Grenzwertig
Wenn ich mein Pfarrhaus verlasse und mich nach links wende, bin ich wenige Schritte weiter in einem anderen Land. In den Niederlanden. Meine Pfarrei schmiegt sich direkt an die holländische Grenze, weil die Kleinstadt, in der ich lebe und arbeite, eine Doppelstadt ist. Nach langem Ringen um das Niederreißen der Grenzzäune nach dem großen Krieg hat sich auch das Leben hüben und drüben grenzfrei normalisiert.
Deutsche und Niederländer wohnen vermischt auf beiden Seiten der Grenze, es gibt keine Barrieren, ganz im Gegenteil, es gibt sogar ein Bürogebäude mitten auf der Grenze, innerhalb dessen man zwischen zwei Ländern hin- und hergehen kann, ohne das Haus zu verlassen. Vor seiner Eingangstüre stehen ein gelber und ein orangefarbener Briefkasten traut nebeneinander.
Eine der wichtigen Straßen ist unsichtbar geteilt. Der Grenzverlauf lässt die eine Straßenseite niederländisch sein und die andere deutsch. Erkennbar ist die Nationalität lediglich an kleinen Unterschieden an den Wohnhäusern, die die Straße säumen: auf der einen Seite deutsch vorschriftsmäßig und genehmigungsfähig, auf der anderen Seite niederländisch kreativ mit schmalen Türen und ungesicherten Treppenaufgängen.
Ansonsten ist die Grenze – auch in den Köpfen – lange gefallen. Europa hat sie zum Einsturz gebracht. Und etwas wieder hergestellt, was meine Region eigentlich immer auszeichnete, bis man es ihr durch politische Planspiele in der Neuzeit genommen hatte. Es war ein ungeteilter Kulturraum, geprägt von der katholischen Religion und der aus ihr hervorgebrachten maasländisch-rheinischen Frohnatur.
Für den Glauben gibt es keine politischen Grenzen
Legendär ist der Nachkriegsbericht einer Pfarreichronik über eine Fronleichnamsprozession auf der niederländischen Seite des Grenzzauns in den 1950er Jahren. Die Teilnehmer ziehen in großer Zahl hinter dem Allerheiligsten her, aber ohne begleitende Blasmusik. Denn zu diesem Zeitpunkt gilt noch an Sonn- und Feiertagen in den damals noch mehrheitlich calvinistisch geprägten Niederlanden ein Aufführungsverbot für Musik aller Art im öffentlichen Raum. Weil aber eine Fronleichnamsprozession ohne feierliche Musik eine traurige Angelegenheit ist, bietet die deutsche Pfarrei diesseits des Grenzzauns Amtshilfe und lässt die Blasmusik auf der deutschen Seite mitmarschieren.
So wie es für den Glauben keine politischen Grenzen gibt, vereinigen sich daraufhin die Klänge der Musik auf der deutschen Seite der Grenze mit dem Gesang auf der niederländischen, ohne dass dies ein Grenzbeamter verhindern kann. Auf diese Weise ehrte damals also die deutsche Blasmusik auf deutschem Grund die über alle Grenzen hinweg von Katholiken aller Nationen geglaubte Gegenwart Jesu Christi in der Eucharistie. Ein supranationaler Akt der Verbundenheit, lange bevor uns die Wirtschaftspragmatik der EU zu einem gemeinsamen Europäischen Haus zusammengebastelt hatte.
Der katholische Glaube hat noch nie vor nationalen Grenzen Halt gemacht, und die katholische Kirche hat als sein Transmissionsriemen auch stets darauf geachtet, dass keine externe Macht – kein Staat, keine Kultur, keine Ideologie – in das innere Gefüge eines von Gott geschenkten übernatürlichen Lebens eingreifen und es unterjochen kann. Nationalkirchen gibt es deswegen auch nur dort, wo das katholische Element der Einheit fehlt, für das das Papstamt steht.
