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Kolumne „Mild bis rauchig“

Abgeschirmt

Unter den auch heute immer noch allgemein bekannten Genrebildern zählt Carl Spitzwegs „Der arme Poet“ zu den beliebtesten. Wer kennt nicht die ärmliche Dachkammer des einsamen Schriftstellers, in der sich auf einem notdürftigen Bett, das nur aus einer Matratze besteht, ein in einen warmen Nachtanzug und in eine Zipfelmütze gehüllter Poet seiner Lektüre widmet.

Neben ihm Stapel von Büchern, gegenüber ein erkennbar erloschener Ofen. Zu seinen Füßen ein Dachfenster, das Licht spendet und ihn beleuchtet, wie er mit zusammengekniffenem Daumen und Zeigefinger der Rechten und einem Manuskript in der Linken offenbar dabei ist, etwas zu deklamieren. Die Szenerie zeigt den im Titel des Bildes als „armen Poeten“ ausgewiesenen Dichter in einer gewissen Schrulligkeit. Warum er arm ist, wissen wir nicht. Wir können es nur vermuten.

Vielleicht sind seine Verse zu schlecht und zu unverkäuflich? Oder eine Pechsträhne durchzieht sein Literatenleben und nimmt ihm Entdecker und Mäzene? In jedem Fall lebt er intensiv lesend und damit geistig engagiert in seiner Dachkammer, die auf engstem Raum seine Schätze beisammenhält: Bücher und selbstverfasste Schriften, also das, was er selbst produziert und das – wenn es ihm auch scheinbar keinen wirtschaftlichen Gewinn bringt – sein Eigentum genannt werden kann. Vielleicht ist es diesbezüglich eine Form von Selbstvergewisserung, wenn er sich in seinem Dichterbett die eigenen Werke selbst vorliest.

Reine Kopfgeburten und an den Lesern vorbei

Unübersehbar ist ein Regenschirm, der über ihm an der Dachschräge befestigt ist. Er dient offensichtlich dazu, den hereintropfenden Regen von ihm abzuhalten. Spätestens dieser Schirm versinnbildlicht die Misere, in der sich der Poet befindet. Denn das Leben in der Dachkammer, aus der, wie man vermuten darf, der Schriftsteller nur selten an das Licht des Tages tritt, verschließt ihn in der Eigenwelt seiner Gedanken. Der Blick aus dem Dachfenster – wenn er ihn überhaupt ab und an schweifen lässt – zeigt allenfalls andere Dächer oder die Wolken, aber nicht die Wirklichkeit des Lebens, so wie sie ist.

Man kann weiter annehmen, dass deswegen auch seine Schriften an den Lesern vorbeigeschrieben wirken, weil sie reine Kopfgeburten sind, in denen der Dichter sich selbst zur Welt bringt und nicht die Welt zum Leser. Natürlich sind dies alles nur Vermutungen, aber sie sind naheliegend, was nicht zuletzt auch die Wirkungsgeschichte des Bildes zeigt.

Das 1839 entstandene Gemälde hat man in seiner Zeit als eine Verhöhnung der Dichtkunst empfunden, weswegen es lange keine sonderliche Geltung in der Kunstwelt besaß. Im Laufe der Zeit hat sich das geändert, und heute gehört es nach einer Anfang des 21. Jahrhunderts gemachten Umfrage zu einem der beliebtesten Bildern der Deutschen und ziert Tassen, Briefmarken und Kühlschrankmagnete.

Der intellektuelle Kampf, dem der Poet ganz offensichtlich erlegen ist und der ihn auf sein einsames Dachkammerlager niedergestreckt hat, ist dafür wohl weniger ausschlaggebend als die romantische Szene, die den Betrachter aus der heutigen Digitalwelt mit einer Sehnsucht nach Analogie und Muße erfüllt.

Von der Objektivität der Außenwelt abgeschirmt

Mir ist das Bild immer schon sympathisch gewesen, allein wegen der unübersehbaren Unordnung in des Poeten beengter Dachstube, die mir eine gewisse Absolution meiner eigenen Stapelei von Büchern und Heften erteilt. In jüngster Zeit bleibt mein Blick beim Betrachten der Schrulligkeitsikone jedoch verstärkt bei dem an der Decke hängenden Regenschirm hängen.

Denn je mehr ich über ihn nachdenke, desto mehr entdecke ich in ihm keineswegs nur den Schutz des in seinem Notbett liegenden Schriftstellers vor nassen Ergüssen aus dem maroden Dach, sondern auch die in ihm auf symbolische Weise zum Ausdruck gebrachte Abschirmung des Intellektuellen von der Objektivität der Außenwelt.

