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Das Christentum als Kulturfaktor

Edle Antike – moralinsaures Christentum?

Die Antike, die attische Welt und das alte Rom werden bis heute als Hochkultur verehrt und das Christentum als moralinsauer, genuss- und damit lebensfeindlich geschmäht. Bewundert werden Philosophen wie Sokrates und Platon, als geniale Denker verklärt, gefeiert – so etwa von Michel de Montaigne, der Sokrates den „Meister aller Meister“ nannte, aber auch von Bertrand Russell und Karl Jaspers, obwohl diese den Sklavenhaltergesellschaften ihrer Zeit treu ergeben waren.

In der griechischen und römischen Antike blühten männerbündische Zirkel auf, hedonistische Lustbarkeiten jeglicher Art wurden genussvoll zelebriert, und die Knabenliebe war erlaubt. Einzig das Christentum galt als sittenstrenger, ungeschmeidiger Spielverderber.

Der Altphilologe Erich Bethe schreibt 1906 nicht ohne Sympathie für die Kultur der Lehrer-Schüler-Beziehungen, aber despektierlich gegenüber den Christen, die die Päderastie als „widernatürliche Unzucht“ bezeichneten. Verständnisvoll äußert sich Bethe über die „dorische Knabenliebe“: „Wäre doch ohne sie die sokratisch-platonische Erotik nicht möglich gewesen.“ In der hellenischen Welt sei diese Ausdruck der „unbedingten Hingabe“ gewesen.

Er schließt, dass diese „allgemein geübte Lust“ in der Antike verbreitet gewesen sei, als „ein nothwendiges Element des eleganten, griechisch gebildeten Lebens“: „Erst die christliche Kirche, die von jeher gegen dies Heidenlaster besonders geeifert, hat die Päderastie aus der christlichen Gesellschaft verbannt und, da sie es nicht durch geistige Mittel vermochte, im Jahre 342 ihre criminelle Bestrafung durchgesetzt.“ (Erich Bethe: „Die Dorische Knabenliebe. Ihre Ethik und ihre Idee“).

„O schöner Knabe“

Diese Praktiken klingen auch heute noch in den emphatischen Reden in Platons Dialog „Phaidros“ wider – „O schöner Knabe“, ruft der betörte Sokrates gegenüber dem Jüngling Phaidros aus. Eine Reihe hymnischer Reden über den Eros, insbesondere über Formen und Varianten der Knabenliebe beginnt, in der körperliche Berührungen zwischen dem Liebhaber und dem Geliebten beim Sport angedeutet und symbolhaft-metaphorisch geschildert werden. Der Philosoph als Liebhaber seines Zöglings, dem „große und göttliche Vorzüge“ zuerkannt werden, befördert durch seine Zuwendung dessen geistiges Wachstum und „erfüllt auch des Geliebten Seele mit Liebe“ (Phaidros, Abschnitt 255).

Thomas Mann adaptierte in seiner 1911 entstandenen Novelle „Der Tod in Venedig“ Passagen daraus, um das schwärmerische Begehren Gustav von Aschenbachs für den juvenilen Tadzio zu schildern.

Wer aus christlicher Sicht Platons Hymnus vernimmt, ist zunächst verwundert und bei längerem Nachdenken verstört. Sollte etwa ein hochgeschätzter Philosoph wie Sokrates, den Bertrand Russell zu den meisterhaften Denkern des Abendlandes zählte, die Knabenliebe nicht nur billigen, sondern sogar die Macht des pädagogischen Eros darin erkennen und feiern? Beziehungen wie diese sind Ausdrucksformen einer päderastischen Praxis, die seitens des Christentums von Anfang an entschieden als unmoralisch abgelehnt wurde.

Die christliche Moral erwies sich als Korrektiv gegen die in der antiken Welt verbreitete Päderastie. Diese bedeutete nämlich einen Bruch mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen und einer kulturell etablierten Lebensform, die heute völlig zu Recht strafrechtlich verfolgt wird und noch schärfer verfolgt werden müsste.

Der römische Familienvater war Herr über Leben und Tod

Doch der Lobpreis der Antike, auch unter Gelehrten, hält an. Warum eigentlich? Neben der Knabenliebe wandte sich das Christentum gegen eine weitere lebensfeindliche Praxis. Eindeutig stand die junge Kirche – mit den Worten von Papst Johannes Paul II. gesagt – als „Zivilisation der Liebe“ gegen die „Kultur des Todes“. Der vermeintlich sanfte Tod, die Euthanasie, war eine gängige und goutierte Praxis römischer Bürger, um schmerzfrei aus dem Leben zu scheiden – und jede neuheidnische „Fortschrittskoalition“ der Gegenwart könnte mit ihren Fantasien und Wünschen über die Ermöglichung des assistierten Suizids für alle leicht historische Vorbilder finden.

Lebensschutz war für die Römer ein Fremdwort, die Frau gehörte zum Besitzstand des Ehemannes. Schon der griechische Philosoph Platon hatte in seinem Hauptwerk „Der Staat“ nicht nur gedankliche Grundlagen für die Abtreibung, sondern auch für die postnatale Kindstötung vorgestellt. Es gelte „am liebsten dafür zu sorgen, dass die Frucht, wenn sie erzeugt ist, gar nicht das Licht erblicke, sofern es aber nicht verhindert werden kann, es so zu halten, als gäbe es keine Nahrung für einen solchen“.

