„Es ist eine Gefahr von Konservativen, verbittert zu werden“
Das Gebetshaus Augsburg ist ein extravaganter Ort. Seit 2012 wird dort 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr durchgehend gebetet. Im hauseigenen Café wird in Vintage-Tassen Cappuccino und „Kusmi“-Tee serviert. Wo man auch hinsieht, überall findet man stylische Details: Bunte portugiesische Fliesen zieren eine Wand, hier ein abstraktes Kunstwerk, dort eine orthodoxe Ikone nebst einem orientalischen Kerzenhalter. Jeder Raum ist in einer anderen Farbe gestrichen.
Johannes Hartl, der Gründer des Gebetshauses, trägt eine gelbe Tommy-Hilfiger-Chino und einen mint-farbenen Pullover. Er kommt vom Gebetsraum, dem Herz des Gebetshauses, wo er gerade eine von Musik unterlegte Gebetseinheit angeleitet hat.
Herr Hartl, reden wir zu Beginn über Ihre Garderobe. Verraten Sie mir: Haben Sie einen Stylisten beziehungsweise Modeberater oder stylen Sie sich selbst?
Das bleibt mein Geheimnis.
Auf älteren YouTube-Videos haben Sie noch einen durchschnittlichen, unauffälligen Kleidungsstil. Jetzt ziehen Sie sich sehr extravagant und modisch an. Ist das ein bewusst gewählter Wandel oder hat sich Johannes Hartl organisch weiterentwickelt?
Ich war als Jugendlicher Hippie und habe mich total bunt angezogen. Dann habe ich mich ein paar Jahre lang eher zurückgehalten, weil ich gedacht habe, ich muss eine Seite in mir zähmen. Für mich war es eher ein „Mich-trauen“, das auszudrücken, was ich als Stilempfinden habe. Das ist eben ein bisschen bunter als der normale deutsche Herrenlook, der ohnehin sehr trist ist.
Nicht nur Ihr Kleidungsstil, auch Ihr Ministry, also Ihr Tätigkeitsbereich, hat einen Wandel erlebt. In den Jahren nach der Gründung des Gebetshauses waren Ihre primäre Zielgruppe Christen, denen Sie zu einem vertieften Glaubens- und Gebetsleben helfen wollten. Dann schrieben Sie nicht nur den Spiegel-Bestseller „Eden Culture“, sondern gründeten parallel eine Bewegung unter demselben Namen. Man hat das Gefühl, Sie richten sich nun an ein viel breiteres Publikum und greifen aktuelle gesellschaftliche Themen und Trends auf. Wie ist es zu diesem Wandel beziehungsweise dieser Neuausrichtung gekommen?
Grundsätzlich ist mein Anliegen schon vorher gewesen, sprachfähig zu werden in die Mitte der Gesellschaft hinein. Darüber handelte meine Promotion, und während meiner Zeit an der Universität habe ich mich prinzipiell mit dieser Frage beschäftigt. Dass ich mich auf Themen wie Gebet und Mystik fokussierte, war dem Anliegen geschuldet, das Gebetshaus aufzubauen.
Nachdem das Gebetshaus jetzt sehr gut steht und auch ein Leiterwechsel stattfindet, ich also nicht mehr so gefordert bin, kann ich mich auf andere Bereiche fokussieren.
Ich möchte gerne mit Menschen ins Gespräch kommen, denen Religion vielleicht nichts bedeutet, die aber von den Werten her oder von den Zukunftsfragen sehr viel Anschlussfähigkeit bieten an das, was ich oder was Papst Benedikt XVI. so schön „Ökologie des Menschen“ genannt haben. Das versammelt sich um die Frage: „In welcher Welt wollen wir eigentlich leben?“
„Es gibt eine Sehnsucht junger Menschen nach Orientierung und Wahrheit“
In den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils steht, dass wir die Zeichen der Zeit erkennen sollen. Was sind für Sie solche Zeichen der Zeit heute, 2023?
Erstens die ökologische Bewegung, die in uns das Wissen wachruft, dass es nicht beliebig ist, wie wir leben, sondern dass es eine Ordnung des Lebens gibt. Zweitens die diffuse Sehnsucht vieler Menschen nach einem Leben, das weniger beschleunigt, weniger technisch, weniger kontrolliert ist. Drittens die Sehnsucht gerade vieler junger Menschen nach Orientierung und Wahrheit in einer Zeit, in der fast alles erlaubt und fast alles machbar scheint.
