Jetzt aber wirklich
Während die Aufnahme-Einrichtungen für Asylbewerber derzeit überlaufen, die Kommunen in Deutschland seit Monaten mit der Unterbringung und Versorgung von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine und einem wachsenden Strom anderer Migranten vor allem aus Syrien, Irak, Afghanistan und Afrika ringen, plant die Bundesregierung ein ganzes Paket umfassender Einwanderungserleichterungen: den sogenannten Spurwechsel von Asyl zu Jobsuche, rasche Einbürgerung, Verzicht auf genaue Identitätsfeststellung, eine „Chancen-Karte“ für Unqualifizierte, die Job oder Ausbildung erst noch suchen etc.
Gleichzeitig läuft ein freiwilliges Aufnahmeprogramm für monatlich tausend Afghanen über die inzwischen aufgenommenen 36.000 ehemaligen Ortskräfte der Bundeswehr hinaus, und das Auswärtige Amt finanziert mit zwei Millionen Euro jährlich sogenannte Seenotrettung im Mittelmeer, wogegen sich Italien verwahrt und die Migranten umgehend weiterziehen lässt gen Deutschland.
Beim Migrationsgipfel am 10. Mai soll nach derzeitigem Stand vor allem über die Finanzierung der Flüchtlinge gesprochen werden (Länder und Kommunen wollen mehr Geld, der Bund will nicht mehr zahlen). Eine Begrenzung des Zustroms steht allenfalls in etlichen Jahren zur Debatte, denn der Vorschlag von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und FDP-Chef Christian Lindner, Asylverfahren möglichst binnen zwölf Wochen schon an der EU-Außengrenze durchzuführen und chancenlose Bewerber umgehend zurückzuschicken, ist weder mit den betroffenen Ländern abgesprochen noch lässt er sich kurzfristig umsetzen. Die Forderung der mitregierenden FDP, von Geldauszahlungen auf Sachleistungen oder Wertgutscheine für Asylbewerber umzustellen so lange, bis deren Verfahren abgeschlossen ist, scheint unter den gegebenen Umständen unrealistisch und eher eine Duftmarke für Presse und Publikum zu sein.
Gezielte Anscheinserweckung von Widerstand
Oder um es mit dem Migrationsforscher Ruud Koopmans im Interview bei „Schuler! Fragen, was ist“ zu sagen: „Die ganzen Diskussionen, die in den letzten Monaten laufen, das ist sozusagen eine Diskussion darüber, wie man das Wasser wegkriegt bei laufendem Wasserhahn, statt darüber zu diskutieren, wie man den Hahn zukriegt.“
Und was tut die Union? Kann man der größten Oppositionspartei zutrauen, bei der aktuellen Migrationswelle ihre Rolle als kraftvoller Konter wahrzunehmen? Und vor allem: Kann man ihr vertrauen, am Ende nicht ein genauso großer Ausfall bei Begrenzung und Steuerung von Migration zu sein wie 2015/16?
Die Antwort ist durchwachsen. „Es muss auch um die Begrenzung von Migration gehen, das ist übrigens auch eine Forderung der Kommunen“, sagt Thorsten Frei (CDU), parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag und einer der mutigeren Frontleute der Union, im aktuellen Spiegel. „Die Zahlen sind einfach nicht mehr zu bewältigen, da geht es am Ende nicht mehr ums Geld.“ Klingt klar und deutlich, und doch duckt sich die Union insgesamt beim Thema Migration – einer internen Absprache zwischen CDU und CSU folgend – eher weg und versucht sich trickreich in gezielter Anscheinserweckung von Widerstand.
Denn die Spitzen der Union wollen öffentlich nicht als empathielos, abweisend oder gar fremdenfeindlich wahrgenommen werden. CSU-Chef Markus Söder verweist da gern auf den großen Streit mit Kanzlerin a. D. Angela Merkel (CDU) von 2018 um die „Zurückweisung“ von Migranten an der deutschen Grenze. Kirchenleute, aber auch einfache Mitglieder hätten der Union damals vorgeworfen, hartherzig zu sein, die Augen vor dem Leid der Flüchtlinge zu verschließen. Unter dem Motto „Humanität und Ordnung“ soll nun ein Ton angeschlagen werden, der auch für links-mittige Großstadtmilieus akzeptabel klingt, Begrenzung meint, ohne es zu sagen und sich von der aggressiven Tonlage der AfD abhebt.
