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Kolumne „Mild bis rauchig“

Babylonisch

In meiner Kindheit gab es ein Arkadien. Ein kleines Dorf in der Nordeifel, in dem meine Eltern zwei kleine Zimmer als Wochenendbleibe gemietet hatten. Es sollte ein Ausgleich sein zum Leben in Aachen, in dessen Ostviertel es außerhalb der Wohnung für ein Kind wenig Attraktives gab. Hinzu die schlechte Luft und der arge Autoverkehr an der Ausfallstraße, an der wir wohnten.

Das Wochenende wurde von mir deswegen immer herbeigesehnt, weil es dann im vollbepackten VW-Käfer in die Eifel ging. Wir hatten in dem kleinen Fachwerkhaus, in dem sich unsere Wohnung befand, kein Bad und nur kaltes Wasser, keine Heizung und keinen Fernseher.

Dafür aber einen Kohleofen, der eine unglaublich behagliche Wärme produzierte, gute Luft und vor allem die Natur mit Wäldern und Wiesen, sommerlichen Kornfeldern, in denen man liegen und den Feldlerchen zuhören konnte, wie sie sich singend in die Höhe schraubten, einen Bauernhof, der mich mitarbeiten und beim Füttern von Kälbchen und Ferkeln helfen ließ und Obstbäume, die im Frühjahr mit üppiger Blütenpracht und im Sommer mit ihren unbehandelten Früchten aufwarteten.

Topf mit Rindfleischsuppe und Welt aus einem Guss

Unter den Erinnerungen, die mir von diesem Idyll an Natur und Geborgenheit haften geblieben sind, befindet sich auch unsere Vermieterin. Ich nannte sie „Tante“, obwohl sie auf mich wie eine Großmutter wirkte. Sie entstammte aus einer vergangenen Welt – optisch wie sprachlich –, was für mich als Kind die Erfahrung verstärkte, als Mensch auf einer unbekannten, aber wertvollen Vergangenheit aufzuruhen.

Die „Tante“ verkörperte in ihrer unhinterfragten Lebensweise eine heute selten gewordene Sicherheit. Sie zweifelte nicht an ihrem Dasein, weder an seinem Vorhandensein noch an seinem Sinn. Sie lebte in ihrer kleinen Welt, die durch die Selbstverständlichkeit, mit der sie in ihr lebte, im Empfinden viel größer war als die wirklichen Ausmaße des kleinen Eifeldorfes. Diese Welt war aus einem Guss. Es gab in ihr ein Oben und ein Unten, Richtig und Falsch, und es gab die Natur und Gott, der das alles geschaffen hatte. Auf diese Weise war meine „Tante“ imprägniert gegen die Wirrungen der 1960er Jahre.

Gleich dem Topf mit Rindfleischsuppe, der stets auf dem Kohleherd simmerte, lebte sie die Kontinuität von Herkunft, Gegenwart und Zukunft in einer selbstverständlichen Sicherheit, die in ihrer unhinterfragten Bedingungslosigkeit auf mich eine unglaubliche Ruhe ausstrahlte. Heute würde man so etwas „unaufgeklärt“ nennen. Ich empfand es hingegen als eine Stärke, die – wie mit einem geheimen Wissen ausgestattet – entwaffnend war gegenüber allem, was damals an der Tagesordnung war an Neuerungen, Umstürzen und Abnabelungen.

„Die sprechen Babylonisch“

Ich erinnere mich noch gut an die kuriose Art unserer Vermieterin, mit der sie Touristen aus Belgien oder den Niederlanden einordnete, deren Sprache sie nicht verstand. Wenn man sie fragte, wo die Leute herkamen, die sie getroffen hatte, antwortete sie: „Ich weiß es nicht. Die sprechen Babylonisch.“

Das Fremde, Unverständliche und damit für sie Unzugängliche wurde treffsicher in den Kontext der Bibel gestellt, die man ihr in ihrer Schulzeit nahegebracht hatte: die Menschen verstehen sich nicht mehr, seit sie anmaßend waren und einen Turm in den Himmel gebaut hatten. Zur Strafe verwirrt Gott ihre Sprache, so dass sie sich nicht mehr ohne Barriere austauschen können, denn Er sagt sich:

„Siehe, ein Volk sind sie und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, wenn sie es sich zu tun vornehmen. Auf, steigen wir hinab und verwirren wir dort ihre Sprache, so dass keiner mehr die Sprache des anderen versteht.“ (Gen 11,6 f)

Die Anmaßung, nach dem Himmel mit menschlichen Mitteln zu greifen, entspringt der Ur-Sucht des Menschen, wie Gott sein zu wollen. Das Buch Genesis schildert, wie Gott diese Anmaßung unterbindet und den Menschen das hohe Gut der Verständigung nimmt, das sie ausgenutzt haben, um Ihm den Platz streitig zu machen:

„Der Herr zerstreute sie von dort aus über die ganze Erde, und sie hörten auf, an der Stadt zu bauen. Darum gab man der Stadt den Namen Babel, Wirrsal, denn dort hat der Herr die Sprache der ganzen Erde verwirrt, und von dort aus hat er die Menschen über die ganze Erde zerstreut.“ (Gen 11, 8 f)

Die Beneluxtouristen als die einzig greifbaren anderssprachigen Menschen, die unsere Vermietertante je zu Gesicht bekommen hatte, waren für sie in ihrer Unverständlichkeit das Ergebnis der babylonischen Sprachverwirrung. Damit war sie entbunden, sich länger mit ihnen zu beschäftigen. Sie fügte sich viel mehr in den Gedanken, dass die Strafe für die babylonische Anmaßung nun einmal die Welt nachhaltig geprägt hatte und dass es jetzt nicht ihre Aufgabe war, daran etwas zu ändern. Also bekamen die ausländischen Gäste ihre historische Einordnung. Sie sprechen „Babylonisch“ – die Sprache, die entsteht, wenn der Mensch übermütig wird und seinen Platz verlässt.