Sie haben die ökologische Bewegung angesprochen. Fallen für Sie da auch Bewegungen wie „Fridays for Future“ oder die „Letzte Generation“ hinein?
Ja, natürlich. Das sind halt Ausprägungen davon. Die ökologische Bewegung ist in den letzten 30 Jahren wahrscheinlich die geistesgeschichtlich bedeutsamste politische Bewegung gewesen. Die kann anknüpfen an eine Grundintuition, die wir als Menschen haben.
Okay, dann sagen wir, das ist ein Zeichen der Zeit. Wie können Christen angemessen darauf reagieren?
Ich glaube, dass die Botschaft des Evangeliums primär eine Botschaft an den Menschen ist. Hier fällt mir eine Leerstelle im ökologischen Diskurs auf. Diese Leerstelle ist der Mensch. Gerade in den radikaleren Ausprägungen der Ökobewegung scheint der Mensch der Störfall zu sein, sogar der Schädling des Planeten. Hier sähe ich große Chancen, darüber zu sprechen, wie wir nicht nur das Äußere des Planeten nachhaltig bewahren, sondern auch den Herzensraum unseres eigenen Lebens, unserer Gemeinschaften, Familien und unserer Gesellschaft. Denn wenn wir das verlieren, können wir auch langfristig den Planeten nicht retten. Das eine hängt mit dem anderen zusammen.
Zur Person Johannes Hartl
Dr. Johannes Hartl, geboren 1979, ist Philosoph, Theologe, Speaker und Gründer. Im Internet erreichen die Vorträge des promovierten katholischen Theologen zu den Themen Sinn, Verbundenheit und Glaube Hunderttausende. Er verbindet Menschen quer über Konfessionsgrenzen hinweg und macht Glaubensthemen relevant und verständlich für heute. Der Autor zahlreicher Bücher füllt als international gefragter Speaker Konferenzsäle mit über 10.000 Zuhörern. Hartls nächste eigene Veranstaltung ist das „Eden Fest“. Anmelden dazu kann man sich auf www.eden-fest.de.
Meinen Sie, dass die Kirche sich mehr auf diese Ökologie des Menschen konzentrieren sollte?
Ich glaube ja. Die Kirche kann sich im karitativen Bereich, im sozialen Bereich und gerne auch im ökologischen einbringen. Aber hier scheint mir eine Leerstelle zu sein, die die Kirche von ihrer Botschaft her besonders gut besetzen könnte. Besser vielleicht als andere gesellschaftliche Träger.
Kirche ist ja auch immer in ihre jeweilige Zeit oder den Zeitgeist einer Gesellschaft eingebettet. Aber wie kann die Kirche die richtige Balance finden zwischen einerseits auf die Zeichen der Zeit einzugehen, aber andererseits nicht in eine Politisierung ihrer Institution zu rutschen? Wie kann sie trotzdem ihr eigenes Standbein behalten?
Balance wird immer nur dann ein Problem, wenn man die innere Mitte verloren hat. Wenn der Glutkern des Evangeliums, des geistlichen Lebens, des Gebetes trägt, dann kann ich sehr radikal auf den anderen oder auf das Andere der Gesellschaft zugehen, ohne mein Inneres zu verlieren. Es ist wie in jeder Beziehung. Ich glaube, dass das eine produktive Spannung ist, die man auf unproduktive Weise in eine der zwei Extreme Weltflucht versus Anbiederung auflösen kann.
„Weltflucht“ ist ein gutes Stichwort. Konservative und auch konservative Christen neigen oft zu kulturpessimistischen Einstellungen. Wie viel Kulturpessimismus ist gut, wie viel ist zu viel?
Kulturpessimismus ist dann gut, wenn er den Blick dahingehend schärft, dass nicht alles, was heute da ist, neu ist und dass nicht alles Neue notwendig besser ist als das Ältere. Kulturpessimismus ist dann schlecht, wenn er Handlungsfähigkeit lähmt und Hoffnung tötet. Denn jede Zeit war schlecht und jede Zeit war auf andere Weise gut. Menschen, die angetrieben sind von Gottes gutem Geist, sollten jene sein, die Zukunft produzieren und nicht jene, die die Vergangenheit glorifizieren.
Was wäre denn ein Heilmittel gegen Kulturpessimismus?
