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Dragshows, Smartphones, volle Terminkalender

Wann dürfen Kinder wieder Kinder sein?

Eine Dragqueen tritt in einem Nachtclub für Erwachsene auf. „Dort gibt es viel Schmutz, viel Sexuelles, und hinter der Bühne gibt es viel Nacktheit, Sex und Drogen“, berichtet Kitty Demure auf seinem YouTube-Kanal. Hinter diesem Künstlernamen verbirgt sich ein männlicher Entertainer, der mit einer sehr übertrieben geschminkten Version eines weiblichen Gesichts auftritt.

Kitty Demure ist also ebenfalls eine Dragqueen, aus den USA stammend, und er macht in seinem Video deutlich, dass er kein Verständnis dafür hat, warum Menschen unbedingt wollen, dass Dragqueens Aktionen für Kinder veranstalten: „Das ist extrem, extrem unverantwortlich.“ Sollen etwa, fragt der Künstler folgerichtig, auch Stripper und Pornostars zu den Kindern kommen und sie beeinflussen?

Angesichts der aktuellen, vor allem aus dem sogenannten „woken“ Milieu vorangetriebenen Entwicklungen, die mindestens bedenklich sind, muss auch darüber nachgedacht werden, was es heutzutage bedeutet, Kind zu sein. Dem vorangesetzt ein Rückblick.

Zu keiner Zeit wusste man mehr über die Bedürfnisse von Kindern als heute

Ende der 1970er Jahre machte sich der Kinderrechtler Ekkehard von Braunmühl in seinem – sehr lesenswerten – Buch „Zeit für Kinder“ diese Gedanken: „Zu keiner Zeit wurden Kinder mehr beachtet, wussten die Erwachsenen mehr über das Wesen von Kindern, über die Bedürfnisse von Kindern, über die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen sich Kinder am besten entwickeln. [. . .] Die freie Entfaltung der Persönlichkeit wird garantiert, die Würde des Menschen ist unantastbar, Selbstbestimmung und Mitbestimmung, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und andere vielversprechende Begriffe haben Hochkonjunktur – es könnte, es müsste eine reine Lust sein, als Kind in dieser Zeit zu leben.“ Trotzdem sei „irgendwie und irgendwo der Wurm drin“.

Das ist er, gut vierzig Jahre später, nicht minder. Was vor allem daran liegt, dass Erwachsene die Welt bis in alle Winkel hinein ganz nach ihrem Bilde eingerichtet haben. Auch und gerade in Bereichen für Kinder zeigt sich, dass sie geprägt sind von den Idealen und Vorstellungen der „Großen“. Das Bibelzitat „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“ hat sich umgekehrt in „Ihr sollt alle leben wie Erwachsene“.

Bereits Dreijährige hängen am Smartphone, trinken Cola und schaufeln Chips in sich hinein wie geschlechtsreife Couch-Potatoes. Kindergartenkinder werden frühsexualisiert, damit bedrängt, über einen Geschlechtswechsel nachzudenken und permanent mit erwachsenen Gefühlen bombardiert: Sie konsumieren Disneyfilme, in denen von der großen Liebe die Rede ist und der Sehnsucht nach einem Kuss. Sie erfahren auch, was es bedeutet, wenn einem das Herz bricht, weil man nicht zurückgeliebt wird von dem, nach dem man sich verzehrt. In Schulen werden Kinder aufgefordert, ihre „Lieblingsstellung“ zu zeigen; sie sollen Massagen üben und Bordelle planen.

Chinesisch-Kurs am Montag, Karate am Mittwoch, Yoga am Freitag

2020 sorgte der französische Spielfilm „Cuties“ für mediale Empörung. Die dort gezeigten 11-jährigen Protagonistinnen in bauchfreien T-Shirts und knappen Shorts tanzten viel zu lasziv und bedienten sich vorwiegend des Tanzstils des Twerking. In Wahrheit hält der Film der Gesellschaft den Spiegel vor die Augen: Frühsexualisierte junge Mädchen, die das Teenageralter noch nicht erreicht haben, gehören zum Alltag vieler Schulen und sozialer Medien wie TikTok.

