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Interview mit Michael Esders

„Konservativ? Das wäre die Rückkehr zur Wirklichkeit!“

Sehr geehrter Herr Esders, Sie beschreiben in Ihrem Buch „Ohne Bestand“, wie die Corona-Pandemie das Alltagsleben verändert hat. Früher Selbstverständliches wurde zur Disposition gestellt, eine neue Normalität hat die alte ersetzt. Glauben Sie, dass diese Veränderungen Bestand haben werden – oder kehren wir wieder zur alten Normalität zurück?

In diesem Punkt bin ich wenig optimistisch: Viele Aspekte des „New Normal“, die in den vergangenen fast drei Jahren etabliert wurden, werden auch dann fortbestehen, wenn der Alltag „vor Corona“ äußerlich wiederhergestellt wird. Die digitale Infrastruktur zur Überwachung und Kontrolle, die im Hygieneregime aufgebaut wurde – und sich aus Sicht der Regierenden bestens bewährt hat – steht für kommende Notstands-Szenarien zur Verfügung. Ein „Klima-Lockdown“ ist nicht unrealistisch, und Konzepte wie die „15-Minuten-Stadt“ weisen in eine dystopische Richtung. Noch gravierender ist der soziale Aspekt: Das Vertrauen in den Staat, seine Institutionen, in Justiz, Wissenschaft und Ärzteschaft wurde bei vielen Menschen schwer beschädigt. Das ist eine Vernichtung sozialen und kulturellen Kapitals großen Stils, die lange nachwirken wird.

Was vor Corona selbstverständlich war, ist nicht mehr selbstverständlich. Normalität hat den Charakter eines Gnadenerweises, denn es gibt eine Routine zu ihrer Beseitigung. Über der Gesellschaft wird weiterhin das Damoklesschwert eines Notstands schweben, der unter beliebigem Vorwand jederzeit wieder aktivierbar ist.  

Die deutsche Gesellschaft hat sich in den Zeiten der Corona-Pandemie in zwei Lager geteilt, die sich teilweise unversöhnlich gegenüberstanden. Ungeimpfte konnten viele Dinge, die bis dahin als selbstverständlich galten, für eine gewisse Zeit nicht mehr tun. Gleichzeitig hoffen die Kritiker der Corona-Maßnahmen noch immer auf ein großes Erwachen derjenigen, die sich in dieser Zeit an alle Maßnahmen und (Impf-)Empfehlungen gehalten haben. Wie kann dieser Riss der Gesellschaft konstruktiv behoben werden?

Voraussetzung wäre zunächst einmal, die Dimension dieses „Angriffs auf die Lebenswelt“ zu verstehen. Es geht nicht darum, dass die einen für eine „gewisse Zeit“ etwas nicht durften, während die anderen sich an Regeln gehalten haben. Kinder und Jugendliche wurde ein Teil ihrer prägendsten Zeit geraubt, Alte mussten ohne ihre engsten Angehörigen in Heimen und Krankenhäusern sterben. Die Einschränkungen von Freiheitsrechten waren so massiv wie willkürlich – und eben nicht nur ein Intermezzo. Dass bei Familienfeiern der Impfstatus abgefragt wurde und „ungeimpfte“ Familienmitglieder zu Weihnachten fernbleiben mussten, war keine Seltenheit.   

Dies sind nur einige Beispiele für die Zerrüttung der „Gewohnheitsgefüge“ – ein Begriff des Soziologen Arnold Gehlen –, die sich nicht einfach wieder einrenken oder sozialtechnologisch reparieren lassen. Sie sind über lange Zeit gewachsen und können sich, wenn überhaupt, nur langsam regenerieren.

Wie könnte eine solche Regeneration aussehen?

Beginnen könnte diese erst, nachdem das Unrecht aufgearbeitet wurde, die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen und die bekämpften Maßnahmenkritiker vollumfänglich rehabilitiert wurden. Bisher kann davon nicht die Rede sein. Die „Aufarbeitung“ läuft nach dem Muster des jüngsten Buchtitels von Jens Spahn ab: „Wir werden einander viel verzeihen müssen“. Die im „einander“ implizierte Wechselseitigkeit fügt den vielen Perfidien eine weitere hinzu – und vertieft so den Riss, den sie zu heilen vorgibt.   

„Verzeihen“ ist perfide?

