gegen die, die sich andere, eigenständige Gedanken machen und daher manipulativ schwer einzufangen sind, ist geblieben. Auch sonst macht sich der, der eigen ist und daher nicht dem hinterhertrottet, was andere sagen oder tun, nicht immer beliebt. Mitunter findet er sich plötzlich in einer Außenseiterposition wieder.
Allein: Wer will schon am Rande stehen? Womöglich noch schief angesehen und ausgelacht, schlimmstenfalls gemobbt werden? Wollen wir denn nicht alle dazugehören? Doch wer nicht im Gleichschritt geht, wer Widerstand leistet, wird sich damit abfinden müssen, dass er ausgegrenzt wird, beziehungsweise sich selbst ausgrenzt. Jonathan Meese kennt das. Der Maler aus Berlin gilt als Enfant terrible. Er selbst bezeichnet sich als „Spielkind“. Oder als „Seewolf“. Manchmal auch als „Robinson Crusoe“. Auf einer Insel alleine sein Ding durchzuziehen, das sei genau das Richtige.
Überhaupt möge er, wie er mir in einem Interview erzählte, alle Einzelgänger, „die hart am Sturm segeln“. Es sei überhaupt nicht schlimm, nicht dazuzugehören, versicherte mir Jonathan Meese. „Man muss den Kindern heutzutage sagen, dass es eine Stärke ist, ein Außenseiter zu sein.“
Das mag sich wie eine Provokation anhören. Aber es ist doch so: Wer schon draußen ist, muss sich keine Sorgen machen, ausgeschlossen zu werden. Die Drohkulisse der sozialen Verbannung fällt weg. Von dieser Position aus scheint es plötzlich ganz leicht: Man spricht das aus, was andere, weil sie den Ausschluss fürchten, nicht auszusprechen wagen. Man geht in den Widerstand, man stellt sich quer, wo andere im Trott marschieren.
Außenseitertum ist notwendiger Gegenentwurf
Daher, man kann es drehen und wenden, wie man will: Es kann keine bessere Prävention gegen autokratische und totalitäre Bestrebungen geben als die Bereitschaft zum Außenseitertum. Erst dadurch werden Debatten wieder mutiger beziehungsweise zu dem, was im Eigentlichen eine Debatte ausmacht: Rede und Gegenrede.
Das Außenseitertum ist demnach der notwendige Gegenentwurf in einer Zeit, in der es nur noch darum zu gehen scheint, wie man sich möglichst viel Zustimmung und Applaus sichern kann. Das Skandieren der „richtigen“ Parole, das Hissen der „richtigen“ Fahne, das Tragen der „richtigen“ Armbinde ist dann unabdingbar, um im gesellschaftlichen Überlebenskampf zu bestehen.
Zu beschönigen gibt es nichts. Der Einzelne, der am Rande Stehende spürt oft den rauen Wind. Trotzdem, und das mag Trost geben, ist er in guter Gesellschaft: Alle großen Geister, alle Menschen, die Geschichte gemacht haben, weisen, mal mehr, mal weniger, Merkmale des Typus Außenseiter auf. Um ein Einzelner zu werden, ist es nie zu spät. Und sei es nur zum passenden Zeitpunkt am passenden Ort. Und vielleicht müssen Eltern das mitunter erst selbst nachholen, um es schließlich auch ihrem Kind zu ermöglichen.
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