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Dass Felix lebt, ist keine Selbstverständlichkeit

Die erste Frage lautete: „Möchten Sie die Schwangerschaft fortsetzen?“

Dass Felix im Dezember zur Welt gekommen ist, war keine Selbstverständlichkeit. Und irgendwie auch doch. Keine Selbstverständlichkeit war es, weil die Geschichte seines noch jungen Lebens auch hätte ganz anders ausgehen können. Und geradezu eine Banalität war es deshalb, weil die Eltern ihren Bub behalten hätten, komme, was wolle.

Es war der 12. Juli 2024. Christina Widmann erinnert sich noch genau an dieses Datum, weil ihr an diesem Tag etwas passiert ist, von dem sie nie geglaubt hätte, dass es so etwas überhaupt geben könnte. 

Widmann, damals in der 20. Woche schwanger und in Spanien lebend, hat eine Routineuntersuchung bei ihrer Frauenärztin. Diese stellt beim Ultraschall eine Auffälligkeit fest, Verdacht auf Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte. Die Ärztin ist sich unsicher, weil der Kleine im Bauch seine Händchen vor das Gesicht hält, fast so, als wüsste er, was ihm drohen könnte.

Die Ärztin ruft Kollegen zu sich, erst einen, dann zwei, dann noch eine Arzthelferin. Schließlich glauben zwei, was zu sehen, zwei nicht. Statt die 29-jährige Patientin für den Fall der Fälle über Lösungsmöglichkeiten aufzuklären und Hilfsoptionen zu erläutern, lautet die anschließende Frage an sie: „Möchten Sie die Schwangerschaft fortsetzen?“

„An eine Abtreibung auch nur zu denken, ist meinem Mann und mir gar nicht eingefallen“

Christina Widmann stockt zunächst das Herz. Nicht wegen der Diagnose, sondern wegen der Frage. Zur Sicherheit fährt Widmann, die bereits zwei Kinder hat, zu einem Gynäkologen in der bayerischen Heimat. Dieser ist sich sicher: Der kleine Felix hat mindestens eine Lippenspalte. „An eine Abtreibung auch nur zu denken, ist meinem Mann und mir gar nicht eingefallen. Stattdessen fragten wir uns, ob unser Sohn ganz normal gestillt werden kann oder ob er eine spezielle Trinkflasche braucht, wie die Kerbe behandelt wird“, erzählt die junge Frau, die für die spanische konservative Stiftung CitizenGO arbeitet, gegenüber Corrigenda. Doch auf diese Fragen hätten die Ärzte keine Antwort gehabt, sondern das Ehepaar an Kollegen verwiesen.

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Ein Dreivierteljahr ist das jetzt her. Heute trinkt Felix ganz normal Milch, erzählt Christina mit urigem bayerischem Zungenschlag. „Er wächst, dass es nur so eine Freude ist, ihm zuzuschauen.“ Und auch die älteren Geschwister können sich ihren Bruder nicht mehr wegdenken. In Kürze steht die Operation an, bei der die Oberlippe verschlossen wird.

„Ich habe zu den Ärzten gesagt: ‘Ich kriege das Kind, egal was passiert’“

Die Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte ist eine der am häufigsten auftretenden Fehlbildungen beim Menschen. Bei einem von 500 bis 600 Kindern wird eine solche festgestellt. Je nachdem, wie ausgeprägt sie ist, sind nur Lippe und Kiefer, mitunter aber auch der Gaumen betroffen.

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Beim inzwischen bald vier Monate alten Felix ist die linke Seite der Oberlippe betroffen, die Kerbe ist rund sechs Millimeter tief. Wenn Christina davon erzählt, ist sie noch immer sichtlich erregt. „Ich war sprachlos. Ich habe zu den Ärzten gesagt: ‘Ich kriege das Kind, egal was passiert.’“ Auch habe sie die ihr sofort angebotenen Genuntersuchungen sowie Pränataltests abgelehnt.