Die vorgebliche Wechselseitigkeit nach dem Motto „Wir haben doch alle Fehler gemacht“, die Verantwortlichkeiten vernebelt und das geschehene Unrecht letztlich unsichtbar macht, ist perfide. Dies ist nicht einmal die Simulation des Verzeihens.

„Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss“

Sie beschreiben mit dem Begriff „Bestand“ die vielen impliziten Gesetzmäßigkeiten, die das Leben ordnen und unser Zusammenleben ermöglichen. Durch welche Phänomene wird dieser Bestand angegriffen? Und was ersetzt ihn?

Michael Esders: „Ohne Bestand. Angriff auf die Lebenswelt“

Ein Zitat illustriert sehr gut, was ich unter „Bestand“ verstehe. Es wird – vermutlich fälschlicherweise – Johann Gottfried Herder zugeschrieben: „Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss.“ Es geht mir um historisch entstandene, kulturell gewachsene und zum Teil auch errungene Ressourcen der Selbstverständlichkeit – soziale Bestände, ohne die gesellschaftlicher Zusammenhalt, ja Gesellschaft selbst kaum vorstellbar ist. In meinem Buch nehme ich den Bestandsverlust in unser Lebenswelt, in Sprache und Rationalitätskultur in den Blick. Meine These ist, dass diese Bestände, diese essenziellen Fraglosigkeitszonen, in den westlichen Gesellschaften nicht nur fahrlässig, sondern vorsätzlich zerstört werden.

Das „New Normal“ des Hygieneregimes, über das wir schon gesprochen haben, ist nur der jüngste Angriff auf die Lebenswelt in einer ganzen Reihe. Auch die Fragmentierung der Gesellschaft durch unbegrenzte Migration muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Der Satz „Unser Zusammenleben muss täglich neu ausgehandelt werden“, den die damalige Staatsministerin Aydan Özoğuz 2015 geprägt hat, stellt autochthone Üblichkeiten und Lebensformen radikal in Frage. Die Desorientierung und Dekonstruktion der Geschlechtsidentität, der Kult des „Queeren“ und die sich immer weiter ausbreitende Gesinnungsgrammatik des Gendersprechs sind weitere Beispiele.

Als Konservativer könnte man sich mit der Aussicht trösten, dass keinen Bestand haben wird, was seine Bestände zerstört. Dass sich  sozusagen die Bestandslosigkeit selbst richtet. Aber das ist – so meine zweite These – keinesfalls mehr ausgemacht. Nach der Zerstörung der gewachsenen Gewohnheitsgefüge könnte eine immer weiter verfeinerte Sozialtechnologie das Vakuum füllen: mit digitalem Zentralbankgeld, einem nur vorgeblich bedingungslosen Grundeinkommen, einer digitalen Identität für alle und schließlich einem Sozialkreditsystem nach chinesischem Vorbild. Der soziale „Unbestand“ ließe sich so digitalpanoptisch auf Dauer stellen – keine schöne Aussicht.

Das klingt sehr nach einer Verschwörungstheorie, vor der uns die großen Medien immer warnen. Sind Sie Verschwörungstheoretiker?

Dann wäre der römische Geschichtsschreiber Sallust, der ein Buch über die Verschwörung des Catilina geschrieben hat, auch ein „Verschwörungstheoretiker“ oder „Schwurbler“ avant la lettre? Aber im Ernst: Verschwörungen waren und sind ein Faktor der Geschichte. Und die als Denunziationsvokabeln eingesetzten Begriffe „Verschwörungstheorie“ und „Verschwörungsmythos“ sind ein ziemlich plumper Versuch, Reflexionssperren durch Tabuisierung zu errichten.

Für die konspirativen Anteile des Ereignisses „Corona“ gibt es viele Indizien. Denken Sie nur an die von Paul Schreyer („Chronik einer angekündigten Krise“) beschriebenen Pandemie-Simulationen und Planspiele, die beinahe nahtlos ins „reale“ Ereignis übergegangen sind.

Moment, hier müssen wir einhaken: Ist es nicht gut, wenn es einen Plan für den Fall der Fälle gibt, und der, wenn dieser eintritt, dann auch umgesetzt wird?

Das sogenannte „Event 201“ fand am 18. Oktober 2019 statt, also zwei Monate, bevor das Coronavirus auf der Bildfläche erschien. Simuliert wurde in diesem Planspiel eine Coronavirus-Pandemie – hervorgerufen durch Fledermäuse. Das meine ich mit „nahtlosem“ Übergang. Sicher nur Zufall.