Der Papst ist zwar nicht der Besitzer der Kirche und auch kein Diktator nach eigenen Regeln, aber er ist der berufene Diener der grenzüberschreitenden Wahrheit, die zu verkünden Christus als Herr der Kirche ihm und den anderen Aposteln aufgetragen hat.
Die Stärke des Katholizismus ist seine weltumspannende Identitätsstiftung
Die Stärke des Katholizismus war daher immer seine weltumspannende Identitätsstiftung jenseits aller kulturellen und administrativen Grenzen. „Überall bist du zu Hause!“ lautete der Titel eines von Bertram Otto im Jahre 1957 herausgegebenen Bildbands über die Weltkirche. Mit eindrücklichem Fotomaterial aus der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde darin gezeigt, wie ein Katholik die Grundzüge seines Glaubens und dessen rituelle Vollzüge überall wiederfinden konnte.
So ist zum Beispiel auf der linken Hälfte einer Doppelseite ein Hochamt im Kölner Dom abgebildet mitsamt dem Gepränge, mit dem die alte Liturgie die reale Anwesenheit Gottes zu begehen verstand. Und auf der rechten Hälfte sieht man das Foto einer Messe im Dschungel, an der eine Handvoll spärlich bekleideter Eingeborener teilnimmt.
Äußerlich ist alles anders als in Köln. Aber der in beiden Feiern vorhandene rituelle Kern ist nicht übersehbar: eine damals noch verbindlich im tridentinischen Ritus zum Kreuz orientierte Gebetsgemeinschaft, die inmitten des Lärms aller möglichen Tierstimmen und Geräusche des Urwalds die Worte Christi hört und seine Gegenwart gläubig und deswegen kniend in der erhobenen Hostie anbetet.
Deutschland – für seine reformatorischen Sonderwege bekannt
Botschaft dieser Doppelseite: die Location ist unterschiedlich, aber die Feier ist die gleiche. Krawattierte Herren im Kölner Hochamt und halbnackte Eingeborene im Urwald glauben und feiern dasselbe. Und sie feiern dasselbe sogar auf dieselbe Weise.
Diese Zeiten sind nun schon länger vorbei. Inkulturationsversuche und ihre liturgischen Anpassungen lassen die Außenhaut des Christentums pluriformer erscheinen. Landessprachen in der Liturgie und variable Formen der Messfeier haben schon länger das phänotypisch Einheitliche relativiert.
Gleichwohl blieb bislang die Idee der Einheit im Glauben erhalten und auch die Einheit in der im Weltkatechismus verbrieften Differenzierungen der in allen Himmelsrichtungen identisch verkündeten kirchlichen Lehre. Aus ihr strömte die Moral als verbindliche Weisung an den glaubenden Menschen, wie er nun letztlich zu leben hat. Ebenfalls mit internationaler religiöser ISO-Norm.
Seit Neuestem ist das anders geworden, zumindest in Deutschland, das für seine reformatorischen Sonderwege bekannt ist. Denn hier hat die Mehrheit der Apostelnachfolger entschieden, die Lehre in verschiedenen Punkten zu ändern und an die Bedürfnislage des Gegenwartsmenschen anzupassen.
Eine Gegenwelt zu den Eintagsfliegen der Zeitläufte
Die Lebenswirklichkeit, so heißt es, habe sich gewandelt – was ja auch nicht zu bestreiten ist –, und nun habe die Kirche nicht mehr, wie seit der Zeit der Katakomben im antiken Rom bis heute eigentlich üblich, eine Gegenwelt zu den Eintagsfliegen der Zeitläufte zu verkünden, sondern vielmehr eine Adaption der zeitgeistlichen Melange aus Hedonismus, Relativismus, Nihilismus und Materialismus, aus der die besagte Lebenswirklichkeit besteht, wenn man ihr scheinbar so menschenfreundliches Modernitäts-Make-up abschminkt.
