Das Anti-OMR-Festival
Das OMR-Festival hat seine Antipode gefunden: das Eden-Fest. Allein die Standorte der beiden Konferenzen sagen genug aus, um über den Charakter der beiden Events Bescheid zu wissen. Über 70.000 Teilnehmer pilgerten im Mai zu Europas größtem Online-Marketing- und Technologie-Mekka in die norddeutsche Hansestadt Hamburg – die vor allem früher ein strahlendes Symbol für protestantische Arbeitsethik, Max Weber, Leistung und Selbstdisziplin war. Das Eden-Fest mit seinen fast tausend Besuchern findet im bayerischen Augsburg statt – ein Sinnbild für Katholizität, Barock, Lebenslust und Freude.
Anstatt Frauen in knalligen Hosenanzügen – welche „sie wohl für einen sogenannten Business-Look halten“ (Frederic Schwilden in der Welt) – und Männern in weißen Sneakern trug frau auf dem Eden-Fest extravagante Kleider. Ein Teilnehmer aus Stuttgart um die siebzig könnte seinem Outfit nach der Vater von Johannes Hartl sein, dem Gründer der Eden-Veranstaltung. Der Mann trägt Brille, ein Hemd mit Blumenmuster, dazu marineblaue Anzughose, Sakko und braune Lederschuhe.
Anstatt Influencern, Marketing-Menschen und LinkedIn-Karrieristen, die sich vom OMR „Networking“ und „Insights“ erhoffen, kommt zum Eden-Fest der bürgerlich-akademische deutsche Durchschnittsbürger. Das Treffen in Augsburg ist auch keineswegs eine Veranstaltung der Generation Z oder der Millennials, was vielleicht an dem Preis der Konferenz liegt, 300 Euro für drei Tage. Wobei das nichts ist im Vergleich zu den OMR-Kosten. Dort startete ein Zwei-Tages-Ticket bei 399 Euro und ging rauf bis 1.399 Euro. Nicht Gen Z, sondern Gen X und Boomer, also 40- bis 60-Jährige, machen den größten Anteil der Teilnehmer bei Eden aus.
„Fortschritt ist trügerisch“
Das Eden-Fest ist das Anti-OMR. Dem Hamburger Motto „Festival für das digitale Universum“ stehen zwei zentrale Leitlinien der „Eden Culture“-Bewegung entgegen: „Nähe und Berührbarkeit“ sowie „Lust auf Wahrheit“. Den unhinterfragten Glauben an gewisse Trends wie endlose Digitalisierung, KI oder auch Misanthropie wie im Lager der Klimaschützer sieht die Bewegung kritisch. Nachlesen kann man das im gleichnamigen Buch, welches den theoretischen Unterbau des Eden-Festes bildet.
„Wir reden heute so viel über Fortschritt. Wer will schon rückschrittlich sein?“, fragt Johannes Hartl vergangenen Donnerstagabend in seinem Einstimmungstalk. „Fortschritt ist trügerisch, denn du kannst in eine völlig falsche Richtung fortschreiten. Von innen sieht sogar ein Hamsterrad aus wie eine Karriereleiter“, erläutert der Gründer des Augsburger Gebetshauses. Die große Frage für ihn und die Teilnehmer des Eden-Festes lautete: „In welcher Zukunft wollen wir eigentlich leben?“ Es sind Fragen, die es wert wären, auch von OMR-Jüngern beachtet zu werden.
Hartl geht es um etwas, das er „Cultural Care“ nennt. Er möchte sensibilisieren für die „Kultur, die unserer Gesellschaft zugrunde liegt“. Hartl ist Philanthrop. In unserer Zeit, die so sehr mit Klima- und Umweltfragen beschäftigt ist, werde die „Ökologie des Herzens“ links liegen gelassen. Der Begriff kommt nicht aus dem luftleeren Raum, sondern geht auf die Rede von Papst Benedikt XVI. vor dem Deutschen Bundestag 2011 zurück, wo er von der „Ökologie des Menschen“ sprach.