Denken Sie auch an das sogenannte Panikpapier des Bundesinnenministeriums. Oder an den Tweet von Karl Lauterbach („80 Prozent unseres Erfolgs waren die Horrorbilder aus Italien!“), in dem er den Alarmismus als Strategie offenlegt. Offensichtlich ist auch der Versuch, eine Agenda durch die globale Synchronisation von Sprachregelungen wie „Pandemie der Ungeimpften“ zu befördern. Teilweise wird das „Making-of“ so unverblümt mitgeliefert, dass der Begriff „Verschwörung“ inadäquat erscheint.

Von Monokausalität und dem einen großen Plan auszugehen, wäre jedoch unterkomplex: Es handelt sich um vielschichtige Rückkopplungseffekte zwischen Ereignissen und der – zum Teil gesteuerten – kollektiven Wahrnehmung dieser Ereignisse, die wiederum auf das Geschehen zurückwirkt. Übrigens hat George Soros, der auch Philosoph ist und sich als Schüler von Karl Popper versteht, diese Wechselwirkungen in seiner Theorie der Reflexivität beschrieben. Er sieht darin sein Erfolgsrezept als Finanzinvestor und auch das Modell für seine politische Einflussnahme, die er als philanthropisches Engagement verklärt. Reflexivität bedeutet auch, dass die Ereignisse manchmal eine Eigendynamik entfalten, der sich auch diejenigen nicht entziehen können, die sich an den Schalthebeln wähnen. 

„Der Konservatismus hat ein Verlierer-Image“

Schriftsteller Esders: „Wer in der unerschütterlichen Gewissheit lebt, das Gute zu verkörpern, und von der Vorstellung durchdrungen ist, das absolut Böse zu bekämpfen, ist in der Wahl seiner Mittel nicht limitiert“

Der konservative Gedanke des Bewahrens wird oft belächelt, weil er statt universeller Inhalte oft die sich scheinbar widersprechenden Partikularismen verteidigt. Der Konservative scheint das zu verteidigen, was seine Vorgänger vor Jahrzehnten noch bekämpft haben. Ist das so?

Die Gefahr, zur Folklore zu werden, besteht. Auch ähnelt der Konservatismus des Bewahrens einem endlosen Rückzugsgefecht – daher auch sein Verlierer-Image. Dennoch ist der Konservatismus aus meiner Sicht die einzig konsistente Gegenposition zur Sozialtechnologie. Ich würde ihn – ähnlich wie der Philosoph Odo Marquard – als Lebensbedingung fassen. Marquard spricht von der „sterblichkeitsbedingten Unvermeidlichkeit von Traditionen“. Als endliches Wesen kann ich nicht jederzeit alles problematisieren, in Frage stellen oder gar ändern. Ich muss auf geschichtlich bewährte Üblichkeiten zurückgreifen und bin auf die eingangs erwähnten Fraglosigkeitszonen angewiesen – auch und gerade im Versuch, etwas zu verändern.

Diese Lebensbedingung ignorieren die Sozialtechnologen mit ihren megalomanen, in der Tendenz totalitären Weltumbauprogrammen à la „Great Reset“ oder „Build Back Better“. Zwar könnte man eine rein technisch verstandene Gesellschaftssteuerung zukünftig möglicherweise vom Menschen entkoppeln und an eine maschinelle Intelligenz delegieren, die nicht den menschlichen Limitationen unterliegt. Aber Vertrauen, Loyalität, sozialer Zusammenhalt und Sinn lassen sich so nicht erzeugen.

Bestände sind notwendig partikular. Deshalb stehen ihre Verteidiger in einer gewissen Opposition zu universalistischen Prinzipien. Aber gleichzeitig gilt, dass gerade die universellen Gehalte unserer abendländischen Rationalitätskultur in einem hohen Maß eigentümlich sind, worauf unter anderem Max Weber hingewiesen hat. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion, zur Kritik an unseren Traditionen und Überlieferungen, verdanken wir eben diesen Traditionen und kulturellen Beständen. Wohin die Preisgabe dieser Errungenschaften führt, erleben wir gerade schmerzlich.

Ist demnach nicht auch der Universalismus eine Art Partikularismus des Westens? Und deswegen schützenswert?

