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Europa in der Krise

Der (Alp-)Traum des unbegrenzten Individualismus

Wer sich die gegenwärtige Misere Europas, aber auch des Westens überhaupt ansieht, kann den Eindruck gewinnen, dass die westlichen Eliten von dem Gedanken besessen sind, das eigene historische und kulturelle Erbe zu demontieren.

Allgemein ist nicht nur davon die Rede, unser Weltbild müsse aufhören eurozentrisch zu sein – diese Forderung ist in einer Welt, in der Europa immer mehr an Gewicht verliert, bis zu einem gewissen Grade noch nachvollziehbar –, sondern immer lauter werden die Stimmen, die eine radikale „Dekolonialisierung“ unserer Kultur und unserer Wissenssysteme verlangen. Alle Deutungen der Geschichte und der Welt, die vermeintlich eine kolonialistische Perspektive widerspiegeln, weil sie von der historischen Überlegenheit Europas und des Westens ausgehen, gelte es abzuräumen.

Das gilt dann nicht nur für spezifische historische Narrative – etwa den durchaus plausiblen Anspruch Europas, Wiege der Aufklärung und des modernen Verfassungsstaates zu sein –, sondern im Extremfall auch für die wissenschaftliche Methodik, etwa das Streben nach intersubjektiv gültiger Erkenntnis in den Naturwissenschaften oder der Medizin. Wer sich dem entgegenstellt, weil er hinter diesem Kampf eine problematische Ideologie sieht, der muss damit rechnen, als rechtsradikal und Rassist sofort denunziert und zur Unperson gemacht zu werden.

Was aber steht hinter der Abwertung alles Westlichen und der europäischen Kultur? Viele Gegner dieser antiwestlichen Ideologie mit ihren Sprech- und Denkverboten sehen die Ursache der jetzigen Misere im radikalen Relativismus, der sich ausgehend von den Universitäten in den letzten Jahrzehnten ausgebreitet hat. Wissenssysteme sind, so wird behauptet, nur der Ausdruck von Machtstrukturen; so etwas wie eine objektive Wahrheit gebe es nicht, was als Wahrheit gilt, ist nur das, was die jeweils Mächtigen gelten lassen wollten. Dieser Relativismus verbinde sich bei denen, die die westliche Kultur demontieren wollen, mit einem dezidierten Kampf gegen den Liberalismus und liberale Lebenshaltungen allgemein, so wird argumentiert.

Würde als Instrument, um Individualrechte zu erzwingen

Diese Perspektive hat auf den ersten Blick einiges für sich, aber es sind auch ganz andere Deutungen möglich, die die Wurzeln der jetzigen Krise eher in einem entfesselten Liberalismus sehen. Sie wäre somit der Entwicklung des Westens seit der Aufklärung immanent, auch wenn sie erst jetzt in ihren Auswirkungen sichtbar wird. Ein prominenter Vertreter einer solchen Interpretation ist der englische Sozialphilosoph John Gray (geb. 1948), wie auch sein kürzlich erschienener knapper Essay „The New Leviathans“ noch einmal deutlich macht.

Für Gray ist die Krise des Westens auf einen, wie er es nennt, „Hyperliberalismus“ zurückzuführen. Im Zentrum des klassischen Liberalismus, dessen Wurzeln man etwa im späten 17. Jahrhundert bei John Locke und vorher noch, wie Gray meint, bei Thomas Hobbes finden kann, stehen das Individuum, seine unveräußerlichen Rechte und seine Würde.

Der britische Philosoph John Gray, Autor des Buches „The New Leviathans. Thoughts After Liberalism“

Würde ist ein in der Praxis eher vager Begriff, der, gelöst aus seinen kulturellen Voraussetzungen, es Juristen heute erlaubt, alle möglichen Individualrechte zu postulieren, ob dazu nun wie in den USA ein über Jahrzehnte sehr großzügig bemessenes Recht auf Abtreibung gehörte, oder in Deutschland ein Anspruch abgelehnter Asylbewerber auf volle Sozialleistungen, um hier nur zwei konkrete und besonders kontroverse Beispiele aus der Praxis anzuführen.