Da gibt es mehrere Heilmittel. Eins davon ist ein unverklärterer Blick auf die Vergangenheit, denn die war auch nicht besonders großartig. Das zweite ist die Bereitschaft, sich selbst auch hinterfragen zu lassen in seinen liebgewonnenen Traditionen, denn nicht alles, was alt ist, ist deswegen schon sakrosankt.
„Man kann die Wahrheit verwechseln mit dem Dunstkreis der eigenen Überzeugungen“
Würde es christlichen Kulturpessimisten vielleicht helfen, mehr Feste zu feiern und sich des Lebens mehr zu freuen? Eine These Ihrer „Eden Culture“-Bewegung ist ja, eine Kultur des gemeinsamen Feierns zu etablieren. Warum halten Sie das Feiern von Festen wichtig?
Weil wir in einer verzweckten, leistungsorientierten und individualisierten Gesellschaft leben. Das Fest ist der Ausbruch aus dem Getriebensein der Leistung und ein Zurückfinden in die Geschenkdimension des Daseins. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass schon in der biblischen Genesis-Erzählung von Festen die Rede ist, dass Feste auch in der biblischen Heilsgeschichte eine wahnsinnige Bedeutung haben. Ich habe heute Morgen einen Satz von Frère Roger (Gründer der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé, Anm.) gelesen, der den Kirchenlehrer Athanasius zitiert. Athanasius sagt: „Seit der Auferstehung ist das Leben des Christen ein immerwährendes Fest.“ Das sagt Athanasius nicht in Naivität und unwissend, dass es sehr viel Böses in der Welt gibt, sondern er verweist auf eine tiefere Quelle von Leben und von Freude, die jenseits von Leistung und Denken entspringt.
Das klingt vielleicht abstrakt, aber ich glaube tatsächlich, dass es eine Gefahr von Konservativen ist, eng zu werden, verbittert zu werden, verurteilend zu werden und auch exklusiv zu werden. Also die Wahrheit zu verwechseln mit dem Dunstkreis der Reichweite der eigenen Überzeugungen. Das Fest bringt eine Leichtigkeit hinein, die uns, glaube ich, überhaupt nicht schadet.
Würden Sie sich als konservativ bezeichnen?
Ich mag das Wort nicht. Ich würde mich nicht als konservativ bezeichnen.
„Es gibt Teile der Öko-Bewegung, die retrokonservativ sind“
Wollen Sie sich nicht in begriffliche Boxen einordnen lassen?
Wir leben in einer Zeit, in der politisch rechts, politisch links, liberal, konservativ, all diese Begriffe fast überhaupt keine klar definierte Bedeutung mehr haben. Ist die ökologische Bewegung konservativ oder ist sie liberal? In welchem Sinne liberal, in welchem progressiv? Es gibt Teile der ökologischen Bewegung, die sagen, wir müssten eigentlich zurück, praktisch in eine vorindustrielle Zeit. Das wäre also retrokonservativ. Trotzdem würde niemand sagen, die von der „Letzten Generation“ sind Konservative. Ich habe etwas, für das ich werbe, dass es zu bewahren gilt. Das wäre das konservative Element. Und ich glaube an das Zukunftspotenzial von etwas genuin Neuem, was in der heutigen Zeit geschieht. Das wäre eine progressive Denkweise.
Eine weitere These von „Eden Culture“ lautet: „Sinn ist wichtiger als Glück.“ Könnten Sie erläutern, was Sie darunter verstehen?
Ich folge einem Account, der jeden Tag Zitate von Papst Benedikt XVI. twittert. Da stand heute Morgen der Satz: „Die Welt bietet dir Komfort an, aber du bist zu etwas Größerem berufen, nämlich zur Größe.“ Der Mensch wird nicht glücklich, wenn er versucht, nur glücklich zu sein. Das ist wie jemand, der versucht, nur cool zu sein. Je mehr er versucht, cool zu sein, desto weniger ist er es. Das Glück ist das Ergebnis eines Lebens in einer Balance und einer Stimmigkeit. Woran ich mein Leben orientiere als höchsten Wert, das ist die Sinnorientierung. Tatsächlich lässt sich sogar in der Glücksforschung nachweisen, dass Glück eben nicht darin besteht, immer nur das zu suchen, was sich gerade gut anfühlt, sondern dass Glück sich eher nebenher einstellt, wenn man in einer Hinordnung zu etwas Gutem lebt.
Das klingt nach Viktor Frankl. Haben Sie Ansätze seiner Theorien einfließen lassen?
