Wenn die 30 plötzlich anklopft
Schwarzes T-Shirt, Jeans, Sneaker: Yeray Andres wirkt so unkompliziert und entspannt wie seine Kleidung, als er an diesem Samstagmittag von seinem Balkon auf den Innenhof schaut. Dort stehen bunte Märchenfiguren, ein kleiner Tisch und Kinderspielzeug. „In der Woche kann es hier manchmal ganz schön laut sein, wenn die Kleinen bei schönem Wetter toben“, sagt Yeray und lacht. Er mag das. Dass kleine und große Menschen Spaß haben, eine gute Zeit zusammen verbringen, sich wohlfühlen, lachen und tanzen.
Heute ist es ruhig, weil der Kindergarten am Wochenende geschlossen hat. Außerdem ist es ungemütlich kalt in Düsseldorf. Es regnet, wir gehen wieder hinein. Auch das mag Yeray, den alle in seinem engeren Umfeld nur „Yay“ nennen. Er kann sich auf plötzliche Wetterumbrüche genauso einstellen wie auf laute, menschentosende, licht- und farbensprühende Musikfestivals und ruhige Stunden des Alleinseins. Yay ist ein Kind der Nordseeküste, Veranstaltungstechniker und Festivalmanager, bald 30 – und Single.
Seine Wohnung ist aufgeräumt, der Fernseher eingeschaltet. „Die Simpsons“ streiten stumm im Hintergrund. Auf seinem Schreibtisch stehen Monitore, eine Tastatur und eine Lampe. Es ist ein Wohn- und Arbeitsraum zugleich. Ins Auge fallen zahlreiche Namensschilder mit der Aufschrift „Crew“, „Staff“ oder „Member“. Sie haben sich im Laufe der Jahre angesammelt. Wie Trophäen zieren sie einen Wandabschnitt.
Hinter jedem Schild steckt eine Erinnerung. Meistens an eine Großveranstaltung, die er mitgestaltet oder organisiert hat. Auf einem Sideboard stehen einige Fotos, die ihn mit Freunden zu Abiturzeiten und während seines Studiums zeigen. Zu sehen sind darauf immer strahlende Gesichter. Er gerät ins Schwärmen, wenn er zu jedem Bild die dahinterstehende Veranstaltung und ihre Geschichte erzählt, angefangen von der Abifeier 2013 in Husum bis zum „Unison Festival“ mit über 5.000 Menschen in Düsseldorf.
Doch ein Bild sticht heraus: Darauf hält Yay einen Säugling im Arm. Er lächelt das kleine Wesen an und wirkt versunken in eine andere Welt. „Das ist mein Patenkind Lucy“, sagt er stolz, und das Leuchten in seinen Augen verrät, wieviel ihm neben seiner Leidenschaft für Musikfestivals eine eigene kleine Familie bedeuten würde.
Doch eins nach dem anderen.
Immer mal wieder verliebt. Aber ohne Glück
Yay kommt im Juli 1993 in Las Palmas, der Hauptstadt von Gran Canaria, als Sohn einer Deutschen und eines Spaniers zur Welt. Als er drei Jahre alt ist, trennt sich die Mutter von seinem Vater und zieht in die Nähe ihrer Mutter, seiner Oma, nach Norddeutschland. Yay wächst in Husum auf.
Schon früh interessiert er sich für Technik und entwickelt ein Faible für elektronische Musik. „Ich war ein Informatikfreak“, sprudelt es aus ihm lachend heraus. Es klingt tatsächlich komisch, denn er ist das Gegenteil eines Nerds. Er ist kommunikativ, neugierig und begeisterungsfähig. Als Jugendlicher schaut er sich auf YouTube Elektronische-Musik-Videos an, beginnt Keyboard zu spielen, komponiert bald selbst, und in der Oberstufe wählt er seinen Vorlieben entsprechend als Leistungskurse Physik und Philosophie.