Aber das Beharren auf den Rechten des Individuums war einstmals, so Gray, anders als heute eingebunden in ein christlich und monotheistisch geprägtes Weltbild. Das galt jedenfalls für Locke und seine Nachfolger. Wenn dieses Weltbild und seine kulturellen Prägungen ihre bindende Kraft verlieren, dann bleibt der unbegrenzte Anspruch des Individuums, sein eigener Schöpfer zu sein und von der Gesellschaft für sein Selbstbild Respekt einfordern zu können. Oder wie Gray es formuliert: „In westlichen Gesellschaften ist das Ziel des Hyperliberalismus Menschen in die Lage zu versetzen, ihre eigene Identität zu definieren“; das sei der natürliche Endpunkt des Individualismus, jeder könne selbst entscheiden, wer oder was er sein wolle, etwa Mann oder Frau.

Verfall des Naturrechts

In einer anderen Perspektive sei das aber der Ausgangspunkt für das Entstehen neuer Kollektive und das Vorspiel zu einem ständigen Konflikt zwischen den identitätspolitischen Ansprüchen, für die sie stehen. Das Problem sei nämlich, dass der Mensch sich zwar selbst alle möglichen Identitäten etwa als permanentes Opfer von Diskriminierungen zuschreiben könne, diese Zuschreibungen seien aber wertlos, wenn ihnen keine gesellschaftliche Anerkennung widerfahre. „Das Resultat ist, aus der Selbst-Definition einen Kampf um Macht zu machen, in dem Worte die bevorzugte Waffe sind“. Gray hat mit dem Hinweis auf diesen Kampf um Anerkennung und Achtung sicher einen zentralen Punkt der gegenwärtigen identitätspolitischen Debatten hervorgehoben.

Seine Kritik an einem übersteigerten Liberalismus kann sich überdies auf wichtige Vorbilder berufen. Etwa auf den bedeutenden Ideenhistoriker Leo Strauss (1899-1973). Wie Strauss sieht Gray die Wurzeln dieses Liberalismus bereits in den frühesten Anfängen, bei Thomas Hobbes, der das Individuum in seinem berühmten „Leviathan“ von 1651 zum Ausgangspunkt seiner Staatskonstruktion machte, auch wenn man in diesem Befürworter absoluter Souveränität des Staates nicht ohne weiteres einen klassischen Liberalen wird sehen wollen.

Dennoch setzte er an die Stelle eines objektiven Naturrechts die natürlichen Rechte des Einzelnen. Schon Leo Strauss begriff dies als einen dramatischen Verfall des Naturrechtes, und in der jüngeren Vergangenheit ist der katholische Philosoph Pierre Manent dieser Analyse gefolgt. In seinem Essay „La loi naturelle et les droits de L’homme“ von 2018 schreibt er, Zweck des heutigen Rechtes sei es nur noch, eine Gesellschaft zu schaffen, in der die Menschen ganz ohne Gesetz, also ohne objektive Rechtsordnung, die auch Pflichten und verbindliche Verhaltensregeln beinhalte, leben könnten.

Endstation: Transhumanismus

John Gray selbst ist freilich kein Katholik wie Manent, sondern eher Agnostiker, aber ein Agnostiker, der die Tragfähigkeit einer atheistischen Weltsicht mit erheblicher Skepsis sieht. Der Mensch braucht aus seiner Sicht Grenzen, Grenzen, die eigentlich nur eine göttliche Macht setzen kann.