Von der Würde der Person war nicht die Rede, vielmehr galt die Gattin als ein dekoratives Accessoire. Oder sie wurde im Hausstand schlicht geduldet, wenn sich der römische Bürger erotischen Abenteuern hingab, ganz gleich, ob er sich mit Hetären, Sklavinnen oder Lustknaben vergnügte. Dem Familienvater war es gemäß dem römischen Recht zudem vorbehalten, Herr über Leben und Tod zu sein. Das Oberhaupt der Familie entschied darüber, ob Babys leben durften oder sterben mussten.

Dazu zählte auch der „Infantizid“, die Tötung Neugeborener, gehörten diese Gewaltakte doch zu den antiken Sitten, Gebräuchen und Vorrechten, für die kein Familienvater eine Bestrafung oder gesellschaftliche Ächtung fürchten musste.

Das Christentum opponierte gegen die heidnische Leitkultur

Noch heute vernehmen Lateinschüler das Credo des antiken Körperkultes: „Mens sana in corpore sano“ – „Ein gesunder Geist gehört in einen gesunden Körper“. Zugleich wurde der Mord an unerwünschten, besonders behinderten, also an körperlich oder geistig beeinträchtigten Kindern nicht nur gebilligt, sondern gesellschaftlich gutgeheißen und anerkannt. Die Antike war also gewissermaßen eine skandalöse „Hochkultur“ des Unrechts und der Unmoral.

Es bedurfte einer Aufklärungsbewegung, die für notwendige Korrekturen sorgte, einerseits was den Lebensschutz, andererseits was die Ordnung der Liebes- und Lebensverhältnisse und die Anerkennung der Würde der Frau betraf. Zunehmend opponierte das Christentum gegen die heidnische Leitkultur, so etwa Tertullian im Jahr 197, als er im „Apologeticum“ entschieden darlegte:

„Wir hingegen dürfen, nachdem uns ein für alle Mal das Töten eines Menschen verboten ist, selbst den Embryo im Mutterleib nicht zerstören. Ein vorweggenommener Mord ist es, wenn man eine Geburt verhindert; es fällt nicht ins Gewicht, ob man einem Menschen nach der Geburt das Leben raubt oder es bereits im werdenden Zustand vernichtet. Ein Mensch ist auch schon, was erst ein Mensch werden soll – auch jede Frucht ist schon in ihrem Samen enthalten.“

Erst unter Kaiser Konstantin dem Großen wurde 318 n. Chr. die Kindstötung in der Familie durch den Familienvater verboten. Der „Infantizid“ galt fortan als Mord.

Heute wie damals kommt es auf Kirche und Christen an

Bestimmte Formen der antiken „Kultur des Todes“, wie Päderastie, Abtreibung und Kindstötung, wurden durch den zunehmenden gesellschaftlichen, kulturellen und schließlich mit Konstantin auch politischen Einfluss des Christentums geächtet. Und in der Gegenwart?

Am 7. Juli 2022 forderte das EU-Parlament mehrheitlich, das Recht auf Abtreibung in die Grundrechtecharta aufzunehmen – ein skandalöses Votum, bezeichnend für das politische Rechtsbewusstsein eines Kontinents, der seine christlichen Wurzeln weithin vergessen zu haben scheint. Dieser Entschluss der sich für aufgeklärt, emanzipiert und fortschrittlich haltenden EU-Parlamentarier erinnert an die bis heute weithin glorifizierte Antike, mit der einzigen Ausnahme, dass aus dem antiken Männerrecht nun ein allgemeines Menschenrecht werden soll.

In der Antike trat die junge Kirche in Gestalt von Märtyrern und Christen als vernünftigste, einzig wahre Aufklärungs- und Emanzipationsbewegung der abendländischen Geschichte gegen die antike „Kultur des Todes“ auf und für die „Zivilisation der Liebe“, d. h. für den Schutz des menschlichen Lebens, ein, von der Empfängnis bis zum Lebensende. Dies wäre heute in gleicher Weise sehr nötig, denn in der neuheidnischen Postmoderne sind wir wieder umgeben von bedrohlichen Zeichen der Zeit.

Gegen die neue „Kultur des Todes“ im 21. Jahrhundert könnte derselbe Kulturfaktor wirksam werden wie in der Antike: das Christentum und damit die christliche Morallehre, die, glaubwürdig gelebt und weltoffen vertreten, als ethischer Kontrapunkt in dieser Zeit die Bürger des alten Europas über das Geschenk des menschlichen Lebens und die „Zivilisation der Liebe“ (Johannes Paul II.) neu aufklären könnte.

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Kommentare

Kommentar
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Marie-Luise Notar
Vor 7 Monate 3 Wochen

Einmal mehr hat die Bibel--wie immer -- recht, indem sie; bzw Salomo sagt:
NICHTS NEUES UNTER DER SONNE

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Marie-Luise Notar
Vor 7 Monate 3 Wochen

Einmal mehr hat die Bibel--wie immer -- recht, indem sie; bzw Salomo sagt:
NICHTS NEUES UNTER DER SONNE