Die Organisation der Abifeier bestärkt ihn, einen beruflichen Weg in der Medien- und Veranstaltungstechnik einzuschlagen. „Die Arbeit im Team, der Zusammenhalt, die Momente, in denen man weiß, dass man sich jederzeit aufeinander verlassen kann, das ist so etwas Besonderes und Schönes, das ich einfach jedes Mal wieder bei der Planung und Durchführung von Events spüre. Und wenn dann auch noch das Publikum einen grandiosen Abend hatte, dann macht mich das glücklich“, sagt er. Um Geld für sein Studium zu sparen, jobbt er in der Theodor-Storm-Stadt zunächst in einer Bar und dann auf einem Clubschiff, das bezeichnenderweise auch noch „Sturm und Drang“ heißt.
Diese zwei Jahre prägen ihn nachhaltig. Er verinnerlicht, dass jeder im Team wichtig ist, ganz gleich, ob im Servicebereich, am Soundpult, auf der Bühne oder hinter der Technik. Jeder ist dabei wie ein Zahnrädchen, das in das andere greift, damit die Party läuft. Am Ende wird das Trinkgeld durch alle geteilt. Sein Chef erkennt sein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein, sein kreatives und technisches Potenzial und bezieht ihn immer weiter in die Veranstaltungsorganisation ein. Yay sammelt Erfahrungen und geht damit in die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt, um an der Heinrich-Heine-Universität Medieninformatik zu studieren.
Sieben Jahre ist das nun her. Eine Zeit, in der er zwischendurch immer auch mal verliebt war. Ohne Glück. So richtig klappen wollte es nie. Zumal sich Yay damals auf sein Studium und seine berufliche Entwicklung fokussierte. Denn zugleich war es eine rasante Zeit, in der er an der Hochschule und darüber hinaus zusammen mit seinen Kommilitonen zahlreiche Musikfestivals auf die Beine gestellt hat – vom bis zu 80-seitigen Konzept, der Sponsorensuche, der personellen Einteilung in die verschiedensten Aufgaben- und Abwicklungsbereiche, der internen und städtischen Genehmigungsverfahren bis zur Künstlerbetreuung und natürlich der Licht- und Tontechnik. Die letzten Tage davor immer mit hohem Adrenalinspiegel, wenig Schlaf, viel Kaffee und Schokolade und Check-ups bis zur letzten Minute, um ganz sicherzugehen, dass vom Einlass bis zum Ende der Veranstaltung alles perfekt vorbereitet ist.
„Das ist wie ein Rausch“
„Diese Team-Mentalität, vorher, mittendrin und auch nachher, wenn wir dann, egal wie spät es ist, immer noch einmal zusammenkommen, das ist wie ein Rausch“, berichtet er und ergänzt: „Das gibt mir auch Selbstwertgefühl. Ich bin nach einem solchen Abend stolz auf das, was ich gemacht habe. Daraus hole ich mir auch Bestätigung.“
Und es gibt die Momente, in denen er sein Patenkind heranwachsen sieht. Augenblicke, in denen er erkennt, wie schnell die Jahre ins Land ziehen und ihm die dreißig vor Augen steht. Ein Alter, in dem viele in einer festen Partnerschaft leben, den Fokus stärker auf die Familienplanung verlagern. „Ich kann gut mit mir allein sein. Ich bin mit mir im Reinen, was nicht heißt, dass es nicht schöner zu zweit wäre“, räumt er ein. Laut einer aktuellen Studie der Partnervermittlung „ElitePartner“ sind 40 Prozent der 18- bis 39-jährigen in Deutschland Single.
Der höchste Anteil findet sich in der Altersstufe von 18 bis 29 Jahren. Dort ist fast jeder Zweite ohne Beziehung. In Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohnern leben anteilig mehr Singles als auf dem Land sowie in Klein- und Mittelstädten. Die beiden Bundesländer mit den höchsten Single-Anteilen sind entsprechend auch Stadtstaaten: An der Spitze steht Berlin (46 Prozent), gefolgt von Hamburg (40 Prozent). Auf Platz 3 liegt Nordrhein-Westfalen (37 Prozent). Ganz verwunderlich ist es nicht, dass sich ausgerechnet in den Großstädten so viele Singles tummeln.
