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Kolumne „Kaffeehaus“

Herbstreflexion

In politisch und gesellschaftlich aufgeladenen Zeiten wie heute, sind es die Jahreszeiten und Feste, die uns einen Raum für Ruhe und Reflexion geben. Insbesondere der Herbst. Er stimmt melancholisch, nachdenklich und friedlich: gerade jetzt, wo so wenig Frieden auf den Straßen und Bildschirmen herrscht. Goldene Blätter, warme Lichter der Kerzen und gemütliche Abende. Das alles gibt ein Gefühl der Ganzheitlichkeit, aber auch Vergänglichkeit. Einiges geht im Leben zu Ende und anderes erneuert sich.

Von all der Pracht des Herbstes sind es die Blätter, die symbolisch für diese Veränderung stehen. Vor allem die roten Farbtöne. Gelb, Orange und Grün bleiben die ganze Saison über erhalten, aber Rot explodiert schnell und heftig und verblasst dann wieder.

Als ich letztes Jahr im November Rom besuchte, realisierte ich, dass dieses Farbspiel des Herbstes im Süden so nicht stattfindet. Die Pinien sahen immer gleich aus, nur der Herbsthimmel deutete auf die Veränderung der Jahreszeit hin. Und es ist dieser in warmes Licht gehüllte Herbsthimmel, der unsere Gedanken zu einer Verwunderung und Befreiung führt. Zu einer tiefen und ehrlichen Selbstbeobachtung. Vielleicht ist das der Grund, warum wir uns im Herbst so wohl fühlen.

Unter dem Blick unserer Vorfahren

Der Herbst ist eine sentimentale Zeit, in der wir über die Vergangenheit nachdenken, über die Dinge und Menschen, die uns auf unserem Weg begleiten. Es ist die Zeit einer Reflexion darüber, was dazu gehört und was nicht. Eine Zeit der Klarheit und Reinigung. So wie die Bäume ihre Blätter verlieren, verlieren wir unsere Sicherheiten und Vorstellungen.

Für mich bedeutet der Herbst eine Zeit des Schweigens, die keiner Erklärung oder Selbstverteidigung benötigt. Eine Stille und Nostalgie, die den Fokus aufs Wesentliche richten. Ein wunderbarer Kreislauf der Natur, der dem Geist die Möglichkeit gibt, sich immer wieder zu erneuern. Warme Getränke und kuschelige Pullover, am besten mit menschlicher Wärme und Umarmungen kombiniert. Wer könnte diesem Ruf des Herbstes widerstehen?

Die Feste Allerheiligen und Allerseelen, bei denen die irdische Dimension um die der Ewigkeit erweitert wird, passen wunderbar zu dieser Herbstreflexion. Das Leben ist viel mehr als der Status Quo der Politik und des Alltags. Der Mensch ist zu Höherem berufen, als nur dem „Gestell” des Systems gerecht zu werden.

Das Gruseln an Halloween ersetzt die Beschäftigung mit dem Tod

Ein Blick auf die Vorbilder, die wir Heilige nennen, und auf unsere Vorgänger, mit denen wir verbunden bleiben, genügt: Eine Rechnung wird uns gestellt. Vergangenheit und Zukunft rahmen unser Handeln ein. Die Blicke unserer Vorfahren und unserer Kinder sind es, die das Alltagshandeln beeinflussen und beleuchten. Wir sind vergänglich, und der Einfluss unserer Worte und Taten auf dieser Welt ist eingeschränkt. Alles unterliegt der Vergänglichkeit, und jeder Tag ist eine einzigartige Chance, etwas zu hinterlassen, was im Gedächtnis anderer bleibt. Etwas, wofür unsere Vorfahren stolz auf uns sein könnten.

Das „Memento Mori”, das aus dem antiken Rom stammt und sich in der katholischen Tradition fortsetzte, mahnt uns, die eigene Sterblichkeit und Menschlichkeit nicht zu vergessen. Der weltliche Grusel-Rausch des Halloween ist daher auch eine Konsequenz dieser vergessenen Reflexion und Beschäftigung mit dem eigenen Tod.

Und so sehr wir diese Gedanken auch vertreiben, früher oder später werden wir mit ihnen konfrontiert werden. Es ist besser, wenn wir uns in diesen ruhigen und langsamen Tagen bewusst Zeit für eine solche Reflexion lassen.

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