Ohne Zweifel hat Gray recht, wenn er schreibt, dass die heutigen Liberalen mehr denn je von unbegrenzter individueller Autonomie träumten. Der Endpunkt dieser Art von Liberalismus seien notwendigerweise ein Transhumanismus, also die Negierung der biologischen Grundlagen der menschlichen Existenz, und der Versuch, den Tod selbst mit technischen und medizinischen Mitteln abzuschaffen. Aber unbegrenzte Autonomie sei eine Illusion. Menschen könnten ihre Existenz nicht aus dem Nichts schaffen, wohl aber das Leben, das ihnen gegeben sei, zerstören.

Grays „The New Leviathans“ ist vielleicht am Ende mehr eine gelehrte Provokation als eine systematische Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Malaise des Westens. Seine These, dass es der westliche Liberalismus selbst sei, der auf Grund seiner Übersteigerung und seines Bruchs mit den christlichen Traditionen Europas und ihren kulturellen Vorannahmen jetzt zur Gefahr für eine freiheitliche Gesellschaft geworden sei und die Fähigkeit des Westens und Europas, sich gegen ihre Feinde zu verteidigen, schwäche, ist dennoch ernst zu nehmen.

Identitätspolitische Kollektive kapern Gerichte

Viel Hoffnung lässt uns Gray freilich nicht. Identitätspolitische Kollektive hätten im Westen die Institutionen des Staates einschließlich der Gerichte gekapert und instrumentalisierten sie für ihre Zwecke; hier denkt er vor allem an die USA, aber Deutschland bewegt sich mittlerweile in manchen Fragen durchaus in eine ähnliche Richtung. Es gebe im Westen einen unerbittlichen Kampf um die Kontrolle über Sprache und Gedanken, und nur noch in Nischen überlebe so etwas wie geistige Freiheit.

Grays polemisch zugespitzte Analyse mag nicht jeden in allen Punkten überzeugen, aber seine Frage, ob eine politische und rechtliche Ordnung, die ihre Legitimität nur noch daraus ableitet, dass sie die Individualrechte von Bürgern und Fremden schütze, ohne die Grenzen dieser Rechte konsistent definieren zu können, stabil sein könne, ist mehr als berechtigt. In den letzten drei Jahrzehnten hat der von Gray so bezeichnete Hyperliberalismus versucht, Minderheiten jeder Art immer neue Ansprüche auf Anerkennung zuzuweisen, und dem Staat und der Gesellschaft dabei auch immer mehr Lasten auferlegt.

Zugleich sollen diese Rechtsansprüche politischen Konflikten und politischen Aushandlungsprozessen entzogen werden, eine Tendenz, die in Ländern mit starker Verfassungsgerichtsbarkeit besonders ausgeprägt ist, aber auch von transnationalen Institutionen und Gerichten gestützt wird. Darin kann man mit Gray einen Fehler sehen, weil sich grundsätzliche Wertkonflikte nicht durch Richterurteile beilegen lassen. Versucht man es dennoch, führt das zur Politisierung der Justiz und am Ende zu ihrem Autoritätsverlust.

Großbritannien überlegt, aus der Europäischen Menschenrechtskonvention auszusteigen

Generell scheint die Juridifizierung des Politischen, die in der Konsequenz dieser Form von Liberalismus liegt, heute an ihre Grenzen zu stoßen. Es gibt jedenfalls zu denken, dass einer der ältesten Rechtsstaaten Europa, Großbritannien, ernsthaft überlegt, aus der Europäischen Menschenrechtskonvention auszusteigen, um nicht von den oft selbstherrlichen Urteilen ausländischer Richter vollständig abhängig zu sein.

In solchen Überlegungen kann man eine Reaktion gegen den von Gray kritisierten Hyperliberalismus sehen, der sich meist auch in einer Tendenz zur Richterherrschaft niederschlägt. Von daher besitzt seine Beschreibung der Krise der Gegenwart in der Tat großes Gewicht, und es wäre wünschenswert, dass diese eine größere Diskussion auch hierzulande anstößt.

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