„Ich hatte große Angst, ob ich mein Kind schön finden kann“

Dass eine solche Diagnose auch für gestandene, lebensbejahende Mütter nicht einfach ist, das zeigt der Fall von Martina Graf. Die Bayerin hatte bereits sieben Kinder, als sie mit dem achten schwanger war. „Ich hab das auf dem Ultraschallbild gesehen, dass da eine Kerbe ist“, erzählt sie gegenüber Corrigenda. „Da rutscht einem schon mal das Herz einen Stock tiefer. Mein Mann und ich sind sehr froh, dass wir einen festen Glauben haben.“

Martina Graf versucht Freunden, Verwandten, Bekannten und alle, die sie darauf ansprechen, die Angst zu nehmen, die auftreten kann, wenn eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Kerbe im Raum steht. „Ich hatte große Angst, ob ich mein Kind schön finden kann, oder ob ich nach der Geburt erschrecke. Jetzt im Nachhinein klingt das natürlich absurd. Aber damals fand ich diese Vorstellung ganz schlimm als Mutter.“ Ihr habe es sehr geholfen, mit einer anderen Mutter eines betroffenen Kindes zu sprechen. 

Inzwischen hat sie noch zwei weitere Kinder bekommen, eines davon mit einer Kerbe. Sie weiß also, wovon sie spricht. Welche Worte möchte die Mutter anderen auf den Weg geben? „Natürlich wünscht man sich das nicht, aber bei den Kindern handelt es sich um völlig selbständige und wunderschöne Kinder.“ Auch sie kann die euphemistisch formulierte Frage nach der Abtreibung eines solchen Kindes nicht verstehen.

Experte Sader: „Es gibt keinen Grund, an eine Abtreibung zu denken“

Was sagt die andere Seite? Was sagen Ärzte? Eine Koryphäe auf dem Gebiet ist Robert Sader, Direktor der Klinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie am Universitätsklinikum Frankfurt. Er erklärt gegenüber Corrigenda, bei einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte handele es sich um alles andere als eine lebensbedrohliche Fehlbildung. „Sie gehört behandelt, man kann sie auch sehr gut behandeln, und bei einer unkomplizierten Spaltbildung gibt es keine weiteren Fehlbildungen, weder physisch noch geistig.“

Sader, dem für seine Arbeit vor zwei Jahren sogar das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde, berät laut eigenen Angaben ein- bis zweimal wöchentlich Schwangere, bei deren Kind intrauterin, also innerhalb der Gebärmutter, mit Ultraschall eine Spaltbildung festgestellt wurde. Er stellt klar: „Es gibt keinen Grund, an eine Abtreibung zu denken.“

Bei einem Drittel der vor der Geburt diagnostizierten Kinder sei lediglich der vordere Teil, sprich Lippe und Kiefer betroffen. Hier träten keine spezifischen Komplikationen auf, die Kinder könnten gestillt und die Spaltbildung im ersten Lebenshalbjahr operativ verschlossen werden. Doch auch im Falle einer kompletten Spaltbildung gäbe es sehr wirksame Hilfsmittel für die Ernährung, bis die Fehlbildung durch eine Operation korrigiert werde. Heute seien die Verfahren schonend, und es reiche meist ein Eingriff.

Bis zur Operation könne man mithilfe eines 3-D-Fotos im Mund eine Kunststoffplatte herstellen und einsetzen, die den Gaumen provisorisch verschließt. Zusätzlich hülfen auch Stillhütchen oder Spezialfläschchen, mit denen das Kind dann nahezu normal gefüttert werden könne, manchmal dauert das Füttern oder Stillen nur länger als sonst üblich.

Gynäkologe: „Ja, eine Mutter könnte klagen, wenn der Arzt sie nicht darauf hingewiesen hat“

Der Gynäkologe Michael Kiworr weist auf einen anderen Aspekt hin. Bei der Schwangerenvorsorge und Pränataldiagnostik sei es heute oftmals üblich, dass man auf der vermeintlich sicheren Seite stehen möchte, was bedeutet: Die Mutter auf alle Möglichkeiten hinzuweisen. Auf Corrigenda-Nachfrage bestätigt er: 

„Ja, eine Mutter könnte klagen, wenn der Arzt sie nicht darauf hingewiesen hat. Neuerdings kommt der Druck auch von einzelnen Krankenkassen, die – ausgestattet mit umfangreichen juristischen Optionen – versuchen, Gelder für etwaige Behandlungskosten einzutreiben. So könnte etwa die Krankenkasse der Mutter versuchen, die Kosten für die operative Korrektur von dem Gynäkologen einzutreiben. Grundsätzlich gilt: Wenn die Schwangere nicht über alle Optionen umfangreich informiert wurde, ist der behandelnde Gynäkologe im Nachhinein juristisch angreifbar.“

Was jedoch oft vergessen werde, sei das „Recht auf Nichtwissen“, ergänzt Kiworr. 