Der Merkelianer-Flügel geht in die Offensive, der Rest der Union duckt sich weg
Söder und CDU-Chef Friedrich Merz wollen diesmal verhindern, dass Migrationsfreunde allzu heftig abgeschreckt werden und verstecken sich raffiniert hinter den Kommunen, deren Bürgermeister und Landräte aller Parteien ja als technokratische Abwickler der Migration unverdächtig sind, parteipolitische Menschenfeindlichkeit zu schüren. Auch deshalb hat die Union einen Kommunalgipfel mit Vertretern aller Parteien veranstaltet, die unisono Alarm schlugen, den man dann als Union gewissermaßen sachwalterisch aufgreifen konnte.
Doch auch innerhalb der Union lässt der Merkelianer-Flügel um den gescheiterten Kanzlerkandidaten Armin Laschet und seine ehemalige Staatssekretärin Serap Güler und andere keine Gelegenheit aus, die ehedem avisierte multikulturelle Idylle auch in der Opposition zu kultivieren. Als sich Ende 2022 die Unionsfraktion im Bundestag gegen das Zuwanderungspaket der Ampel-Koalition stellen wollte, verfassten zwanzig Abgeordnete einen Brief und kündigten an, mit der Regierung zu stimmen. Neben Laschet und Güler unterzeichneten auch Merkels Ex-Kanzleramtschef Helge Braun das Schreiben, Ex-Gesundheitsminister Hermann Gröhe, der Ex-Ostbeauftragte Marco Wanderwitz, Ex-Bildungsministerin Anja Karliczek oder Bundestagsvizepräsidentin Yvonne Magwas.
Die Union würde die Migrationskrise gern der Bundesregierung zuschieben und diese daran scheitern sehen, ohne als Treiber des Themas wahrgenommen zu werden. Ob diese Rechnung einer verzagten Opposition am Ende aufgeht, ist ungewiss. Fakt ist, dass Bundesinnenministerin Nancy Faeser erkennbar nichts, aber auch gar nichts tut, um die Lage zu entspannen und den Zustrom zu drosseln. Weder nimmt die in Länderzuständigkeit stehende Zahl von Abschiebungen zu noch werden wenigstens die freiwilligen Aufnahmeprogramme etwa aus Afghanistan gestoppt.
Die Wucht der Probleme wird eine zaudernde Abseitsposition nicht mehr zulassen
Die Liberalisierung des Zuwanderungsrechts wird ungerührt vorangetrieben. Probleme wie Migranten-Krawalle (etwa in der Silvesternacht), antisemitische Demonstrationen oder kriminelle Clan-Strukturen werden ausdrücklich nicht als Phänomene im Zusammenhang mit Migration gesehen.
Es könnte deshalb sein, dass die Realität die Union bald schon zu einer sehr viel härteren Gangart und sichtbarer Konsequenz zwingt, weil die Probleme eine zaudernde Abseitsposition nicht mehr zulassen. Binnen weniger Jahre hat sich Deutschland, ohnehin eines der am dichtesten besiedelten Länder Europas (Platz fünf), von rund 80 Millionen Einwohnern auf 84 Millionen Menschen vermehrt. An der Geburtenrate (1,53 Kinder je Frau) kann es nicht liegen. Es kann also nicht verwundern, dass schon rechnerisch Wohnungen in Größenordnungen fehlen, und dass auch Lehrer und Sozialhelfer fehlen
Den überlasteten Kommunen steht oft nur der Zugriff auf kommunale Wohnungen offen, so dass Flüchtlinge und Migranten in vielen Fällen auf einem Fleck unterkommen, soziale und Integrationsbrennpunkte also notgedrungen sehenden Auges geschaffen werden. Wie 2015/16 kommen auch jetzt wieder verstärkt junge Männer aus dem arabischen Raum – mit allen kulturellen und sozialen Problemen. Das Stadtbild vieler Orte – längst nicht mehr nur der Städte – ändert sich, und auch die Belastbarkeit der Sozialsysteme, in die die Migranten mehrheitlich einwandern, ist endlich.
„Im Jahr 2021 kamen über 500.000 Menschen aus Drittländern außerhalb der EU nach Deutschland – davon nur 40.000 bis 50.000 in den Arbeitsmarkt“, sagt CDU-Vize Carsten Linnemann bei „Schuler! Fragen, was ist“. Die Bundesregierung bleibt derweil unverdrossen bei der Ansage, Deutschland brauche 400.000 Zuwanderer pro Jahr. Die Fachkräftelücke ist gleichzeitig weiter gewachsen, und die Inlandsinvestitionen der deutschen Wirtschaft schrumpfen. Keine guten Aussichten, um sich beim Thema Migration taktisch aus der oppositionellen Verantwortung zu mogeln.
Gut möglich also, dass der Ernst der Lage die Union am Ende doch noch zu Courage, Klarheit und Vernehmbarkeit zwingt, wenn die Wähler ein wenig nachhelfen.
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