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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Beim Barte des Propheten!

Es könnte kalt werden im Winter. Sogar in der reichen Schweiz. Ein Energieengpass droht. Links und Rechts prügeln sich zu der Frage, welche Energieträger wo und wann und in welchem Maß erlaubt sind. Atomkraft ist generell pfui, die Kraft der Sonne reicht nicht, und Windräder will keiner vor der Tür. Holz verbrennen? Aber bitte: Das verursacht tödlichen Feinstaub!

Würde man den ganz normalen Bürger fragen, so lautete seine Antwort auf die Frage nach der richtigen Lösung vermutlich: „Was auch immer ihr tut, es ist mir egal, solange ich nicht in der eigenen Wohnung erfriere.“ Aber den ganz normalen Bürger fragt bekanntlich keiner. Der soll einfach Steuern zahlen.

Dann haben wir den Fachkräftemangel, die personelle Unterbesetzung in vielen wichtigen Bereichen. Den muss die Migration beheben, weil die Schweizer selbst offenbar zeugungsunlustig sind. Klingt gut. Hier die Realität: Einer von fünf, der aus der Ferne in die Schweiz strömt, gilt als halbwegs qualifiziert in einem wichtigen Bereich. Alle anderen belasten in erster Linie das Sozialsystem und die Infrastruktur. Vor allem nach dem obligaten Familiennachzug. Eine hervorragende Idee scheitert also grandios. Was heißt das in der Praxis? Wir lassen einfach noch mehr rein und schauen mal, was passiert.

Radio Eriwan und ein Bart für Klicks

Und schließlich die Alters- und Hinterlassenenversicherung, kurz AHV. Das gutgemeinte Vehikel soll den Menschen nach dem Ende der aktiven Berufslaufbahn ein anständiges Leben ermöglichen. Was langsam schwierig wird, weil immer mehr Leute an diesem Ende stehen und immer weniger nachkommen, um in die Kasse einzuzahlen. Die AHV ist deshalb in Schieflage. Schon bald wird die Zahl der Menschen im Ruhestand und in der Schule die der Erwerbstätigen übertreffen. Das einst gefeierte Instrument wirkt wie ein Patient, der an zehn tödlichen Krankheiten zugleich leidet, und die Ärzte, die sich um sein Bett scharen, diskutieren über seinen eingewachsenen Zehennagel.

Kurz und gut: Man kann nicht behaupten, dass es dem kleinen Land an großen Baustellen fehle. Zumal die Aufzählung der Probleme unvollständig war. Also nichts wie ab an die Arbeit und Lösungen finden, richtig?

Radio Eriwan meint: „Im Prinzip ja, aber es ist zu komplex. Lasst uns deshalb lieber über etwas anderes sprechen.“

Zum Beispiel über einen Bart. Ernsthaft. Nicht symbolisch. Wörtlich. Die Schweiz diskutiert über einen Bart. Während wir vor einem kalten Winter ohne qualifiziertes Pflegepersonal und einer Lücke in der Altersfinanzierung und einer noch nie dagewesenen Flüchtlingswelle im Herbst stehen.

Und die Zukunftsaussichten unseres Landes?

20 Minuten, eine kostenlos verteilte Zeitung und dadurch gesegnet mit der größten Verbreitung im Land, ortet in der Gesichtsbehaarung das Thema, über welches das Land derzeit dringend sprechen sollte. Denn Ueli Maurer, einstiges Mitglied des Bundesrats, also der Landesregierung, hat sich einen Bart wachsen lassen, wie sein Auftritt an einem Anlass zeigte. Keinen besonders rauschenden, aber dennoch unübersehbar.

Sein persönlicher Aufwand dafür war vermutlich nicht allzu groß. Männer wissen: Wenn sie einen Bart wollen, müssen sie zunächst einfach mal nichts tun. Das reicht bereits. Und ja, vermutlich klicken mehr Leute auf einen Artikel über einen „neuen Look“ als auf einen Beitrag über Ideen zur Altersfinanzierung. Der Reflex der Journalisten und der Leser ist menschlich nachvollziehbar.

Man kann das lustig finden. Das ist vielleicht sogar ratsam, weil es nicht das schlechteste Rezept ist, das Elend einfach wegzulachen. Man kann sich aber auch fragen: Welche Zukunftsaussichten hat ein Land, dessen Medien den Bartwuchs eines früheren Regierungsmitglieds thematisieren, während vieles von dem, was wir für selbstverständlich halten, wegbricht? Während die Zukunft der Gesellschaft ungewiss ist?

Behaarung als journalistische Höchstleistung

Wer nun hofft, es habe sich um einen einzelnen Aussetzer gehandelt, wird enttäuscht. Kurz zuvor haben die Schweizer Medien nämlich einen anderen Bart thematisiert. Den des noch bis Ende des Jahres amtierenden Bundesrat Alain Berset, seines Zeichens Innenminister. Der hatte beschlossen, sich im Urlaub nicht mit Rasierklingen zu beschäftigen, fotografierte das Ergebnis und beherrschte kurz danach die Schlagzeilen.