„Die Konsequenzen eines auffälligen Befundes in der Pränataldiagnostik stellen oft eine erhebliche Belastung für die Schwangere dar. Nicht wenige Befunde können jedoch durchaus harmlos sein, keiner weiteren Therapie bedürfen oder sind sehr gut behandelbar, ohne bleibende Beeinträchtigung. Nur ist auch in diesen Fällen die Belastung für die Schwangere erheblich, und wenn nicht vorher ausführlich besprochen wurde, welche Untersuchungen überhaupt gewünscht und sinnvoll sind und was die Schwangere gerne wissen möchte und was nicht, fühlen sich nicht wenige Schwangere mit den Konsequenzen einer solchen Diagnostik häufig alleine gelassen und nicht mehr ausreichend begleitet.“

Hierbei gelte es, den „Segen der Pränataldiagnostik mit einer guten Planung des weiteren Vorgehens für Mutter und Kind sowie die enstprechenden Behandlungsmöglichkeiten der Kehrseite der Diagnostik gegenüberzustellen: Befunde mit unsicherer oder geringer Bedeutung, die weitere Kontrollen nach sich ziehen und die Schwangere beunruhigen.“ Nicht wenige Frauen sagten im Nachhinein: „Hätte ich das doch bloß nicht vorher gewusst“. Die „freudige Erwartung“, wie man eine Schwangerschaft früher bezeichnet habe, sei heute oft einem „ängstlichen Abwarten“ gewichen.   

Der Oberarzt bestätigt zudem, dass die Ausnahmeregelung in den Abtreibungsparagraphen 218, insbesondere 218a StGB so weit gefasst sind, dass eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte ausreichend wäre, um aufgrund einer medizinischen Indikation ein Kind abtreiben zu lassen. „Auch wenn es keine eigentliche Erkrankung des Kindes ist, beziehungsweise sehr gut behandelt werden kann: Wenn die Mutter angibt, es wäre für sie eine zu große Belastung, könnte sie abtreiben lassen.“ 

Kiworr ergänzt: Die Tatsache, dass – wie es euphemistisch genannt wird – „die Entscheidung ganz bei der Schwangeren liegt“ bedeute jedoch auch, „dass komplexe Entscheidungen auf Schwangere abgewälzt werden, die sie ohne fachkundige und einfühlsame Informationen von darauf spezialisierten Fachleuten aus verschiedenen Bereichen und Perspektiven kaum treffen können“. Erst recht nicht in einer „Ausnahmesituation bei der Diagnosemitteilung über einen überraschenden, nicht erwarteten vermeintlich negativem Befund“. In diesem Falle, einer Lippenspalte, wären Informationen von Kinderchirurgen erforderlich.  

„Es fehlt eine ‘Willkommenskultur’ für Kinder mit Auffälligkeiten“

Und dann weist Kiworr noch auf eine traurige Entwicklung hin: „Es gibt immer wieder  Klagen von Eltern gegen Gynäkologen, falls beim Kind etwas nicht erkannt wurde, die dann sagen, sie hätten es abtreiben lassen, wenn sie von der Auffälligkeit gewusst hätten. Man spricht dann bizarrerweise vom ‘Kind als Schaden’. Auf der einen Seite spricht daraus die Überforderung der Eltern, manchmal auch der Wunsch nach finanziellen Hilfen oder Unterstützung, vereinzelt soll aber auch einfach ein vermeintlich Schuldiger gefunden werden.“ 

Was in der heutigen Gesellschaft fehlte, sei eine echte Unterstützung für Betroffene: Eine „Willkommenskultur“ für Kinder mit Auffälligkeiten und Besonderheiten, seien es kleine oder große, eine konsequente Unterstützung der Eltern, die dann in keinem Fall allein gelassen werden dürften. 

„Es braucht ein gesellschaftliches Klima, in dem Menschen mit Erkrankungen und deren Eltern Unterstützung statt Ablehnung erfahren. Mit jedem Kind erleben Eltern Ambivalenzen, Wunderschönes wie Herausforderndes, sowohl tiefe Freude und Glück, aber auch Erkrankungen und Belastungen bleiben nicht aus und können vor, bei und nach der Geburt auftreten. Die entscheidende Frage ist: Wie gehen wir damit um?“

Wie viele Kinder jährlich aufgrund einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte nicht zur Welt kommen dürfen, darüber werden keine Statistiken erhoben. Christina Widmann gibt dieses nun bald abgeschlossene Kapitel jedenfalls nur noch mehr Motivation, sich für das Lebensrecht ungeborener Kinder einzusetzen. 

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