„Es kommt immer auf die Blickrichtung an“, sagt Hans-Jürgen Knorn gegenüber Corrigenda. Er ist Sozialpsychologe in Essen und Lehrbeauftragter am Institut für Psychologie an der Universität Duisburg-Essen. „In einer Großstadt wie zum Beispiel Berlin finde ich natürlich eine ganz andere Szene vor als etwa in einer kleinen oder mittelgroßen Stadt. Vielleicht habe ich mich sogar deshalb für diese Stadt entschieden, weil da immer etwas los ist“, erklärt der Wissenschaftler eine mögliche Denkweise. Es sei häufig auch umfeldspezifisch, wie sich junge Menschen in ihren zwanziger Jahren entwickeln. Wer in seiner Umgebung schon Freunde mit Kindern habe, strebe möglicherweise eher nach einer festen Beziehung. Ebenso wie Menschen, die in Großfamilien aufgewachsen seien und viele positive Erfahrungen gemacht haben.
In der Rushhour des Lebens
Familiäre Nähe ist auch Yay wichtig. Sein persönliches Highlight des Jahres sind Weihnachten und das Weihnachtsessen bei seiner Oma. „Das ist für mich Nachhausekommen“, sagt er. Schließlich koche er selbst auch gern. „Das habe ich von meiner Oma und meiner Mutter. Aber darin finde ich für mich am Wochenende Ruhe und Ausgleich zu meinem Alltag.“ Während viele andere ihre Freizeit dazu nutzen, um aktiv nach einer Partnerin Ausschau zu halten, schaut er lieber einen Film, eine Netflix-Serie oder geht joggen.
„Ich bin überhaupt kein Fan von Tinder oder modernen Dating-Apps“, hebt er deutlich hervor. Die „Angeberei, Partypumper und Fleischbeschauung“ findet er banal. „Das ist nichts für mich. Ich glaube an das Glück an der Supermarktkasse, beim Ausgehen oder im Bekanntenkreis.“
Aber die Tatsache, in knapp drei Monaten dreißig zu werden, fühle sich schon „komisch“ an. Mit diesem Gefühl ist er nicht allein. Wie viele Menschen weit über die vierzig oder noch Anfang fünfzig hinaus gratulieren ihren Social-Media-Freunden mit – als Kompliment gemeinten – Glückwünschen à la „Forever twenty-nine“. Gerade so, als ob das Leben mit dem dreißigsten Geburtstag über Nacht ein völlig anderes würde. Aber warum scheint dieser Dekadenübergang irgendwie zu zwicken?
„Tatsächlich ist für viele die Zeit vor und um den 30. Geburtstag der Zeitpunkt für eine Standortbestimmung. Die dreißig steht für viele Menschen für eine Wegmarke in ihrem Leben. Anders als noch etwa die achtzehn oder das Abitur, was ja auch einen neuen Lebensabschnitt markiert, symbolisiert diese Zahl für viele einen Abschied von der Jugend in einen Lebensabschnitt hinein, in dem wir Entscheidungen bewusster und überlegter treffen“, sagt Psychologe Knorn.
Die Zeit zwischen Mitte zwanzig und Ende dreißig wird häufig auch als Rushhour des Lebens bezeichnet. Das heißt, in dieser Lebensphase beschäftigen wir uns besonders gezielt mit unseren Perspektiven. Es gilt, den persönlichen Kurs auszuloten, Antworten auf Fragen zu finden wie: Was will ich? Was kann ich? Wo stehen andere in meinem Alter? Was muss ich mir vornehmen, um das zu erreichen? Dieser Abschnitt könne psychisch durchaus auch anstrengend sein, erläutert Knorn.
