„Jede Antastung der Person bereitet den totalitären Staat vor“
Romano Guardini (1885-1968), der katholische Religionsphilosoph, international angesehene Theologe und Priester, galt als scheuer, oft schwermütig gestimmter Gelehrter. Zugleich war er ein sensibler, wachsamer Zeitdiagnostiker und abendländischer Humanist. Was bewog also den italienischstämmigen deutschen Geistlichen im Jahr 1947, von interessierten Ärzten zum Vortrag eingeladen, ungeschmeidig von „nackter Barbarei“ zu sprechen?
Es ging um den Paragrafen 218 StGB, insbesondere um die sogenannte „soziale Indikation“ bei Schwangerschaftsabbrüchen, die den Theologen bewog, Worte von Feuer zu sprechen. Heute, mehr als 75 Jahre später, würde ein Feingeist wie Guardini vermutlich wegen seines leidenschaftlichen Einsatzes für das ungeborene Menschenleben jenseits aller Brandmauern als vorgestrig, frauenfeindlich und unbelehrbar „rechts“ verortet.
Die NS-Zeit war gerade erst Geschichte geworden. Die braunen Machthaber hatten das Abtreibungsstrafrecht gemäß ihrer neuheidnischen Weltanschauung ausgestaltet und gedeutet. Schwangerschaftsabbrüche wurden strafrechtlich geahndet, aber nicht uneingeschränkt. Als Rechtsgut galt auch die „Lebenskraft des deutschen Volkes“ – so festgelegt am 18. März 1943 in Paragraf 218 des Reichsstrafgesetzbuchs. „Erbärzte“ entschieden, orientiert an dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933, das Zwangssterilisationen vorsah, im Verbund mit Erbgesundheitsgerichten, über die „Auslese“ und „Ausmerze“ von „unwertem Leben“. Dadurch waren dann Zwangsabtreibungen durch eine explizite Ausführungsverordnung von Juli 1935 zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vorgesehen.
Die NS-Ideologen wählten die Rassen- und Bevölkerungspolitik zum Maßstab für die straffreie Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen, mit anderen Worten: für Morde an Babys im Mutterleib, die mit körperlichen oder geistigen Behinderungen auf die Welt kommen würden, und an ungeborenen jüdischen Kindern.
Guardini warnte vor der „sozialen Indikation“
Auf diese Weise praktizierte das NS-Regime sogenannte medizinisch-soziale Indikationslösungen. Romano Guardini stand das Grauen dieser blutrünstigen Liberalisierung des Abtreibungsstrafrechts lebendig vor Augen, als er in der unmittelbaren Nachkriegszeit seinen Vortrag hielt, zumal auch der Paragraf 218 noch in Kraft war.
Der Wissenschaftsjournalist Martin Rath legt dar, dass „Regelungen, die vom alliierten Gesetzgeber nicht als genuin nationalsozialistisches Unrecht betrachtet wurden“, grundsätzlich fortbestanden, wie beispielsweise das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das dem noch Jahrzehnte herrschenden wissenschaftlichen Zeitgeist der Eugenik entsprach, etwa „in den liberal oder sozialdemokratisch regierten, protestantisch geprägten Staaten des Westens“ – aus heutiger Sicht unvorstellbar und skandalös. Über eine neue rechtliche Regelung von Abtreibungen wurde in der Nachkriegszeit öffentlich nicht diskutiert.
Romano Guardinis Absicht war nicht, theologisch oder religiös die Hörerschaft zu unterweisen, sondern an Moral und Sittlichkeit zu appellieren, vernünftig zu argumentieren und um Einsicht zu werben – und besonders vor der „sozialen Indikation“ zu warnen. Er hat dann den erstmals im September 1947 in den Frankfurter Heften publizierten Vortrag mehrfach überarbeitet und die abschließende Fassung unter dem Titel „Das Recht des werdenden Menschenlebens“ in dem Band „Sorge um den Menschen“ (Werkbund-Verlag, Würzburg, 2. Aufl. 1963, S. 162-185, aus dieser Ausgabe wird nachfolgend zitiert) veröffentlicht.
Die „Ehrfurcht vor dem Menschen“ – darum war es Guardini zu tun
Guardini arbeitet mit einer Voraussetzung, die auch heute als Grundlage für ernsthafte politische Diskurse über Schwangerschaftsabbrüche dienen könnte: nicht mit dem christlichen Glauben, sondern mit der „Ehrfurcht vor dem Menschen“. Die Expertenkommission der deutschen Bundesregierung äußerte sich am 15. April 2024 offenbar nach Maßgabe ihres Sachverstands ausnehmend ehrfurchtslos über Schwangerschaftsabbrüche und empfahl: „Schwangerschaftsabbrüche in der Frühphase der Schwangerschaft sollten rechtmäßig sein. Für Abbrüche in der mittleren Phase der Schwangerschaft steht dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu. Außerdem sollten wie bisher Ausnahmeregelungen vorgesehen sein, zum Beispiel bei einer Gesundheitsgefahr der Schwangeren.“
Romano Guardini indessen fragte 1947 und könnte dies heute in gleicher Weise tun: „Ist es erlaubt, das im Schoß der Mutter heranreifende Leben des Kindes zu zerstören?“ Die Expertenkommission der Bundesregierung bejahte diese Frage, ohne dass sie ihr gestellt wurde.
