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Ein starkes Fest

Warum ich Weihnachten liebe

Ziemlich viele Menschen freuen sich weltweit auf Weihnachten; ich gehöre zu ihnen. Selbstverständlich ist auch Weihnachten, wie manch anderes, nur eine soziale Konstruktion. Der Geburtstag des Jesuskindes von Nazareth ist unbekannt, die Evangelisten schwiegen sich dazu aus. Einige frühe Christen versuchten sich trotzdem an einer Berechnung dieses Datums, sie landeten beim 25. März.

Dieser Weihnachtstag wäre wegen der Nähe zum Osterfest aber unpraktisch gewesen. Die erste Erwähnung des Weihnachtsfestes stammt überhaupt erst aus dem Jahr 336. Möglicherweise übernahmen die Christen einfach das Fest des römischen Sonnengottes Sol Invictus, das damals am 25. Dezember gefeiert wurde.

Es ist ja auch egal. Heute, nach so vielen Jahrhunderten, kommt uns der Tag richtig vor. Weihnachten steht nicht zur Debatte, man fasst es kaum. Die Abschaffung von Weihnachten ist noch viel unwahrscheinlicher, als es die Absetzung der britischen Queen an ihrem 95. Geburtstag gewesen wäre.

Nie spüren die Einsamen so sehr ihre Einsamkeit wie an diesem Abend

Das Weihnachtsfest hat also sowohl seine totale Kommerzialisierung als auch die in Europa weit vorangeschrittene Entchristianisierung erstaunlich gut überstanden. Es wird auch von Menschen gefeiert, die zu Jesus keinen Bezug haben, sogar von Menschen anderer Religionen.

Es kann als alles Mögliche verstanden werden, als Fest der Liebe, der Familie, des Schenkens, als Hochwinterbeginn und besinnliches Ende des Arbeitsjahres, als große Party wie in den USA. Sogar für die Weihnachtshasser ist der Heilige Abend etwas Besonderes, wenn sie sich nach der Bescherung und dem Pflichtprogramm verlegen von der Familie verabschieden und ihresgleichen treffen, am Tresen einer der wenigen geöffneten Kneipen, irgendeine gibt es fast überall.

Nie spüren die Einsamen so sehr ihre Einsamkeit wie an diesem Abend. Nie spüren die, die anderen Menschen nahestehen, deren Nähe so sehr. Nie spürt man in den Familien so deutlich die unausgesprochenen Konflikte, das, was unterm Teppich liegt. Weihnachten kann in Liebe oder auch im Streit enden, in bitteren Aussprachen, einer längst fälligen Stunde der Wahrheit, sogar das hat oft seinen Sinn.

Das Letzte, was vom Christentum einst übrig sein wird?

Weihnachten ist so anpassungsfähig und vielseitig verwendbar, dass es vielleicht eines Tages das Letzte sein wird, was vom Christentum übrig ist. Das wäre schade, aber es könnte passieren.

Warum liebe ich dieses Fest? Es ist eines der letzten Ereignisse, die immer noch so ablaufen wie in meiner Kindheit, ein Ritual, das mich mit all dem verbindet, was vor mir war und nach mir kommen wird. Der Advent, die Kerzen am Kranz. Die stets gleichen Lieder. Der Baum. Das Glöckchen, das zur Bescherung ruft. So, wie ich mich sofort wieder an die Heiligen Abende mit meinen Eltern und Großeltern erinnere, werde ich eines Tages meinen Kindern in jener Nacht als Geist erscheinen, zu den gleichen Liedern, auf dem Sofa sitzend; wahrscheinlich gibt es Raclette.

Irgendetwas muss die Welt und die Menschen ja zusammenhalten. Dazu sind Rituale da. Einige sind verschwunden: Wer feiert schon noch den Namenstag? Die Taufen und auch die Maibäume sind in vielen Gegenden seltener geworden. Die Rituale, die es noch gibt, haben oft keine verbindliche Form mehr, das empfinden viele als Befreiung. Beerdigungen und Hochzeiten sehen sehr unterschiedlich aus, das ist eine Geschmacksfrage und Ausdruck der jeweiligen Persönlichkeit.

An Weihnachten werden sie sich die Zähne ausbeißen

Weihnachten befreit mich von der Last, ein unverwechselbares Individuum darzustellen. Setting, Requisiten und Ablauf stehen fest. Aber sie gestatten doch winzige, individuelle Anpassungen. Am Baum hängt bei uns zum Beispiel immer skurriler Weihnachtsschmuck, ein surfender Weihnachtsmann, eine gebratene Gans, eine Gurke.

Das Kind, achtjährig, wird zwei Lieder auf dem Klavier vorspielen, eine Premiere; es ist jetzt auch alt genug für das Brettspiel „Siedler von Catan“. In Wahrheit glaubt das Kind nicht mehr daran, dass die Geschenke vom Christkind kommen, das wissen wir, aber es tut uns und seinen großen Brüdern zuliebe so. Dieser Junge hat kapiert, wie Weihnachten funktioniert.

Sicher, irgendwann wird jemand auch Weihnachten im Fernsehen oder auf der Titelseite an den Pranger stellen, es wird schon etwas Kolonialistisches, Sexistisches, Rassistisches und vor allem Klimaschädliches daran zu finden sein. Aber Weihnachten wird stärker sein, an Weihnachten werden sie sich die Zähne ausbeißen. Wenn der Mars eines Tages besiedelt ist, das kann schon in hundert Jahren sein, dann steht auch auf dem Mars ein geschmücktes Bäumchen und sie singen „Stille Nacht“. Daran glaube ich ganz fest.

 

Dieser Beitrag ist zuerst in der Weltwoche erschienen.

Autorenfoto: © C.Bertelsmann

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