Denn in diesen Jahren kommen verschiedene Aspekte zusammen. Während das junge Erwachsenenleben von kurzen Thrills lebte, stehen nun Dauer und Vertiefung an. Die Komplexität von Partnerschaft, Beruf, Karriere, Hausbau und Familienleben eröffnet neue Perspektiven, denn der Blick für die individuell richtigen Entscheidungen öffnet sich oft erst mit ein wenig mehr Lebenserfahrung und Weitsicht als mit zwanzig.
Arbeit: Selbstverwirklichung und die Sinnhaftigkeit
Es sind Überlegungen, die auch Yay umtreiben. Er gehört der Generation Y an, auch Millennials genannt, die zwischen den frühen 1980er und den späten 1990er Jahren geboren wurde. Auf ihre besonderen Merkmale weist das Karriereportal „Studyflix“ hin, wonach Angehörige der Generation Y zu den ersten Digital Natives gehören und im Vergleich zu denen der Generation X häufig ein hohes technisches Verständnis und akademisches Bildungsniveau haben. Verändert hat sich ebenfalls ihr Verhältnis zum Beruf. „Millennials wollen mit ihrem Job nicht nur Geld verdienen, sondern erhoffen sich einen tieferen Sinn. Das führt dazu, dass sie flache Hierarchien, flexible Arbeitszeiten und eine gute Work-Life-Balance bevorzugen“, heißt es weiter.
Selbstverwirklichung und die Sinnhaftigkeit in dem, was er macht, findet und erlebt Yay in seiner Arbeit. Die Übergänge zwischen Job und Freizeit sind fließend, weil er sein Tun als positiv erlebt. Neben seiner Selbstständigkeit in der Veranstaltungsbranche investiert er viel Zeit in sein Hochschulleben. Er arbeitet am Fachbereich Medien, steht kurz vor der Abschlussarbeit und verbringt mit seinen Kommilitonen unzählige Stunden im Lichtlabor.
Das technisch und akustisch modern ausgestaltete Labor gibt ihm Raum zu planen und zu organisieren, zum geselligen Austausch, zum gemeinsamen Ideenschmieden, Tüfteln und Programmieren – etwa von spektakulären Lichtshows. „Ich bin eigentlich immer von 8 bis 20 Uhr an der Hochschule“, sagt er.
„Stagnation ist für mich eine Riesenkatastrophe“
Zuverlässig und diszipliniert, wie jemand, der auf ein großes Ziel hinarbeitet. „Mein Traum ist es, ein Musikfestival zu schaffen mit einer riesigen Lichtshow, großen Bühnen so hoch wie beim ‘Rock am Ring’ am Nürburgring über mehrere Tage hinweg“, erzählt er mit großen Augen. Er hält einen Moment inne. „Die Uhr rennt. Das Leben rennt“, sagt er dann. Für ihn sei es deshalb wichtig nicht stehenzubleiben: „Stagnation ist für mich eine Riesenkatastrophe“.
Mit zwanzig hat er Kinder noch ausgeschlossen. Lange Nächte, coole Partys und ein gutes Team waren sein Elixier. Jetzt, kurz vor der Dreißig, könne er sich in den nächsten Jahren eine Familie sehr gut vorstellen. „Wer weiß, was kommt“, sagt er gelassen, aber nicht ohne Zuversicht. „Ich möchte auf jeden Fall das Beste aus meinem Leben machen und es natürlich auch für andere schön machen. Beruflich und privat“.
Seinen dreißigsten Geburtstag möchte er im kleinen Kreis feiern. „Ich brauche für mich selbst keine große Party. In diesem Jahr fällt mein Geburtstag auf einem Samstag. Ich möchte gerne einfach nur mein engstes Umfeld einladen, etwa zehn Personen, und mit ihnen einen guten Abend am Rhein verbringen.“ Und wer weiß, vielleicht biegt schon bald Mrs. Right um die Ecke.
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