Selbstverständlich.
Wir erleben eine Politisierung der Großkirchen in Deutschland. Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) spricht sich zum Beispiel für die Einführung des Selbstbestimmungsgesetzes aus, Kirchen hissen Pride-Flaggen, Klimaproteste werden unterstützt. Tut diese Politisierung der Kirche gut?
Ich glaube, die Politisierung der Kirche tut ihr meistens nicht gut. Das Problem ist nicht, dass Kirche politisch aktiv ist. Das war sie immer. Es ist ein Problem, wenn sie politisch einseitig wird. Wenn also nur ein gewisses Parteienspektrum sich im Programm der Kirche wiederfindet. Das halte ich für sehr problematisch.
Sollte die Kirche bei Zeitgeisttrends mitmachen?
Es gibt ja nicht nur den einen Zeitgeist. Die Kirche sollte sehr wach sein, welche Sehnsuchtsmomente der Zeitgeist zum Vorschein bringt. Darauf muss sie reagieren und antworten. Diese Antwort kann kein bloßes „Nein“ sein, aber auch keine bloße Zustimmung zu allen Prämissen, die der Zeitgeist unausgesprochen mit sich bringt. Ein differenziertes Hinschauen und ein mutiges Antworten aus der Mitte des Glaubens heraus scheint mir der richtige Weg.
Es gibt in der katholischen Kirche in Deutschland momentan auch krasse Lagerkämpfe. Wie könnte die Kirche in Deutschland die Einheit wahren?
Ich glaube, sie wird sie nicht wahren.
Glauben Sie, dass sich zwei Kirchen bilden werden?
Ich befürchte das, weil die theologischen Gräben, die seit Jahrzehnten den akademischen Diskurs in der Theologie durchziehen, mir persönlich unüberwindbar scheinen. Aber ich hoffe, dass ich mich täusche.
Aber wäre es vielleicht nicht sogar ehrlicher, sich abzuspalten? Wenn man schon so lange versucht, eine Einheit zu wahren und merkt, dass Gräben unüberwindbar sind …
Es wäre vielleicht ehrlicher. Ich denke, als Christ sollte man sich Spaltung und Abspaltungen niemals wünschen. Die Frage ist, ob aber hier nicht grundsätzliche Entscheidungen auf beiden Seiten getroffen wurden, die von so fundamentaler Natur sind, dass eine Überbrückung nicht mehr möglich ist. Dem würde ich zögernd eher zustimmen.
„Wem das zu wenig Farbe bekennend ist, den muss ich enttäuschen“
Apropos Lagerbildung: Für einige Evangelikale sind Sie zu katholisch, für einige Katholiken sind sie zu fromm und für andere Katholiken zu wenig katholisch. Wie gehen Sie mit dieser Spannung um?
Mir ist es einfach egal. Ich bin sehr dankbar, dass man auf unseren Konferenzen nicht Mitglied werden kann und sich konfessionell überhaupt nicht verorten muss. Ich arbeite ja nicht nur im christlichen Lager mit Leuten zusammen. Ich habe überhaupt keine Berührungsängste, auf einer esoterischen Konferenz zu sprechen oder auf einer politischen Veranstaltung oder einer akademischen. Ich möchte nicht vereinnahmen. Wem das zu wenig Farbe bekennend ist, den muss ich an dieser Stelle enttäuschen.
Sie sind Katholik. Welche Bedeutung hat für Sie persönlich der katholische Glaube?
Er ist die Quelle, aus der ich lebe, aus der wir als Familie leben. Das ist das, woran ich persönlich glaube. Meinen Dienst nach außen empfinde ich aber nicht als Auftrag, Menschen katholisch zu machen. Wenn das geschieht, ist das schön. Ich persönlich lebe so und mach daraus keinen Hehl. Aber mein Auftrag, gerade auch der, den ich jetzt mit „Eden Culture“ empfinde, ist noch mal ein anderer.
Und was wäre dieser Auftrag?
Für „Eden Culture“: Menschen zu inspirieren und zu vernetzen für eine Zukunft, die dem menschlichen Antlitz entspricht.
Haben Sie sonst noch einen Auftrag?
Ja, ich habe parallel den Auftrag, das Gebetshaus weiter zu begleiten und eine neue Generation von Leitern hierzu zu bevollmächtigen. Dann habe ich noch einen eigenen Auftrag als Familienvater und als Ehemann.