Ich würde von einer „eigenartigen Universalität“ der abendländischen Rationalität sprechen, die unvergleichlich und schützenswert ist. Mit dem Eigenen wird zugleich die Möglichkeit zerstört, dessen Horizont zu überschreiten. Diese Dialektik blenden viele Universalisten aus.

Nach vielen Jahren einer Art pazifistischer Gesellschaftsmentalität mehren sich die Anzeichen, dass kriegerische und martialische Narrative eine Renaissance feiern. Im vergangenen Jahr haben Frontverlaufsberichte und Waffensystem-Analysen auch für Interesse bei Gesellschaftsgruppen gesorgt, für die ein Soldat noch vor kurzem eine verachtenswerte Person war. Manche Berichte der Klimademonstranten in Lützerath lesen sich wie ein Wunsch nach Fronterlebnis und Schützengraben-Romantik. Warum konnten sich hier die Erzählungen so schnell so grundlegend drehen? Und wie könnte sich diese neue Flexibilität der Deutungsmuster auch für die Wiederbelebung anderer Erzählungen nutzen lassen? 

Sie sprechen einen wichtigen Punkt an: Die radikalen Pazifisten von gestern zeigen heute eine unverhohlene Waffen- und Kriegsbegeisterung, die sich sogar auf militärisch-technische Details erstreckt. Adenauer soll gesagt haben „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern“. Heute sind die krassesten ideologischen Positionswechsel in kürzester Zeit – teilweise im selben Atemzug – kein Problem mehr. Es gibt eine extrem hohe Widerspruchstoleranz. Miteinander unvereinbare oder in sich widersprüchliche Standpunkte werden einfach so hingenommen. Oder die Widersprüche werden – auch bei einem selbst – überhaupt nicht mehr bemerkt. So waren etwa diejenigen, die sich unaufhörlich für Antidiskriminierung, Minderheitenschutz und Inklusion starkmachten, die aggressivsten Befürworter der Impfpflicht und anderer Zwangsmaßnahmen.

Aber es gibt trotz aller logischen Widersprüche und ideologischen Unvereinbarkeiten eine Konstante: die moralische Aufladung sowohl im Klimanarrativ als auch bei den Themen Corona und Ukrainekrieg. Wer in der unerschütterlichen Gewissheit lebt, das Gute zu verkörpern, und von der Vorstellung durchdrungen ist, das absolut Böse zu bekämpfen, ist in der Wahl seiner Mittel nicht limitiert. Die Fratze, die die Hypermoralisten jetzt zeigen, ist ihr wahres Gesicht.

Vorschläge für Gegenerzählungen, die sich die beschriebene Aufweichung von Realität und Rationalität zunutze machen, können Sie von mir nicht erwarten. Konservatives Projekt wäre die Rückkehr zur Wirklichkeit.

Ist das nicht zu einfach gedacht?  Zeigt sich im Aushalten von Widersprüchen nicht sogar die Vitalität eines gesellschaftlichen Systems? Ist Ambiguitätstoleranz nicht auch ein Wert und eben Zeichen historisch gewachsener Gesellschaften, die ja nicht streng nach logischen Gesetzmäßigkeiten konstruiert werden können?

Es geht nicht um das Aushalten von Mehrdeutigkeit, sondern um die Akzeptanz von Absurdität, Willkür und Widersinn, die schizophrene Ausmaße annimmt. Etwa wenn „asymptomatisch Erkrankte“ nur durch einen positiven Test mitbekommen, dass sie erkrankt sind und nach einem weiteren negativen Test als „Genesene“ in die Statistik eingehen.

Zur Person Michael Esders

Michael Esders, 1971 geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 1999 wurde er mit einer Arbeit über literarische Formen der Philosophie promoviert. Nach einem Tageszeitungsvolontariat arbeitete er als Redakteur und in der Unternehmenskommunikation. Bisherige Buchveröffentlichungen: Begriffs-Gesten. Philosophie als kurze Prosa von Friedrich Schlegel bis Adorno (Frankfurt / Main u.a. 2000); Die enteignete Poesie. Wie Medien, Marketing und PR die Literatur ausbeuten (Bielefeld 2011); Ware Geschichte. Die poetische Simulation einer bewohnbaren Welt (Bielefeld 2014); Alphabetisches Kapital. Über die Ökonomie der Bedeutungen (Bielefeld 2017); Sprachregime. Die Macht der politischen Wahrheitssysteme (Lüdinghausen/Berlin 2020); Ohne Bestand. Angriff auf die Lebenswelt (Lüdinghausen 2022).