Auch der Mensch habe eine Natur, die er achten müsse, erläuterte der mittlerweile verstorbene Papst damals. Man müsse, so Hartl in seinem Eingangsstatement, „sich liebevoll der Menschheit zuwenden und fragen: ‘Wo bist du verletzt, Menschheit?’“. Es bedürfe eines Stehenbleibens und Innehaltens mit Blick auf die menschliche Kultur.
Kunstvoll arrangierte Blumen, Zigarren und „Digitale Ethik“
Das Eden-Fest bietet von früh bis spät ein dichtes Programm. Dreimal täglich trifft man sich zu „Main Sessions“, die einen bunten Strauß an kurzen Talks, Musik, Improvisationstheater, Interviews und Kleinkunst ergeben. Dazu gibt es bis zu zwei Workshops pro Tag. Dort können zum Beispiel der Schönheit und dem Genuss gefrönt werden bei einer Champagner-, Wein- oder Zigarren- und Whiskeyverkostung. Der Münchner Konzeptstore „Sois Blessed“ bietet den Workshop „Blumen kunstvoll arrangieren“ an, dessen Geschäftsführer Fans von Johannes Hartl und Eden Culture sind, wie man ihrer Instagramseite entnehmen kann. Wer Ratschläge zur persönlichen Lebensführung sucht, wird bei „Find your Why!“ oder „Resilienz stärken“ fündig.
Menschen, die Stoff zum Nachdenken wollen, können Vorträge zu unterschiedlichen Themen wie „Digitale Ethik“, „Lust auf Philosophie!“ oder „Die Klimakrise als Anstoß zur Ökologie des Herzens“ besuchen. Ersteren hält Professorin Sarah Spiekermann, die das „Institut für Informationssysteme und Gesellschaft“ an der Wirtschaftsuniversität Wien leitet und Bücher zur digitalen Ethik veröffentlicht hat.
Die Workshops widerspiegeln die drei Schlagworte und zugleich Hauptanliegen der Eden-Culture-Bewegung: Verbundenheit, Sinn und Schönheit. Der Freitag ist ganz der „Verbundenheit“ gewidmet. Die Traumatherapeutin Verena König spricht vor vollem Saal über die „heilsame Kraft der Verbundenheit“ und was erste Schritte seien, wenn man als Kind aus der elterlichen Verbundenheit gefallen ist und infolgedessen ein Bindungstrauma erlebt hat.
„Einsamkeit hat eine gesundheitsgefährdende Dimension“, sagt König. Im Anschluss erläutert Psychiater und Bindungsexperte Christian Bachmann (Ulm) die Wichtigkeit einer sicheren frühkindlichen Bindung und die Wichtigkeit des Vaters im Leben eines Kindes. Bachmanns Untersuchung auf Basis zweier Langzeitstudien in Großbritannien kam zu dem Ergebnis, dass vor allem eine unsichere Bindung zum Vater den Staat bis zu umgerechnet gut 16.250 Euro koste, bei sicherer Bindung lägen die Kosten bei weit unter 4.000 Euro. Hier seien vor allem die ersten 24 Monate im Leben eines Kindes entscheidend.
Eine gute Kindertagesstätte mit viel Personal könne eine stabile Bindung gewährleisten, doch das Problem sei, dass es in deutschen Kitas an allen Ecken und Enden an Betreuern fehle. Studien haben gezeigt, dass die am schlechtesten gebundenen Menschen die sind, welche eine gemeinschaftlich geteilte Erziehung in israelischen Kibbuzen genossen haben.
Für den Samstag, den Tag unter dem Motto „Sinn und Schönheit“, hat die Moderatorin dazu aufgefordert, sich schick anzuziehen. Am Vormittag wird in den Vorträgen der Architekten Anna Philipp, die auch die Räume des Gebetshauses entwarf, und Bertram Bartel das Bauhaus gehörig gemobbt. „Die Schönheit ist seit 100 Jahren auf einer Art Dauerdiät. Jetzt dürfen wir das Buffet wieder füllen“, verkündet Bartel, der Teil von „Architektur-Rebellion“ ist.