Die in der Entstehungszeit des Bildes in Blüte stehenden Früchte der Aufklärung lassen nämlich den Schluss zu, dass der arme Poet nicht nur ein schlechter Schriftsteller ist, sondern auch ein Opfer des gewendeten Denkens, das den Blick der Neuzeit statt auf die Wahrheit der Dinge auf sich selbst schauen lässt. Immanuel Kant, der als einer der Hauptprotagonisten der neuzeitlichen Perspektivänderung die „Kopernikanische Wende“ des Denkens ausgerufen hatte, verortete die Wahrheit – soweit man überhaupt noch von ihr sprechen darf – nicht mehr in den Dingen, die der Mensch durch einen realen Kontakt mit ihnen erkennen kann, sondern in der menschlichen Vernunft, aus der die Begriffe und damit auch die Wirklichkeit der Dinge fließen.

Die aufklärerische Vernunft frisst ihre Kinder

Die alte Vorstellung, dass es eine Welt gibt, die objektiv und real ist und die existiert, um erkannt zu werden und die aber auch dann existiert, wenn der Mensch sie nicht erkennt, hatte ausgedient. Mit der Aufklärung etablierte sich die Vorstellung, dass – wie Kant es ausgedrückt hatte – die Wirklichkeit vor dem Gerichtshof der Vernunft aufzuparadieren hat und sie, die Vernunft, dabei ihre Wahrheit zur Welt bringen würde.

Nicht die Welt sagt also dem Menschen, wer sie ist, sondern der Mensch bestimmt, was die Welt ist. Man mag dies aus klassisch-antiker Erkenntnisvorstellung heraus wie eine Membran empfinden, die sich – gleich dem Regenschirm des glücklosen Schriftstellers – zwischen die Wirklichkeit und ihre Wahrheit schiebt. Die menschliche Vernunft wird vom Erkenntnisort zum Produktionsort der Wirklichkeit und schirmt den Menschen von der Realität ab, die es auch ohne ihn gibt.

Hier gewinnt die symbolistische Deutung des Regenschirms eine durchaus brisante Dimension. Denn die gepriesene Befreiung der Vernunft zu sich selbst, das, was sich als Schulwissen von der Aufklärung erhalten hat, dass sie nämlich das Abstreifen der Fesseln selbstverschuldeter Unmündigkeit der Vernunft sei, offenbart in der Dachkammer des Poeten eine durchaus tragische Folge.

Denn der dort bar jeder Anschauung realen Lebens liegende Poet vermag in seiner Schreibkunst womöglich nichts mehr zu leisten als allein das zu Papier zu bringen, was er selbst ist und denkt. Er vermag kein Fenster mehr zu öffnen, um seine Leser in die Welt und ihre Schönheiten und Tragödien schauen zu lassen, sondern – gleich dem verstellten Blick aus seinem Dachfenster – aus den Wolken eine Wirklichkeit herunterzuladen, die keine Wirklichkeit ist, sondern der Spiegel seiner eigenen Subjektivität.

Die Vernunft, so mag man die nachaufklärerische Geschichte des Denkens empfinden, frisst am Ende ihre Kinder. Schon am Anfang dieser Entwicklung lässt der bekannte irische Geistliche der anglikanisch-irischen Kirche mit einem Hang zur Satire, Jonathan Swift, seinen Protagonisten Lemuel Gulliver auf das Phänomen intellektuellen Weltverlustes durch introvertierten Vernunftgebrauch stoßen.

Von seiner fiktiven Reise in das Land Laputa berichtet er:

„Hier und da standen Leute (es waren offenbar Diener) mit einer Art Dreschflegel in der Hand. An diesen Dreschflegeln waren aufgepumpte Blasen befestigt, in denen sich, wie man mir später erzählte, getrocknete Erbsen oder Kiesel befanden. Diese Blasen schlugen sie dann und wann den Nächststehenden auf den Mund oder um die Ohren; eine Sitte, deren Sinn mir im Anfang nicht einleuchten wollte. Später ging mir auf: diese Leute sind dermaßen in philosophische Spekulationen versunken, dass sie weder reden noch zuhören können, ohne dass sie ständig durch solche Schläge an die äußere Welt erinnert werden.“

Die strukturelle Krise des Denkens der Neuzeit

In seiner literarischen Karikatur schildert Swift hier zutreffend die Verstrickungen der Wissenschaften seiner Zeit und – darüber hinaus – die strukturelle Krise, in die das Denken der Neuzeit geraten ist. Was dort fehlt, ist der einst für die Philosophie kennzeichnende Blick für das Ganze. Die Philosophie begibt sich zunehmend durch die Orientierung an der den Einzelwissenschaften eigenen Spezialisierung entweder in die Abhängigkeit von ihnen oder zieht sich, aus Furcht vor der Vereinnahmung, aus der Konfrontation mit den Einzelwissenschaften vollkommen zurück.

