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Kolumne „Kaffeehaus“

Große Geister schaffen große Kunst

Kunst ist der Spiegel einer Gesellschaft und veranschaulicht, was im Rahmen des Zeitgeistes möglich ist. Oft sind es historisch komplizierte Umstände, die zu wahren Meisterwerken führen. Und dann gibt es die gesättigte und freie Gesellschaft, in der der Himmel der Exzellenz schwer zu erreichen scheint – oder eben eine Gesellschaft, die alles Harmonische, Schöne und Gehobene ablehnt. 

Große Geister schaffen große Kunst, mittelmäßige Geister schaffen Mittelmäßigkeit. Ist mein Urteil zu hart? Ein kürzlicher Besuch in der Brüsseler Philharmonie bestätigte diese Ansicht.

Von Instagram zum klassischen Konzert

Die Algorithmen auf Instagram zeigten mir vor einigen Tagen eine Werbung für ein Schostakowitsch-Konzert, und wir konnten uns die letzten Plätze sichern. Den Kindern wurde ein Workshop in der Philharmonie angeboten, bei dem sie etwas über Schostakowitsch lernten und Instrumente ausprobieren konnten. 

Bevor der Höhepunkt des Abends – Schostakowitschs 5. Sinfonie – beginnen konnte, wurde die Premiere eines Hornkonzerts des deutschen Komponisten Jörg Widmann aus dem Jahr 2024 präsentiert. Widmann, 1973 in München geboren, gehört ohne Zweifel zu den Superstars der klassischen Musikszene in Deutschland, also war ich auf dieses Konzert gespannt.

Das Stück beeindruckte durch seine technische Exzellenz und inhaltliche Sinnlosigkeit. Dekonstruktion wurde in diesem Stück großgeschrieben: Einzelne Passagen aus anderen bekannten Melodien wie dem „Cancan“ wurden kurz angedeutet und dann in einer gefühlten Kakophonie durcheinandergeworfen. Mein Kopf begann zu schmerzen, und ich schaute auf meine Uhr.

„Was will der Autor hiermit andeuten?“, fragte ich meinen Begleiter.

„Der Komponist hat wohl einen an der Waffel“, flüsterte er mir ins Ohr.

Gute Musik versetzt die Seele an einen anderen Ort

Doch als das Horn plötzlich Geräusche von sich gab, die an Darmgeräusche erinnerten, mussten wir aufpassen, nicht in Gelächter auszubrechen. Auch wenn man den einzelnen Passagen dieses Stücks etwas abgewinnen konnte, war kein roter Faden und keine Richtung zu erkennen. Es erweckte den Eindruck, dass der Komponist einfach nur cool und modern sein wollte.

Kurzum: Ich war froh, als es vorbei war.

Nach der Pause versammelten sich alle, um der 5. Sinfonie von Schostakowitsch zu lauschen, und die Kinder wurden in den Konzertsaal gebracht. Schon nach den ersten Takten hatte ich das Gefühl, endlich „richtige“ Musik zu hören. Der Saal wurde vom ersten Moment an von der Harmonie, Nostalgie und Tiefe des Werkes berührt.

 

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Vor meinem geistigen Auge sah ich verschneite russische Landschaften, ein leidendes Volk und dunkle Wolken, die von schmalen Sonnenstrahlen abgelöst wurden. Eine Inspiration durch Beethoven, Mahler oder Tschaikowski war sofort bemerkbar. Schostakowitschs 5. Sinfonie entstand im Jahr 1937 zur Zeit des Großen Stalinistischen Terrors als Reaktion auf massive Kritik seitens der Staatsmedien.

Viele Freunde und Familienangehörige von Schostakowitsch wurden nach Sibirien deportiert oder ermordet. Die Gewerkschaft der Leningrader Komponisten hatte zu diesem Zeitpunkt beschlossen, Schostakowitsch solle ihnen sein Werk präsentieren, damit sich feststellen ließ, ob es „der Öffentlichkeit zugemutet werden könne“.

 

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Der Weg Schostakowitschs

Unter diesen Umständen musste Schostakowitsch seine künstlerische Brillanz sowie seine Kompatibilität mit dem Regime beweisen. Er wählte den Weg einer versteckten, subtilen Kritik am Regime, die wie eine Bestätigung wirken sollte. Ein riesiger Publikumserfolg der Sinfonie ließ nicht lange auf sich warten.

Das Marschfinale wurde als Verherrlichung des Regimes angesehen. Doch in Schostakowitschs Memoiren wird behauptet, dass der Triumphmarsch in Wirklichkeit ein Todesmarsch sei. Das ganze Werk Schostakowitschs war ein einziger Ritt auf einer Rasierklinge, was ihm Tiefe und Brillanz verleiht. Selbst die Kinder lauschten diesem Konzert gespannt und ohne jede Spur von Langeweile.

Und so kann man sich die Frage stellen: Was macht den so großen Unterschied zwischen diesen beiden zeitgenössischen Komponisten aus? Schostakowitsch selbst hat gerungen – mit dem Regime, mit der Kritik, mit der Konkurrenz. 

Dabei war er bereit, seine modernen Experimente aufzugeben und dem Publikum wieder das Erlebnis eines musikalisch runden und konservativen Konzerts in der Form der 5. Sinfonie zu bieten. 

Er lebte und komponierte unter den schwierigsten Umständen, die man sich überhaupt für einen Künstler vorstellen kann. All das fehlt bei einem Autor und Musiker wie Herrn Widmann. Und leider war es auch zu spüren.

Große Geister schaffen große Kunst, mittelmäßige Geister schaffen Mittelmäßigkeit.
 

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