Romano Guardini vertrat rigoros und unmissverständlich die gegenteilige Auffassung. Der Mensch werde ohne seinen Willen empfangen, bis zur Geburt sei er in der Obhut und nicht im Besitz der Mutter, danach müssten Familie, Staat und Gesellschaft die Verantwortung für das sich entwickelnde Individuum übernehmen.
Dazu gehöre es, auch soziale Probleme wie Armut, Not und Hunger, die das Kindeswohl gefährden könnten, zu lösen. Oder können sich die Zivilgesellschaft und der Staat von einer solchen Verantwortung dispensieren?
Sonst gibt es bald keine Grenze mehr
Diabolische Fragen treten dabei auf, die in einer glaubenslosen Zeit virulent sind: Müssten Eltern und Staat „nicht unter Umständen das Interesse des noch unselbständigen Wesens auch gegen sein eigenes physisches Vorhandensein vertreten? Wenn sie zur Ansicht kommen, für diesen künftigen Menschen werde das Leben ein Unglück sein – müssen sie ihn dann nicht davor bewahren?“ Das heißt also: Müssten Staat und Gesellschaft gemeinsam mit den Eltern dann nicht die Tötung verlangen? Teuflische Gedanken stellen sich ein: Das Leben eines Menschen, des ungeborenen Kindes, müsste dann nicht unbedingt geschützt, sondern dieses Individuum müsste abgetrieben, also getötet werden.
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Die NS-Machthaber haben die Würde des Menschen als Person grundsätzlich verneint. Fragen wie diese sieht Guardini, unmittelbar nach dem Krieg, als Erbe der geistigen Verrohung, die auch im heutigen Relativismus wiederkehrt – wenn eine Familie etwa zu der Überzeugung gelangt, dass die Geburt eines Kindes sich als ungünstig für sie selbst, das Kind oder den Staat erweisen könnte, dann wäre die Tötung nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten: „Sobald man anfängt, Nachteile als hinreichenden Grund für die Antastung des menschlichen Lebens anzusehen, kann man in überzeugender Weise keine Grenze mehr festhalten.“
Guardini versteht den heranreifenden Menschen ausdrücklich nicht als „irgendeine Wucherung, deren Wegnahme nur erleichtern“ könne; sondern das ungeborene Kind hänge untrennbar mit der Mutter, ihrem Sein, ihrer Würde und ihrem Ethos zusammen: „Leib und Seele orientieren sich zu ihm hin und bereiten sich auf das Mutterwerden vor.“
Die Schwangere ist nicht „Herrin des werdenden Lebens“
Niemand, so Guardini, nicht der Staat, nicht die Gesellschaft, nicht die Familie und auch nicht die Schwangere habe das Recht, darüber zu befinden, ob ein Mensch, ob ein Embryo im Mutterleib, sein Leben behalten dürfe oder nicht. Wer beliebige soziale Indikationen formuliert, um Abtreibungen zu legalisieren, oder die Willensentscheidung der wie auch immer beratenen schwangeren Frau absolut setzt, ob ein Kind geboren werden soll oder nicht, macht sich zum Herrn über Leben und Tod.
