Dichtung ohne die Leere danach
Johannes Paul II., der von 1978 bis zu seinem Tod am 2. April 2005 als Papst der Weltkirche amtierte, galt als Philosoph auf dem Stuhl Petri. In den langen Jahren seines Pontifikates veröffentlichte er zahlreiche Lehrschreiben, etwa über die Würde des Menschen und über Vernunft und Glaube. Seine aufrüttelnden Predigten bei seinem Besuch in Polen 1979 und sein Einsatz für Freiheit erschütterten die maroden sozialistischen Staaten Osteuropas. Ebenso übte der ehemalige Professor für Moraltheologie energisch Kritik am zügellosen Hedonismus der westlichen Demokratien und stritt leidenschaftlich gegen Abtreibung und Euthanasie.
Weniger bekannt ist, dass der am 18. Mai 1920 in Wadowice bei Krakau geborene Karol Józef Wojtyła nicht nur ein Liebhaber der Poesie, sondern auch selbst ein Literat, ja ein Poet war. 1940 verfasste er ein Drama unter dem Titel „Jeremias“, 1960 folgten mit „Der Laden des Goldschmieds“ szenische Meditationen über das Sakrament der Ehe. Von der geistlichen Dichtkunst des spanischen Mystikers Johannes vom Kreuz innerlich berührt, begann Wojtyła zudem selbst Gedichte zu schreiben. So war der junge Theologe lyrisch auf den Wegen Gottes unterwegs.
In dem Band „Der Gedanke ist eine seltsame Weite“, 1979 im Verlag Herder publiziert, wurde die Lyrik des Papstes erstmals in deutscher Sprache zugänglich gemacht. Heute ist das Buch leider nur noch antiquarisch erhältlich. Karl Dedecius gelang es, die der polnischen Sprache eigene kraftvolle Intensität und leise Musikalität in ein bilderreiches, farbiges und klangvolles Deutsch zu übersetzen und so zu geistigen wie geistlichen Erkundungen der Lyrik Wojtyłas einzuladen.
Illusionsloser Realismus
1958, im Jahr seiner Bischofsweihe, publizierte der Theologe eine Gedichtsammlung. Darin denkt er poetisch über „Gefühlsmenschen“ nach. Mancher Leser weiß sich angesprochen, vielleicht erkannt, auf gewisse Weise ertappt. Zieht uns die vulkanische Macht der Gefühle an? Aufflammende Leidenschaften, die uns ganz beherrschen, betäuben und benebeln können, bis sie bisweilen plötzlich erlöschen? Aus einstigen Gefühlsmenschen werden sodann weltkluge Philosophen, die beständig räsonieren, Lebensweisheiten von sich geben und doch ratlos bleiben: Soll das Feuer der Gefühle neu entfacht werden? Stellt sich mit einer neu ausgelebten Liebeslust das einzig wahre neue Glück auf Erden ein?
Der spätere Papst war 37 Jahre alt, als er über das Los des unsteten Gefühlsmenschen dichtete, mit großer Nüchternheit: „Dich quält die Liebe nicht, die ständig dich überschwemmt. / Das ist der Leidenschaft Fleck, verführerisch, flach. / Wenn er getrocknet ist – fühlst du die Leere danach?“
Mit illusionslosem Realismus kennzeichnet der junge Dichter den Strudel der Leidenschaften. Ein Gefühlsmensch tritt nicht aus sich heraus, um sich der geliebten Person ganz und auf Dauer hinzugeben. Er konsumiert bloß und bleibt bei sich, genießt momenthaft das, was er für Liebe hält. Doch der Dichter, ein kluger Hirte, weiß sich nicht zum Richter bestellt. Er fragt nicht wie ein Philosoph, sondern wie ein Seelenkundiger: „Fühlst du die Leere danach?“ Zunächst mögen Gefühlsmenschen einander lustvoll begegnen, aber solche Beziehungsweisen sind nicht von Dauer.
„So liebe, in Tiefen dringend, bis an den Willen“
Wojtyła denkt an die Ordnung der Liebe, ganz so, wie Gott dies gemeint und gewollt hat. Johannes Paul II. sprach pastoral darüber von 1979 bis 1984 in den wöchentlichen Audienzen, in den Katechesen zur „Theologie des Leibes“. Die Kunst der Liebe ist gläubig gebildet, vernünftig und geistlich durchformt: „So liebe, in Tiefen dringend, bis an den Willen …“ Wahrhaft Liebende sprechen einander das bewusste Ja zu vor Gottes Angesicht. Sie wissen, dass sie in ihrem Leben zu zweit nicht „ständig überschwemmt“ sein werden von Rausch und bloßem Daseinsgenuss, aber auch nicht in der Trostlosigkeit der inneren Leere versinken werden.
