Ein Kampf, den wir nicht führ(t)en
Einige deutsche Konservative neigen dazu, inmitten all des kulturellen Wirrwarrs mit dem Finger auf die Vereinigten Staaten zu zeigen. „Schau her, all der Unsinn, der kommt von den amerikanischen Universitäten zu uns: Von Gender Studies, ‘Intersektionalität’ über ‘weiße Fragilität’ oder sogenannte ‘Trigger Warnings’.“ Doch Demut täte uns aus zwei Gründen gut.
Im Vergleich zur deutschen Gesellschaft ist die amerikanische weitaus permeabler, durchlässiger, offener gegenüber Ideen und intellektueller Debatte. Diese Gesellschaftsdynamik lässt schlechte Ideen – wie auch die guten – weitaus schneller und weitreichender gedeihen als die hiesige. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass sich gerade an den amerikanischen Universitäten Debatten abspielen, die man hier (noch) kaum für möglich hält. Ist der Vorwurf, all das Übel komme aus den Staaten, dann nicht gerechtfertigt? Jein, denn Ideen haben ihren Ursprung.
Schenkt man den kritischen Stimmen aus Amerika Gehör, so gewinnt man ein ganz anderes Bild. Seien es doch vor allem die Europäer, deren Ideen nach Amerika importiert wurden und an den sozialen Unruhen Schuld tragen: Von französischen Relativisten wie Derrida und Foucault oder deutschen Utopisten wie Hegel, Marx und Marcuse. Letzterer importierte seine kruden Ideen sogar eigenhändig nach Amerika und wurde intellektueller Ziehvater (und Doktorvater) von Angela Davis, dem ehemaligen Mitglied der marxistisch-leninistischen Black Panther Party.
Stammt die Theorie der Intersektionalität wirklich aus den USA …
Die Kritik der Amerikaner lässt sich unter anderem am Beispiel der Intersektionalität erläutern. Diese Theorie vertritt die Ansicht, dass verschiedene Diskriminierungsformen (zum Beispiel „schwarz“, „Frau“, „homosexuell“) gleichzeitig auftreten können und je nach Kombination das Ausmaß der Diskriminierung bestimmen. Eine schwarze, homosexuelle Frau habe es demnach schwerer als eine Frau, die „lediglich“ schwarz ist; letztere habe es aber immer noch schwerer als ein schwarzer Mann.
Aus den schwarz-marxistischen („Black Marxist“) und schwarz-nationalistischen („Black Nationalist“) Bewegungen, zu denen auch die Black Panther Party zählt, ging auch das Combahee River Collective (CRC) hervor, eine schwarz-feministisch, lesbische, sozialistische Organisation, die von 1974 bis 1980 in Boston aktiv war. Im offiziellen Statement des CRC zitieren die Autorinnen Angela Davis’ Werk „Reflections on the Black Woman’s Role in the Community of Slaves“:
„Es gab schon immer schwarze Aktivistinnen (…) [die] ein gemeinsames Bewusstsein dafür hatten, wie ihre sexuelle Identität in Verbindung mit ihrer Rassenidentität ihre gesamte Lebenssituation und den Fokus ihrer politischen Kämpfe einzigartig machten.“
Angela Davis schrieb später über das CRC, dass deren Akteure den Begriff der Intersektionalität zwar nicht prägten (das tat Kimberlé Crenshaw), jedoch als erste Bewegung die ineinandergreifenden, sich gegenseitig verstärkenden Systeme der Unterdrückung anerkannte. Dass das CRC in der theoretischen Entwicklung der Intersektionalität maßgeblich beteiligt gewesen sei, schreibt auch das US-amerikanische, sozialistische Magazin Jacobin.
… oder vielleicht doch von einem Deutschen?
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass die zitierte Davis ihr Lob gewissermaßen auf sich selbst bezog beziehungsweise auf eines ihrer früheren Werke. Hat die Idee der Intersektionalität ihren Ursprung tatsächlich im Statement des CRC? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir zurück zum Anfang: zu Herbert Marcuse.
Marcuse, geboren 1898 in Berlin, wurde später zu einem der politisch aktivsten Mitglieder der Frankfurter Schule und Weiterentwickler ihrer „Kritischen Theorie“. Die Kritische Theorie postuliert, das kapitalistische Wirtschaftssystem schaffe im Menschen ein „falsches Bewusstsein“, was ihn daran hindere, sich gegen seine Unterdrücker aufzulehnen. Man müsse demnach – insbesondere durch Bildung – daran arbeiten, ein kritisches Bewusstsein zu schaffen, welches all das durchschaue.
In seinem Werk „Der eindimensionale Mensch“ (1964) griff Marcuse dieses „falsche Bewusstsein“ auf. Unsere fortgeschrittene Industriegesellschaft habe bei den Menschen „falsche Bedürfnisse“ geschaffen, die den Einzelnen in das bestehende Produktionssystem integriere. Diese „kapitalistische Stabilisierung“ der Arbeiterklasse erschöpfe das revolutionäre Potential einer Gesellschaft.
Minderheiten sollen angestachelt werden
Seine Lösung: Destabilisierung durch gesellschaftlich nicht-integrierte Kräfte wie Minderheiten, andere Außenseiter und einer radikalen Intelligenzija, die diesen Widerstand nährt. Wie beispielsweise durch die Theorie der Intersektionalität, gesponnen von einer solchen radikalen Intelligenzija, die immer kleinere (Identitäts-) Minderheiten schafft, um sowohl die Gesellschaft als Ganzes wie auch den Einzelnen zu destabilisieren.