Wir erfuhren auf diesem Weg auch, dass Berset in der Lage ist, unter der Sonne braun zu werden – entgegen jedem Naturgesetz, bravo! – und eine behaarte Brust hat. Das hilft der AHV, die in sein Ressort fällt (und zu deren Rettung er nichts beigetragen hat), vermutlich kaum etwas, aber eben: Die Diskussion über sprießendes Haar ist weit weniger aufwendig als die Zahlenschlacht um die Finanzierung des Alters.

„Wag the dog“ hieß eine filmische Satire aus dem Jahr 1997, in der es darum ging, wie die Politik mit konstruierten Nebenschauplätzen von den eigentlichen Problemen ablenkt, um besser dazustehen. Der Streifen thematisierte die Manipulation der Medien durch die Mächtigen.

Zielsicher die Schweiz ruinieren

Das ist 26 Jahre her, und heute können wir feststellen: Diese Machenschaften sind unnötig geworden. Die Mächtigen müssen die Medien gar nicht mehr manipulieren. Das erledigen die ganz von allein. Journalisten, die es als ihren Job sehen, die neue Gesichtsbehaarung eines ehemaligen Bundesrats zur Schlagzeile zu machen, haben zwar ihren Beruf verfehlt, aber nicht die beabsichtigte Wirkung. Was soll man sich denn auch tagelang mit komplexen Berechnungen über die drohende Altersschere auseinandersetzen, wenn man auch einfach über einen Bart schreiben kann? Möglicherweise winkt ja danach sogar eine bezahlte Partnerschaft mit Gillette, Braun oder einem anderen Hersteller von Rasierern.

Es sind goldene Zeiten für Politiker. Man muss keine Wahlversprechen einhalten. Man muss nichts zur Lösung von Problemen beitragen. Wenn unangenehme Fragen drohen, lässt man sich einfach einen Bart wachsen. Oder erscheint kahlrasiert vor den Medien, wenn man vorher bereits einen hatte. Wann tauscht der erste Politiker sein wallendes Haupthaar mit einer Glatze, um vom eigenen Versagen abzulenken?

Es ist eine Frage der Zeit. Was übrigens auch für die Energiekrise und die Zahlungsunfähigkeit der Kasse für alte Menschen gilt. Aber eben: Das interessiert sowieso keinen. Rentner dürfen ihr Kleingeld zusammenkratzen, um den Einkauf zu erledigen, während die Medien der Frage nachgehen, wer sich gerade einen Bart hat wachsen lassen. Zielsicherer lässt sich ein Land gar nicht ruinieren.

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Kommentare

Kommentar
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H.u.P.Dornfeld
Vor 1 Jahr 2 Monate

Das ist so bitter, dazu fällt einem nicht einmal mehr ein sarkastischer Kommentar ein. Und dazu sollte es tatsächlich 2% NEIN-Stimmen geben? In diesem christlichen Blatt? Von denjenigen hätten wir gar zu gerne eine Begründung hier gelesen.
Nachsatz:
Vielleicht hat es Immerhin dasjenige Gute, dass - im Vergleich -, die deutsche Journaille es nicht bei Ablenkungsmanövern belässt, sondern aktiv zum Halali auf Andersdenkende bläst, aktuell auf Herrn Aiwanger, aus dieser Perspektive wär's dann das kleinere Übel. Ergebnis dasselbe.

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Helene Dornfeld
Vor 1 Jahr 2 Monate

Ups, die Neinstimmen haben sich verdoppelt!? Dabei sind schon Titel und Untertitel so unschlagbar prägnant: Beim Barte des Propheten - Behaarung als journalistische Höchstleistung.

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Helene Dornfeld
Vor 1 Jahr 2 Monate

Ups, die Neinstimmen haben sich verdoppelt!? Dabei sind schon Titel und Untertitel so unschlagbar prägnant: Beim Barte des Propheten - Behaarung als journalistische Höchstleistung.

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H.u.P.Dornfeld
Vor 1 Jahr 2 Monate

Das ist so bitter, dazu fällt einem nicht einmal mehr ein sarkastischer Kommentar ein. Und dazu sollte es tatsächlich 2% NEIN-Stimmen geben? In diesem christlichen Blatt? Von denjenigen hätten wir gar zu gerne eine Begründung hier gelesen.
Nachsatz:
Vielleicht hat es Immerhin dasjenige Gute, dass - im Vergleich -, die deutsche Journaille es nicht bei Ablenkungsmanövern belässt, sondern aktiv zum Halali auf Andersdenkende bläst, aktuell auf Herrn Aiwanger, aus dieser Perspektive wär's dann das kleinere Übel. Ergebnis dasselbe.