Der Mensch, schreibt Guardini, dürfe nicht getötet werden, weil der Mensch auch im Mutterleib bereits Person ist. Er führt näher aus:
„Person ist die Fähigkeit zu Selbstbesitz und Selbst-Verantwortung; zum Leben in der Wahrheit und in der sittlichen Ordnung. Sie ist nicht psychologischer, sondern existentieller Natur. Grundsätzlich hängt sie weder am Alter noch am körperlich-seelischen Zustand noch an der Begabung, sondern an der geistigen Seele, die jedem Menschen eignet. Die Personalität kann unbewusst sein, wie beim Schlafenden; trotzdem ist sie da und muss geachtet werden. Sie kann unentfaltet sein wie beim Kinde; trotzdem beansprucht sie bereits den sittlichen Schutz. Es ist sogar möglich, dass sie überhaupt nicht in den Akt tritt, weil die physisch-psychischen Voraussetzungen dafür fehlen, wie beim Geisteskranken oder Idioten; dadurch unterscheidet sich aber der gesittete Mensch vom Barbaren, dass er sie auch in dieser Verhüllung achtet. So kann sie auch verborgen sein wie beim Embryo, ist aber in ihm bereits angelegt und hat ihr Recht. […] Die Achtung vor dem Menschen als Person gehört zu den Forderungen, die nicht diskutiert werden dürfen.“
Entschieden missbilligt der Theologe die „immer wieder aufgestellte Behauptung“, dass die Frau das Recht freier Verfügung über ihren Körper habe und deshalb die Schwangerschaft abbrechen dürfe. Die Schwangere ist aber niemals die „Herrin des werdenden Lebens“: „Die Behauptung, das Kind im Schoße der Mutter sei einfachhin ein Teil ihres Körpers, steht auf der gleichen Linie wie jene, der Mensch im Staate sei einfachhin ein Teil von dessen Ganzem. Die Gesinnung, welche der Mutter erlaubt, über das Kind, das in ihr lebt, zu verfügen, muss auch dem Staat das Recht geben, über den Menschen zu verfügen, der zu ihm gehört.“
Das Kind ist weder ein Organ der Mutter noch eine Missbildung in ihrem Körper, es reift in ihr heran, so dass sie nach neun Monaten ihrem Baby die Geburt schenken kann. Die Bedeutung dieses Schenkens darf nicht übersehen werden. Kinder sind nicht, niemals, zu keinem Zeitpunkt Besitztümer ihrer Eltern; so wurde in der römischen Antike gedacht, als der Familienvater über Leben und Tod seiner Nachkommen entscheiden konnte und die postnatale Kindstötung, also ein barbarisches Unrecht in reinster Form, geltendes Recht war.
Ein unabweisbares Wenn – dann
Guardini spricht auch von „werdendem Leben“, doch wie meint er das? Ist der Mensch nicht ganz Mensch von Anfang an? Das sieht auch Guardini so. Er begreift den Menschen als eine Ganzheit, als einen Organismus, der als „Werdegestalt“ anzusehen und von der Zeugung an bereits ganz Person ist:
„Der Bogen seiner Werdegestalt beginnt mit der Vereinigung der elterlichen Zellen, gipfelt in der morphologischen Vollendung und geht bis zum Tod. Er ist also schon Mensch im Augenblick der Empfängnis – ebenso wie er es noch im letzten Augenblick des Sterbens ist. Anders zu denken, ist konsequenterweise nicht möglich.“
Wer den Embryo im Mutterleib nicht unbedingt schützt, spricht das Menschsein auch dem alten Menschen ab. Wer den Menschen etwa nur auf dem Stadium eines physischen Optimums als Menschen ansieht, würde zugleich sagen, dass der Mensch im Alter weniger Mensch sei. Kann ein kranker oder schwacher, kann ein behinderter Mensch, ein Wachkomapatient noch auf das Menschsein Anspruch erheben? Wer das bezweifelt, weist eine Gesinnung auf, die nach Guardini „nackte Barbarei“ ist.
Weitere Indikationen – ähnlich der Schädigung der „Lebenskraft des deutschen Volkes“ durch „erbkranken Nachwuchs“ – sind sogleich denkmöglich. Wem kann, darf oder muss dann als nächstes, vielleicht sogar in scheinbar menschenfreundlicher oder mitleidvoller, doch in Wahrheit mörderischer Absicht, das Leben genommen werden? Der Mensch ist unwiderruflich Mensch, vom ersten Augenblick an und durch alle Stadien seines Lebens hindurch.
„Jede Antastung der Person bereitet den totalitären Staat vor“
Wer den Lebensschutz relativiert oder aufhebt, ob durch die Legalisierung von Abtreibung oder Sterbehilfe, der kehrt sich nicht nur von den christlichen Fundamenten des Abendlandes, sondern auch von der Vernunft ab. Der Mensch ist immer, zu jeder Zeit seines Lebens, absolut schützenswert, so lehrte Immanuel Kant in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, als ein „Zweck an sich selbst“ zu begreifen und niemals ein Mittel zum beliebigen Gebrauch.
Romano Guardini schreibt über die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und Euthanasie deutlich:
„Jede Antastung der Person, vollends wenn sie unter Billigung durch das Gesetz geschieht, bereitet den totalitären Staat vor, und es spricht weder für die Klarheit des Denkens noch für die Wachheit des Gewissens, diesen abzulehnen und jenes zu bejahen.“
Klingt der katholische Denker damit nicht, auf unsere Zeit bezogen, wie ein verkannter Prophet? Wer heute Abtreibung und Euthanasie, also Formen der „nackten Barbarei“, begrüßt und befördert, mag sich dabei selbst noch so sehr als Humanist verstehen, sollte aber ernsthaft darüber nachdenken, ob er sich nicht in diametralem Gegensatz zu Art. 1 der deutschen Verfassung befindet und damit die Würde des Menschen für antastbar erklärt.
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für diesen Artikel, ohne den ich von der genannten Rede Guardinis nie erfahren hätte.
für diesen Artikel, ohne den ich von der genannten Rede Guardinis nie erfahren hätte.