Warum wir wieder nonkonformer werden müssen
In einem zu Unrecht viel zu wenig beachteten Essay „Hitler und wir“ (Augsburg 2013) geht der Publizist und Romanautor Markus Günther am Beispiel der NS-Zeit der Frage nach, ob es gewissermaßen Rezepte gibt, mit denen man sich gegen aufkommenden oder manifesten Ungeist wappnen, ja wenn möglich gar eine ganze Gesellschaft dagegen immunisieren kann.
Punkt für Punkt erklärt Günther mögliche Gegenkonzepte gegen Massenwahn, Mitläufertum und ideologische Verengung. Allein auf Bildung und Intelligenz zu setzen, helfe nicht gegen ideologischen Ungeist. „Doch das NS-Regime war nicht getragen und getrieben von Dummen und Ungebildeten, und Opposition und Widerstand waren nicht allein dominiert von Intelligenz und Bildung“, schreibt er.
Als Beleg führt Günther etwa den Physik-Nobelpreisträger Philipp Lenard an, der 1936 die „Deutsche Physik“, wie er meinte, „erfand“, Einsteins Relativitätstheorie als „jüdische Erfindung“ ablehnte und die Auffassung vertrat: „Wissenschaft ist, wie alles, was Menschen hervorbringen, rassisch, blutsmäßig bedingt.“ Eine Sicht, der sich andere Wissenschaftler wie der Nobelpreisträger Johannes Stark anschlossen. Selbst eine „deutsche Mathematik“ hielt Ordinarius Theodor Vahlen für plausibel.
Helfen Werte und Moral gegen das Mitlaufen …
Wenn schon nicht Intelligenz und Bildung, so forscht Günther weiter, könnten womöglich „die Kultur meiner Herkunft, der bürgerliche Anstand, … tradierte Werte von Rechtschaffenheit und Tugend“ der Verengung des Meinungskorridors entgegenwirken. Doch auch hier folgt Ernüchterung: „Der Blick auf Täter, Mittäter und Mitläufer spendet auch hier keinen Trost, im Gegenteil. … Selbst die exponiertesten und grausamsten Täter zeigen oft so wenige soziale und psychische Auffälligkeiten, dass man vor der oft beklagten ‘Banalität des Bösen’ gerade deshalb so fassungslos steht, weil die guten Erklärungen, Gründe und Begründung“ fehlten.
Als Beispiel sei auf den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß verwiesen, der jenseits des industriellen Massenmords ein geradezu fürsorglicher und liebevoller Familienvater war. „Und schließlich stelle ich bedrückt fest“, schreibt Günther: „Auch diejenigen, die als Christen mutmaßlich stärkere Abwehrkräfte hätten haben können oder müssen, bilden keine generelle Ausnahme.“ Die Dankgottesdienste zur Machtergreifung zogen Millionen Deutsche an.
… oder Religion?
Die „Deutschen Christen“ (bereits 1933 bekannten sich rund eine Million Menschen dazu) verehrten den „Führer“ als eine Art gottgesandten Heilsbringer, was an Gotteslästerung („Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“) nicht zu überbieten ist. Sie hängten Hakenkreuz-Flaggen auf und fanden es witzig, sich „SA Jesu Christi“ zu nennen.
Und dass auch konkurrierende Ideologien, wie etwa der Sozialismus/Kommunismus, keine Brandmauer gegen den Gleichschritt des Ungeists und den Ungeist des Gleichschritts sind, muss wohl nicht eigens erläutert werden angesichts von Millionen Toten im Machtbereich des Stalinismus, angesichts der „großen Säuberungen“ 1936/37 oder des realsozialistischen Ostblocks mit Schießbefehl, Ein-Parteien-Diktatur, gleichgeschalteter Meinung und blutig niedergeschlagenen Aufständen.