Ergebnis ist der von Swift beschriebene Wirklichkeitsverlust, ähnlich dem wahrhaft stubengelehrten Schriftsteller in der Abgeschiedenheit seiner Dachkammer. Letztlich leidet dieser unter einer Form der Selbstlähmung, die das Denken untauglich macht, das Ganze in den Blick zu nehmen und das Denken vor der Blindheit der Systeme zu bewahren.

Wer einen Beleg für diese Form der Selbstverstümmelung des Denkens haben möchte und darüber hinaus dessen tragische Folgen abschätzen will, mag dies in der derzeit hoffähigen Diskursform der deutschen katholischen Kirche finden, wo Bischöfe und Laienfunktionäre die Weite katholischer Weltsicht auf der Grundlage einer objektiven Offenbarung verlassen haben und sich in der pseudointellektuellen Blase aufgeklärter Wissenschaftlichkeit daranmachen, die alte Welt aufzulösen und sie gegen die Kopfgeburten einer gefährlichen Dachkammertheologie einzutauschen.

Das Schlechte wird zur neuen Offenbarung

So werden einst als Abseitigkeiten empfundene Lebensweisen, die im Zusammenspiel von menschlicher Wirklichkeitserfassung und transzendenter Offenbarung moralisch als schlecht erkannt wurden, heute als neue Offenbarung eines aufgeklärten Relativismus verstanden. Thorsten Paprotny hat dies hier auf Corrigenda jüngst anhand des Dekonstruktivisten Michel Foucault sehr treffend auf das Entstehen der sogenannten Humanwissenschaften bezogen, die augenblicklich den kirchlichen Amtsträgern ein neues Evangelium zu sein scheinen.

Beispielhaft zu sehen daran, wenn im Rahmen der Diskussion über die moralische Qualifikation praktizierter Homosexualität ein deutscher Bischof gar vor laufender Kamera zum Besten gab, dass man die negative Bewertung des Alten Testamentes diesbezüglich nicht mehr aufrechterhalten könne, habe man doch bei dessen Abfassung noch nicht die modernen humanwissenschaftlichen Erkenntnisse gehabt.

Aha – der liebe Gott hat das damals alles noch nicht gewusst! Oder die Bibel ist tatsächlich das Fake-Produkt, das der Atheismus in ihr immer schon gesehen hat und das sich anmaßt, eine göttliche Offenbarung zu transportierten.

Was sich also in der Spitzweg’schen Dachkammer unter dem Schirm des Dichters zuträgt, ist ein beredtes Beispiel für die Crux, in die das Denken derer geraten ist, die als Verwalter und Verkünder geoffenbarter Wahrheiten eigentlich die reale Welt mitsamt der sie umfangenden übernatürlichen Wirklichkeit als eine unwandelbare Realität verstehen müssten.

Die synodale Kirche ist auch nur ein armer Gesell

Denn sie sind abgeschirmt gegen beide Arten des Wirklichkeitsbezugs: gegen die objektive Realitätserkenntnis durch die Verstrickung in einen subjektivistischen Relativismus und auch gegen den Glauben an eine Offenbarung, die den Menschen eine unwandelbare Wahrheit zu Gesicht bringt.

Stattdessen liegt die deutsche Kirche selbstreferenziell auf dem papierenen Lager ihrer Kopfgeburten. Dank der Kirchensteuer kann sie die Machwerke wahrheitsfreier Konstruktionen jedoch in ein besseres Licht stellen und von der Schäbigkeit der abgehobenen Abgeschirmtheit ablenken, die bei Spitzweg noch augenfällig ist.

Wäre sie vom Absatz ihrer neuen Doktrinen abhängig, wie der in jeder Hinsicht darbende Schriftsteller, würde ihr bemitleidenswerter Zustand jedem ins Auge springen. Denn am Ende ist die deutsche synodale Kirche auch nur ein armer Gesell, dessen Produkte die Herzen der Menschen – und vor allem ihre unsterbliche Seele – nicht erreichen und deswegen auch nicht verwandeln.

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