In seinem Podcast „New Discourses“ kommt der amerikanische Autor und Mathematiker James Lindsay, der vor einigen Jahren durch die Co-Veröffentlichung von „Zynische Theorien“ bekannt wurde, zu folgendem Schluss: Intersektionalität sei im Grunde nichts weiter als Identitätsmarxismus, und sein Urheber weder das CRC, Davis noch Crenshaw, sondern Herbert Marcuse.
Ich erinnere mich noch gut an ein Juraseminar an der Freiburger Universität, als Professor Martin Hochhuth, Sohn des Schriftstellers Rolf Hochhuth und Enkel der linken Widerstandskämpferin Rose Schlösinger, noch das Fach Staatslehre unterrichtete. Er sprach vom deutschen Bürger und seinem Desinteresse an gesellschaftspolitischen Fragestellungen. Dies sei, so Hochhuth, einer der Gründe, weshalb sich Politiker zunehmend von ihrem Souverän entfremdeten. Der Deutsche müsse eben einmal „auf die Käseglocke hauen“.
Als Beispiel für dieses Desinteresse nannte er ausgerechnet Marcuse: „Gehen Sie nach Hause und fragen Ihre Großeltern nach dem ‘Eindimensionalen Menschen’ von Herbert Marcuse. Ich sage es Ihnen schon jetzt: Sie werden pikiert die Nase rümpfen und kein weiteres Wort, oder nur wenige, darüber verlieren.“
Marcuse? Kennen Konservative nicht!
Nun ist es aber keineswegs so, als hätte niemand in Deutschland Kenntnis von Marcuses Werk. Hält man sich etwas länger in sozialwissenschaftlichen oder anderen linkspolitisch geprägten Universitätskreisen auf, stellt man fest, dass der Name Marcuse dort sehr wohl ein Begriff ist – ein höchst geschätzter noch dazu. Ein Student meinte gar zu mir, man könne sein Werk und dessen gesellschaftliche Bedeutung nicht hoch genug loben.
Was offenbart uns das? Erst einmal scheint es, dass nur diejenigen Marcuse kennen, die ihm grundsätzlich auch nicht abgeneigt sind. Entweder ist Marcuse also ein Prophet, der jeden Leser zur Sympathie bekehrt, oder er wird ausschließlich von denjenigen gelesen, die marxistischen Ansichten ohnehin nicht abgeneigt sind.
Vice versa bedeutet es, dass diejenigen, die marxistischen Ansichten grundsätzlich kritisch begegnen, von Marcuses Werk keine Kenntnis und gegen dessen Inhalt keine Argumente haben. Was sich daraus ergibt, ist ein positiver Feedback-Loop, initiiert durch geistiges Spießbürgertum. Eine Echokammer, die in sich selbst immer extremer wird, weil niemand Nein sagt.
Deutsche: „Philister ohne geistige Bedürfnisse“
Heinrich Heine war wohl der Erste, der das Kind beim Namen nannte. Das „offizielle Deutschland“, so Heine, bestehe aus Philistern, über die Arthur Schopenhauer schrieb, es handle sich um Menschen „ohne geistige Bedürfnisse“. Um Spießbürger also, die vorgefertigte Annahmen übernehmen, ohne sie zu hinterfragen. Dieser Unmut, sich tiefergehend mit ideengeschichtlichen Theorien zu befassen, ist wohl bis heute nicht verlorengegangen. Gemäß der menschlichen Natur wird dieser Unmut nur größer, wenn wir bereits vor der Lektüre erahnen, dass uns ihr Inhalt nicht gefallen wird.
So wurde auch Marcuse in der öffentlichen Debatte weitgehend unbeachtet gelassen, „naserümpfend“ unter den Teppich gekehrt, als Gegenargumente am dringendsten waren. Paradoxerweise von denjenigen, die das größte Interesse an ebendiesen Gegenargumenten haben sollten. In linken Kreisen hingegen entwickelten sich seine Ideen international weiter. Heute kehren sie aufbereitet und mit neuem Schliff zu uns zurück.
Unter dem Teppich des Desinteresses scheint auch Wertvolles zu landen. Welchem dezidiert Konservativen ist der Name Eric Voegelin heute noch ein Begriff? Mir selbst war er’s nicht, bis James Lindsay ihn mehrmals in seinem Podcast zitierte. Der Philosoph und Politikwissenschaftler Voegelin erkannte im Marxismus (und all seinen späteren Formen) die christliche Häresie der Gnosis, die Herrschaft der göttlich auserwählten Wissenden. Man muss kein Christ sein, um in der Philosophie dieser neuzeitlichen Gnostiker eine Religion von „crackpots“ (Spinnern) zu erkennen.
Amerikaner haben weniger Berührungsängste
Die Amerikaner haben weitaus weniger ideelle Berührungsängste als die Deutschen. Und ja, deshalb können auch Menschen wie die Soziologin Robin DiAngelo, die für ihre These der „Weißen Zerbrechlichkeit“ bekannt wurde oder der Professor und Antirassismus-Aktivist Ibrahim X. Kendi berühmt oder ein Donald J. Trump Präsident werden. Dasselbe gilt allerdings auch für einen Ben Shapiro, und ein Jordan Peterson kann dort eine Karriere von solchem Ausmaß machen, die in Kanada nicht möglich wäre. Oder es gilt eben für einen James Lindsay, der seine berufliche Karriere an den Nagel gehängt hat, um sich der Aufklärung zu widmen.
Um den gnostisch-esoterischen Bann zu brechen, der sich über den Gesellschaften der Welt zu verbreiten droht, muss das geistige Spießbürgertum weichen. Die Amerikaner machen es vor.