Das Gewissen als Orientierung
Einen letzten Versuch unternimmt Markus Günther, indem er dem Gewissen als einer Art Blockade-Instanz gegen Ungeist und Unmenschlichkeit nachspürt. „Bei allen Unterschieden zieht sich ein roter Faden durch alle Widerstandsgruppen von Kommunisten bis Katholiken, von Bekennender Kirche bis zu den Verschwörern des 20. Juli: Sie alle beriefen sich auf ihr Gewissen. Sie taten, was sie taten, weil sie sonst ‘Verräter vor (ihrem) Gewissen’ gewesen wären, wie Stauffenberg sagte.“
Doch auch diese Spur führt nicht zum großen Schlüssel, mit dem man das Tor zur offenen und toleranten Gesellschaft allezeit offenhalten könnte. Denn zum einen stellt sich augenblicklich die Frage: „Warum hatten nur so wenige ein Gewissen, das ihnen so unbeirrt Orientierung gab?“
Vor allem aber ist „Gewissen“, so verlässlich und edel normiert es klingen mag, ein flüchtiges und wandelbares Gut: „Der historische Befund ist auch hier so überraschend und verstörend wie bei der Analyse der Täter“, schreibt Günther. „Die allermeisten Täter im Dritten Reich, ob als kleiner Blockwart oder verantwortlicher KZ-Aufseher, handelten nämlich nicht gegen, sondern im Einklang mit ihrem Gewissen.“
Je blutiger und barbarischer die Nazis wüteten, desto kruder verbogen sie Brutalität, Töten, Foltern und Brandschatzen zu einer Frage des Gewissens im Dienste der Sache und gegenüber nachfolgenden Generationen. Selbst Rudolf Höß berief sich darauf, seine Befehle „gewissenhaft“ ausgeführt zu haben.
Wie hilft uns all das nun mit Blick auf den frei gewählten Gleichschritt weiter? Ist der Vergleich mit dem düstersten Kapitel deutscher Geschichte wirklich angebracht? Oder ist nicht vielmehr jeder Vergleich mit dem größten Epochen- und Zivilisationsbruch der zurückliegenden Jahrhunderte fehl am Platze?
Ich meine, dass gerade das Monströse, das uns in jener Epoche so ungeschminkt und unstrittig gegenübertritt, als Projektionsfläche dienen kann, wenn wir uns fragen, mit welchen Mitteln wir uns heute wappnen können gegen ungleich niederschwelligere Ausformungen des Autoritären und Gleichschritt einfordernden Denkens. Man muss keine Schreckgespenster an die Wand malen und sollte sich auch hüten, inflationär die Schatten brauner oder roter Totalitär-Staaten zu beschwören.
Sich aber zumindest damit zu beschäftigen, wie das im Grunde von allen als unbefriedigend aufgeladen, polarisierend und zum Teil auch einschüchternd empfundene Meinungsklima offen und frei gehalten werden kann, ist wichtiger denn je.
Eine „Kultur des Nonkonformismus“ etablieren
Wenn also das Gewissen selbst angesichts drohender Todesstrafe, Folter oder Lagerhaft immerhin als „ein roter Faden“ widerständigen Denkens auszumachen ist, wie Günther schreibt, dann lohnt es, darüber nachzudenken, was noch hinzukommen muss, um die Zahl derer, die ihr Gewissen aktiv nutzen, zu erhöhen und ihnen die Freisetzung ihrer freiheitlichen Impulse zu erleichtern – um unser aller Meinungsklima zu verbessern.
Der Gedanke, dem Günther nachgeht, erscheint recht plausibel: Gewissen plus individuelle Selbstbestimmung könnten in Kombination eine gute Grundlage sein, um ideologischen Verkrustungen und aggressiven Manipulatoren an vielen Punkten der Gesellschaft dezentral und effektiv entgegenzutreten.
Dabei kommt es weniger auf die Zahl der freien Geister an, sondern darauf, ob wir als Gesellschaft, als politische Öffentlichkeit und als politische Akteure bewusst die Kultur des Nonkonformismus schätzen und einüben, um der sich in ihren Frontstellungen immer tiefer eingrabenden Diskursunkultur und den trickreichen Manipulationen entgegenzuwirken.
Bei diesem Text handelt es sich – mit freundlicher Genehmigung des Autors – um einen adaptierten Auszug aus dem am heutigen Mittwoch erschienenen Buch „Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde“ (Fontis-Verlag, Basel 2023).