Narzissmus und Wahn

Idealistische und utopische Bewegungen scheinen für junge Menschen besonders interessant zu sein. Warum schaffen es gerade vor allem politisch linke Gruppierungen, Ideen wie Opferbereitschaft, Gruppendynamik und Verantwortungsgefühl für sich zu nutzen und in teilweise erfolgreichen Aktivismus zu kanalisieren? Kann es ein „Fridays for Future“ oder „Black Lives Matter“ auch für konservative Themen geben?

Die hypermoralischen Erlösungserzählungen haben eine hohe Bindungskraft. Salopp gesagt: Die Rettung der Welt erscheint vielen attraktiver als das Eintreten für Familie, Tradition und Identität.

Ich würde aber bezweifeln, dass sich diese Bewegungen durch ein besonderes Verantwortungsbewusstsein auszeichnen. Mit einer Selbstzuschreibung als „Letzte Generation“ ist eine ungeheure Aufwertung der eigenen Position verbunden: Das eigene Leben wird unauflöslich mit dem Schicksal des Planeten verknüpft – mehr geht nicht. Dieser Versuch, Lebenszeit und Weltzeit zur Deckung zu bringen, hat offenkundig narzisstische und auch wahnhafte Züge.

Aber ist die „Verantwortung für den Planeten“ bzw. „für die menschliche Existenz“, um die Wortwahl von „Fridays for Future“ zu verwenden, nicht ungleich größer und wichtiger als die private Verantwortung?

Ich versuche die Attraktivität zu erklären: Im größtmöglichen, geradezu kosmischen Altruismus den Narzissmus ausleben – das ist der Trick und das Erfolgsgeheimnis.

Die künstlichen Graswurzelbewegungen verfügen über enorme mediale Unterstützung und ein professionelles Mythenmanagement. Bei Greta und „Fridays for Future“ lässt sich nachweisen, dass die Inszenierungen dem archetypischen Muster der „Heldenreise“ folgen, an dem sich auch Hollywood-Blockbuster orientieren.

Die Erfolgsaussichten von Gegenbewegungen, die diese Unterstützung nicht haben, sind eher schlecht. Im Verbund haben Massenmedien und Digitalplattformen die Macht, selbst große Bewegungen in den toten Winkel der Aufmerksamkeit zu verbannen. Auch mit einer Kriminalisierung ist zu rechnen. Dennoch ist es wichtig, sich zusammenzutun, konservative Netzwerke zu bilden und sich gegenseitig zu stützen.

Was kann man also tun gegen die Erosion des Bestands – als Einzelner, als Familie, als Gesellschaft?

 „Autarkie“ ist der Begriff, der sich bei der Frage nach dem richtigen Leben im falschen unter den gegenwärtigen Bedingungen aufdrängt. Ich verstehe den Begriff auch im Sinne der stoischen „autarkeia“ als eine Haltung der Selbstgenügsamkeit, der geistigen Selbstständigkeit, der Unabhängigkeit des Urteils. Angesichts des zerstörerischen und selbstzerstörerischen Wahnsinns im Großen, der in seiner Dynamik kaum zu beeinflussen, geschweige denn zu stoppen ist, kann der Ansatz nur sein, sich im Kleinen, im eigenen Umfeld, in der Familie selbsttragende Strukturen aufzubauen.

Forderungen nach dem großen konservativen Gegenentwurf, der „Großen Erzählung“ kann ich verstehen, halte ich aber für verfehlt. Großentwürfe mit planetarischer Ambition sind ja gerade unser Problem. Das Bestandsbewusstsein bewährt sich im Nahbereich. Das hat nichts mit Biedermeier zu tun. Bestände sind niemals global oder universell, sondern räumlich begrenzt, arrondiert, am Eigenen ausgerichtet. Die Rückbesinnung darauf, die die Gesellschaft dringend bräuchte, beginnt in lebensweltlichen Enklaven.

Wer die Gewohnheitsgefüge gegen die An- und Übergriffe der Sozialtechnokraten in Schutz nimmt, lebt in Gegnerschaft – ob er will oder nicht. Auch wer für Familie in einem nicht beliebig diversifizierbaren Sinn einsteht oder die herrschenden Sprachcodes unterläuft, ist Stachel im Fleisch.

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