Kolumne „Ein bisschen besser“

Warum wir auf den Videobeweis pfeifen

Wenn es in meinem Leben ständig einen Videobeweis geben würde, wäre es nicht so schön geworden. Denn wenn das Menschliche dem Messbaren weicht, haben die Erbsenzähler gewonnen. Überlassen wir die Welt nicht ihnen!

Von Judith Wagner & Oliver Stock

Vorschau — Hamburg, Elbphilharmonie: Während ich noch dachte, wie schön Aussicht ohne Einsicht ist, schoss Judith den Fotobeweis

© Judith Wagner Fotografie

Oliver Stock genießt die Aussicht von der Elbphilharmonie in Hamburg — Hamburg, Elbphilharmonie: Während ich noch dachte, wie schön Aussicht ohne Einsicht ist, schoss Judith den Fotobeweis

© Judith Wagner Fotografie

Also, wenn es in meinem Leben ständig einen Videobeweis geben würde, wäre es nicht so schön geworden – mein Leben. Als ich zum Beispiel Judith das erste Mal mit vollem Bewusstsein erblickte, traf mich der Blitz. Mir blieb das Herz stehen. Ich verlor umgehend das Bewusstsein. Und gäbe es einen Videobeweis davon – ich hätte mich für immer zum Gespött der Leute gemacht.

Unser gemeinsames Leben ist keines, das sich für Videobeweise eignete

Unser gemeinsames Leben ist seither auch keines, das sich für Videobeweise eignet. Judith braucht morgens immer etwas, um in den Tag zu kommen. Wenn ich ein Video drehte, das bewiese, wie sie atemlos versucht, den schon fortgeschrittenen Tag einzuholen, wären wir geschiedene Leute. Und wenn sie umgekehrt die Anzahl meiner Schuhe, die im Wohn-, Schlaf- und Esszimmer herumfliegen, videobeweisen würde, dann dürfte ich mir bis ans Lebensende kein einziges weiteres Paar leisten.

Ja, unser Leben besteht in Wahrheit aus kleinen und manchmal sogar größeren Fluchten, von denen wir wirklich nicht möchten, dass es dafür Beweise gibt. Einige davon schildern wir hier, bei anderen ist es ein bisschen besser, wir begraben sie in unserem Herzen und schweigen darüber, sonst hätten wir ja gleich Influenzer werden können.

Judiths Objektiv müsste eigentlich Subjektiv heißen

Als wir beide letzten Montag in Hamburg in der Elbphilharmonie gewesen sind, was ein nachdrücklicher Bau ist, wo die Hamburger Kaufleute zeigen, was sich mit Geld und Geschmack anrichten lässt, haben wir am Fenster im 16. Stock gestanden. Du kannst da rausgucken auf den Michel und seine Getreuen, aber die Scheibe ist so bepunktet, dass Reingucken nicht geht. Während ich noch dachte, wie schön Aussicht ohne Einsicht ist, schoss Judith von der Seite den Fotobeweis.

Ich glaube, sie sieht mich gern durch ihre Linse. Es ist ihre ganz eigene Sicht auf den Stand der Dinge. Ihr Objektiv, es müsste eigentlich Subjektiv heißen. Das Messbare weicht dem Menschlichen und ist das Gegenteil vom Videobeweis. Zehn zu höchstens eins heißt unser Spielstand deswegen. Es lebt sich ganz gut damit.

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Judith Wagner, Jahrgang 1978, hat Kommunikationsdesign in Düsseldorf studiert und arbeitet seit 2005 als Fotografin in den Bereichen People, Corporate und Lifestyle. „Ich glaube: Das Normale ist schön. Das Authentische wirkt, aber es braucht die richtige Perspektive und das richtige Licht. Ich mache keinen Kitsch, aber Hässlichkeit interessiert mich nicht. Die braucht mich nicht“, sagt sie.

Oliver Stock, Jahrgang 1965, ist Herausgeber und Chefredakteur von Business Punk. Der studierte Volkswirt und Historiker sowie Autor mehrerer Bücher kennt die Welt der Politik, der Startups und Unternehmen: Als Journalist arbeitet Stock für Business Punk, Focus online, die Schweizer Weltwoche und den Börsianer aus Wien. Er hat viele Jahre seines Berufslebens „auf der anderen Seite des Schreibtischs“ verbracht: als Sprecher in der Politik und von Konzernen.

Das Paar lebt mit seinen Kindern in Düsseldorf und veröffentlicht Deutschlands einzige Familienkolumne.