Die Lebenswirklichkeit ist nach Feststellung der bischöflichen Beratertruppen gar ein Ort der Offenbarung, wenn man den Protagonisten des Synodalen Weges glauben will. Damit ist nicht nur das abgeschafft – sorry: „fortgeschrieben“ –, was einmal war, es ist auch in einem kühnen Akt intellektuellen Hochreckturnens an verschiedenen Enden der Welt unterschiedlich zu glauben und zu leben. Wir lernten gar vor einigen Tagen vom Chef des Päpstlichen Missionswerks Missio, Dirk Bingener: „Es braucht keine thematische Übereinstimmung mit ‘der Weltkirche’, sondern Einmütigkeit und Treue in Bezug auf das, was über die vergangenen dreieinhalb Jahre auf dem Synodalen Weg erreicht worden ist.“ Mit anderen Worten, es gilt die Mehrheitsentscheidung und nicht die Überlieferung. Und es gilt darüber hinaus hier das und dort das.
Ich habe nun ein Problem hier in meiner kleinen Grenzstadt. Denn das, was die Gläubigen im wenige hundert Meter entfernten niederländischen Limburg gemäß der Weisung der Lehre des Weltkatechismus beichten müssen, ist hier diesseits des durch die EU abgeschafften Grenzzauns über Nacht eine zu segnende Lebenswirklichkeit, in der Menschen zu Gott finden.
Ein kirchlicher Provinzialismus macht sich breit
Als Katholik meiner heimischen Grenzregion fühlt man sich deswegen in die Zeit vor dem Schengener Abkommen versetzt, in der unsereins bei Reisen durch das hiesige Dreiländereck mit D-Mark, Gulden und belgischen Franc im Portemonnaie unterwegs war. Während heute die Währung einheitlich ist, sind die Tarife im Beichtstuhl seit Neuestem national unterschiedlich geregelt.
Ein kirchlicher Provinzialismus, der den Katholizismus in seiner Verbindlichkeit entgegen allen sonstigen ach so wichtigen Globalisierungstendenzen durch eine nationalkirchliche Verfassung abgelöst hat und künftig – gut evangelisch – in unterschiedliche Bekenntnisstände differenziert.
Man wird sehen, wie lange es dauert, bis die „Fortschreibung“ der Lehre, wie deutsche Theologen und Bischöfe die Verordnung ihrer Privatmoral nennen, dafür gesorgt haben wird, dass die Lehre tatsächlich eines Tages ganz fort-geschrieben ist.
Und die Katholische Kirche durch die grenzwertige Relativierung des ihr anvertrauten kostbaren Gutes (2 Tim 1,14) verschwunden sein wird, weil sie einfach nicht mehr in unsere globale und mobile Welt passen will, wo man doch auch am Strand von Mombasa gerne seine Coca-Cola trinken möchte, obwohl sie dort kulturell nicht verwurzelt ist.
Wenn die fleißigen Synodalen der Deutschen Kirche gemerkt haben werden, dass sie mit ihren Änderungsabsichten in Wahrheit das Produkt vom Markt genommen haben, das sie bislang interessant gemacht hat, wird es wohl zu spät – und gähnendes Vergessen der Lohn für die geistliche Mimikry sein, mit der Teile des deutsch-nationalkatholischen Establishments den Anspruch Jesu Christi unsichtbar gemacht haben. Wenn man ihn dann weiterhin finden will, wird man ihn möglicherweise wieder in den Katakomben suchen müssen.
Ein Vergnügen Ihre Beiträge zu lesen, auch wenn die Thematik eher "grau" ist; aber vielleicht ist es auch nur so zu ertragen.
Herzliche Grüße aus der katholischen Diaspora in Island!
Ein Vergnügen Ihre Beiträge zu lesen, auch wenn die Thematik eher "grau" ist; aber vielleicht ist es auch nur so zu ertragen.
Herzliche Grüße aus der katholischen Diaspora in Island!