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Entsetzlich genug. Außerdem müssen die Sprösslinge dringend das Klima retten, die Eltern zum Lastenfahrrad überreden und darauf achten, dass beim Frühstück Kakao und Müsli fairtrade sind. Kaum den Windeln entwachsen, ist ihr Terminplan mindestens so voll wie der von Mama und Papa. Chinesisch-Kurs am Montag, Karate am Mittwoch, Yoga am Freitag, dazwischen Diäten und Fitnessstudio-Besuche.

Kinder sollen Kleidung tragen, die der Mode von Erwachsenen entspricht, und sie sollen Spiele nach Vorstellung der Erwachsenen spielen; es wird Wert auf Leistungs- und Spitzensport gelegt. Stress und Erschöpfung gibt’s gratis mit dazu. Auch Erwachsenenkrankheiten breiten sich bei Kindern immer mehr aus wie etwa die als Burnout getarnte Diagnose Depression.

„Das Verschwinden der Kindheit“

Natürlich, diese Tour de Force gilt nicht für alle Kinder in unserer Gesellschaft, und es darf auch hier ein deutliches Gefälle vermutet werden zwischen (Groß-)stadt und Land, aber die unheilvolle Entwicklung schreitet rapide voran. Und das schon seit Jahrzehnten. In seinem im Jahr 1982 veröffentlichten Buch „Das Verschwinden der Kindheit“ zeigte der amerikanische Medienwissenschaftler Neil Postman bereits auf, dass die Kinderwelt nicht dem Wesen des Kindes gemäß ist, sondern in die Erwachsenenwelt übergeht, also der Lebensstil der Kinder dem der Erwachsenen sehr ähnlich beziehungsweise identisch geworden ist. Er spricht von dem „vielleicht folgenschwersten kulturellen Kolonisierungsunternehmen in der Gegenwart“.

Dabei missachte oder destabilisiere man die Spielräume der Kinder, ihre inneren Geschichten und ihre spezifische Zeitrechnung. Die elektronischen Medien seien machtvolle Beschleuniger dieser Entwicklung. Besonders der Fernseher, heute wäre adäquat das Internet zu nennen, reiße Postman zufolge eine Barriere nieder, durch die Kinder einen Zugang zu Themen bekommen, die Erwachsenen vorbehalten sind und sie daher überfordern.

Problematisch dabei sei, dass auch brisante Themen oft auf Unterhaltungsniveau aufbereitet werden. Damit gehe einher, dass die Grenzen der Scham überschritten werden und also Kinder mit einer rohen oder zweideutigen Sprache konfrontiert werden, die sie noch nicht verstehen und dennoch nicht selten imitieren.

 Das Verschwinden der Kindheit ist kein neues Phänomen, sondern es beschreibt vielmehr einen Rückfall in Zeiten, in der Kindheit als eine in der Lebensspanne gesonderte Zeit unbekannt war. Sowohl in der Antike wie auch noch im Mittelalter war Kindheit kein Begriff in dem Sinne, wie wir ihn heutzutage verstehen beziehungsweise zu verstehen glauben. Erst vor gut 400 Jahren änderte sich das. „Die Idee der Kindheit ist eine der großen Erfindungen der Renaissance, vielleicht ihre menschlichste“, schreibt Postman.

Kindern ihren Reifungsprozess lassen

Wollen wir nun, angekommen im 21. Jahrhundert, auf diese Errungenschaft tatsächlich verzichten? Kann es gelingen, Kindheit als etwas, das nur dem Kind gehört und sich an dem orientiert, was von ihm ausgeht, wieder zuverlässiger in der Gesellschaft zu etablieren?

In seinen „Briefen an einen jungen Dichter“ schreibt Rainer Maria Rilke: „Man muss den Dingen die eigene, stille ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann.“ Alles Leben auf diesem Planeten muss reifen. Bis eine Frucht gereift ist, findet eine Entwicklung statt. Zu früher Genuss schmeckt bitter und ist nicht bekömmlich.

Knospen lassen sich ebenso wenig mit Händen zu einer Blüte aufbrechen wie man Fünfjährige in die Gedanken- und Erfahrungswelt eines Volljährigen zwingen kann, ohne dass sie Schaden daran nehmen. Wie wäre es also, dem von der Natur vorgegebenen Reifeprozess zu vertrauen? Und sich wieder zu besinnen auf das, was Kindsein heißt und Friedrich Nietzsche in „Also sprach Zarathustra“ so trefflich beschreibt: „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.“

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