Meine Nenntante und der Bundestagswahlkampf

Unsere Vermieterin starb mit Mitte sechzig, optisch zwanzig Jahre älter, nach kurzem hingebungsvollem und geduldigem Leiden. Sie nahm ihre Welt mit ins Grab, in dem das Unerklärliche hingenommen und das Unvermeidbare angenommen worden war. Ihre Stärke bestand in ihrer Bodenständigkeit, die sie vor jeder intellektuellen Täuschung bewahrte. Sie konnte im Gegensatz zum heutigen therapiesüchtigen Menschentypus mit der Wirklichkeit umgehen, weil der Zugang zu ihr nicht verstellt war. Sie war grundskeptisch gegen alle Mogelpackungen der damals schon revolutionär-modernen Welt und ihre Kopfgeburten.

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Meine Nenntante kam mir jüngst in den Sinn, als ich im Zuge des Bundestagswahlkampfes eine Reihe von Fernsehschaukämpfen zwischen den Spitzenkandidaten der großen Parteien verfolgte. In den immer gleichen Mustern an Frage-Antwort-Spielen offenbarte sich das, was die alte Bäuerin „Babylonisch“ nannte. Denn auch, wenn in solchen Runden alle Deutsch sprechen, man redet dennoch beständig aneinander vorbei. Begriffe wie „Demokratie“, „Frieden“, „Gerechtigkeit“, „Wohlstand“, „Menschheit“ oder „Zukunft“ haben viele Gesichter und erschweren den Dialog, weil niemand mehr so recht weiß, was der andere genau meint, wenn er etwas sagt. Bewertungen werden damit am Ende inflationär bedeutungslos. „Rechts“ und „links“ sind nur die Speerspitze des Jonglierens mit der Phrasendreschmaschine.

Alles kein Wunder, würde die alte Eiflerin sagen, das kommt davon, wenn man den Boden unter den Füßen verliert. Dann hebt man ab, von der Welt und von ihrer Wahrheit. Das politische Geschäft der Gegenwart bestätigt in der Tat die Ursünde des Menschen, der sich gerne ohne Gott oder gar gegen Ihn in dieser Welt einnisten möchte. Die Gängelung durch die Herkunft als Geschöpf und die diesbezüglichen Grenzen seiner Existenz versetzt ihn stets in die Versuchung, auszubrechen und es einmal ohne Gott zu probieren.

Erneuter Turmbau und Trost für Christen

Die Mehrheit der politisch Aktiven und damit der Volksvertreter in unserem Land befinden sich in genau diesem Zustand der Anmaßung Gott gegenüber. Sie bauen ihre aufgeklärten Kopfkonstrukte von der populistischen Lifestyle-Sandburg auf dem woken Spielplatz bis zum handfest atheistischen Wolkenkratzer milliardenschwerer Verwirtschaftlichung des Humanen.

Die Ratlosigkeit, in der die deutsche Wählerschaft in den vergangenen Wochen zurückgelassen wurde, bestätigt die Verwirrung, der die meisten im Ranking befindlichen Parteien erlegen sind. Man hat schon lange die Ordnung, die Gott gestiftet hat, zurückgelassen und sich in dem Wahn, es besser zu wissen, an den Turmbau begeben. Die Einheit, die Gottes Wahrheit für die Menschen erdacht hat, ist zerstört und die Sprache, die das Instrument ist, die Wahrheit abzubilden, verwirrt.

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Man wird nicht umhinkönnen, damit auch der Zukunft keine guten Aussichten zuzuschreiben. Jedenfalls nach menschlichem Ermessen und gemäß der Einsicht, dass alle Ermächtigung von Menschen, sich – mit und ohne Demokratie – in dieser Welt an die Stelle ihres Schöpfers zu setzen, noch jedes Mal schiefgegangen ist.

Für glaubende Menschen gibt es natürlich immer noch den einen wichtigen und bewährten Trost. Er liegt in den berühmten Zeilen, die Reinhold Schneider im Jahre 1936 – in ähnlich bedrängter Zeit – zu Papier brachte:

Allein den Betern kann es noch gelingen,
Das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten
Und diese Welt den richtenden Gewalten
Durch ein geheiligt Leben abzuringen.

Denn Täter werden nie den Himmel zwingen:
Was sie vereinen, wird sich wieder spalten,
Was sie erneuern, über Nacht veralten,
Und was sie stiften, Not und Unheil bringen.

Jetzt ist die Zeit, da sich das Heil verbirgt,
Und Menschenhochmut auf dem Markte feiert,
Indes im Dom die Beter sich verhüllen.

Bis Gott aus unsern Opfern Segen wirkt,
Und in den Tiefen, die kein Aug’ entschleiert,
Die trocknen Brunnen sich mit Leben füllen.

Tröstende Worte, wie ich meine – auch wenn sich diejenigen, auf die Reinhold Schneider seine Hoffnung setzt, heute in ihrer Mehrheit lieber statt in den Domen auf dem Markt einfinden.

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