Der junge Lyriker Karol Wojtyła war überzeugt davon, dass der Bund fürs Leben weder in der Traumfabrik Hollywood entsteht noch aus glutvollen Phantasien erwächst. Es genügt nicht, dass ein Junge und ein Mädchen, dass ein Mann und eine Frau einander zugetan sind oder einander begehren. Wojtyła verfasste hierzu ein Gedicht mit dem Titel „Kinder“. Berichtet wird, wie die „Kinder“ flugs heranwachsen – „Und dann auf einmal sind sie erwachsen, wandern Hand in Hand in der großen Menge – …“
Doch sind sie reif? In ihnen, so der Dichter, schlage der „Puls der Menschheit“. Hand in Hand sitzen sie am Ufer: „Noch schweben sie über dem Wasser.“ Er erkennt in ihnen Gottes geliebte Kinder, die hochfliegende Träume haben mögen und doch im Realismus des christlichen Glaubens noch wachsen müssen. Wenn die „Kinder“ nur einander im Sinn haben, auf ihre Zweisamkeit fixiert sind, könnten sie erst Gott aus den Augen und dem Sinn verlieren – und ebenso einander.
Der einfache Arbeiter, dem Jesus begegnet
Der Dichter Wojtyła sieht im Sakrament der Ehe den wahren Glücksfall des Lebens, denn Schwebezustände vergehen. Die Liebenden schauen hinaus – vielleicht werden sie heiraten, wer weiß. Sind sie reif für die Ehe? Haben sie ein hörendes Herz füreinander und für Gott? Immer wieder stellt Wojtyła, der dichtende-verdichtende Seelsorger, Fragen, so auch hier – „werdet ihr Gut und Böse immer unterscheiden?“
Die Ehe, ebenso wie der Glaube und die Christusnachfolge, ist die Frucht einer Willensentscheidung, die getroffen wird, nicht um eigene Interessen zu verwirklichen, sondern um gemeinsam dem Willen Gottes zu entsprechen. Der Horizont des Glaubens ist in den Dichtungen Wojtyłas immer gegenwärtig. So stellt er auch Simon von Kyrene, von dem das Markus-Evangelium berichtet, als Glaubenszeugen vor.
Simon sieht den Nazarener auf dem Kreuzweg. Jesu Kräfte schwinden. Es gibt nur ein unscharfes Bild von diesem einfachen Arbeiter am Rand der Passionsgeschichte. Wer war er eigentlich? Die Soldaten zwingen ihn, das Kreuz auf sich zu nehmen. Karol Wojtyła denkt über Simon, den Unbestimmten, nach, und über die Begegnung, die sein Leben vollkommen verändert:
„Dann aber kommt Er und überträgt seine Last / auf deine Schulter. Du spürst es und zitterst, und / du erwachst.“
Die Soldaten zwingen Simon nur, das Kreuz zu tragen. Jesus Christus ist der eigentlich Handelnde, der ihn hineinzieht in die Passion. „Erinnerst du dich, Simon von Kyrene?“ – so fragt Wojtyła, an den Moment der Berufung? Der Herr wählt aus, er bedient sich nur der Soldaten. Simon von Kyrene sieht Jesus, und Er sieht ihn. Simon, so deutet der Dichter diese Begegnung, ist von innen her tief bewegt – und es ist nicht der Befehlston der Soldaten, nicht das Gewicht des Kreuzes, das ihn zittern lässt. Er sieht und erkennt den Herrn. Ganz karg heißt es: „du erwachst“.
Das hat Konsequenzen: Simon entscheidet sich, er will Christus nachfolgen. Auf einmal sieht er die Wirklichkeit, von der alles abhängt und auf die alles ankommt. Er weiß, dass ihm das Kreuz seines Herrn und Gottes auf die Schultern gelegt wird – und er weiß es mit der Gewissheit, die keiner Erklärungen mehr bedarf. Simon von Kyrene ist erwacht. Dieser Augenblick der Berufung, den der spätere Papst so einfach beschreibt, wird den Kreuzesträger begleiten bis ans Ende seines Lebens: „Dann aber kommt Er …“
Die großen Themen des Papstes
In seinem Pontifikat hat Johannes Paul II. einen einzigen neuen Gedichtband vorgelegt, geistliche Meditationen, unter dem Titel „Römisches Triptychon“, 2003 im Verlag Herder erschienen. Auch in diesen Versen kehren die großen Themen seines Lebens wieder, etwa die eheliche Liebe von Mann und Frau gemäß dem Plan Gottes, die sakramental verbunden zum „sichtbaren Zeichen der ewigen Liebe“ werden. So dichtet Johannes Paul II. über die Heiligkeit der Ehe:
„Und wenn sie ‘ein Fleisch’ werden
– welch wundersame Vereinigung –
dann erscheint an ihrem Horizont
die Vaterschaft und Mutterschaft.“
Die Liebenden greifen zurück nach den „Quellen des Lebens“, zu dem „Urbeginn“, und sie wissen, dass sie die „Schwelle zur größten Verantwortung überschritten haben“. Johannes Paul beschreibt auf diese Weise poetisch den Augenblick der Empfängnis. Die Schönheit der Liebe strahlt auf in dem hoffnungsvoll erwarteten Kind, das von Anfang an schutzbedürftig und unbedingt schützenswert, geliebt und gewollt ist, bereits im Mutterleib ganz Mensch und ganz Person, nämlich Gottes gute Schöpfung.
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