Das „Architekturkollektiv“ hat sich zum Ziel erklärt, wieder schöne Häuser zu entwerfen. Als Beispiel für eine gelungene Stadterneuerung nennt er den Pariser Vorort Le Plessis-Robinson. Aus einem „Beton-Moloch“ wurde Anfang der 1990er Jahre eine Stadt im Stil des „New Urbanism“. Viel Grün, aber vor allem mit Ornamenten und Stuck verschnörkelte Wohnhäuser bestimmen nun das Stadtbild.
„Der Feind der Schönheit ist das Vulgäre“
Die besten Sätze, die an diesem Samstag zum Thema „Schönheit“ fallen, stammen von Autor und Literaturwissenschaftler Frank Berzbach sowie Hartl. Berzbach: „Der Mensch kann ohne Kunst leben, aber nicht ohne Schönheit“, „An den Kunst-Unis wird man heute exmatrikuliert, wenn man das Wort ‘Schönheit’ in den Mund nimmt“ und: „Der Feind der Schönheit ist das Vulgäre“.
Hartl liest das von ihm verfasste Märchen „Die vier Schwestern“ vor und erklärt im Anschluss: „Die Schönheit ist keine Erlöserin. Aber durch sie findet das Wahre und das Gute ihren Platz.“
Auch Glaube und Spiritualität sind ein Thema auf dem Eden-Fest. In diesem Zusammenhang ist besonders das Zeugnis zweier Start-ups berührend: Carsten Waldeck ist der Gründer von Shiftphones, die nachhaltige Smartphones, Tablets und Kopfhörer produzieren. „Das Unternehmen gehört Gott“, verkündet Familienvater Waldeck von der Bühne. Sein Unternehmen verzichtet auf Investoren und auf Werbung. „Wir wollen Gottes Stimme hören und umsetzen, was er sagt“, erklärt er.
Die Ciucius sind ein Künstlerehepaar aus Wien. Vom Beruf her eigentlich Fotografin, hörte Alina 2019 während einer Gebetszeit die Stimme Gottes: „Kaufe Pinsel und Farben und fang an zu malen“. Sie setzte das Gehörte um. Heute leben sie und ihr Mann Sebastian von der Malerei. Erst neulich statteten sie das Wiener Büro des ehemaligen Bundeskanzlers Sebastian Kurz mit ihren abstrakten Bildern aus.
„Der Anfang der Eden-Culture-Revolution“
Nun ist der letzte Vortrag vorbei. Der Künstler Fabian Seewald sammelt seine Hula-Hoop-Reifen ein, die verstreut auf der Wiese vor dem Kongresshaus Augsburg liegen. Leute kaufen noch schnell Eden-Culture Merchandise, wie ein T-Shirt mit der Aufschrift „Future with a human face“.
Johannes Hartl ist „müde und überglücklich“, verrät er Corrigenda im Anschluss. Sein persönliches Highlight seien die Gespräche gewesen, die er mit den Künstlern und Rednern hinter der Bühne geführt habe. „Fast alle haben mir rückgemeldet, dass sie eine so herzliche, freundschaftliche Stimmung bei einer Konferenz noch kaum je erlebt hätten. Doch auch Freudentränen in den Augen von Besuchern zu sehen, die sich einfach bedanken wollen, hat mich tief berührt“, erzählt er.
Das nächste Eden-Fest werde voraussichtlich in zwei Jahren stattfinden. „Bis dahin hoffen wir, dass Eden-Culture sich regional verstetigt, zum Beispiel durch das neue Konzept ‘Eden Diner’“, erklärt der Theologe. In seinem letzten Vortrag an diesem Samstagmittag verkündet er: „Das ist der Anfang der Eden-Culture-Revolution“. Wer weiß, vielleicht hat das Eden-Fest in Zukunft auch 70.000 Besucher wie das OMR-Festival.
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