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Sehr geehrte Frau Zgraggen,

Sie schreiben: "Niemand anderes als die Frau selbst kann letztlich darüber entscheiden, ob sie ein Kind austragen will oder nicht! Also konzentrieren wir uns doch lieber auf die Prävention und Hilfsangebote."

Das ist genau der Grundtenor des politischen Kompromisses, der in Deutschland in den 90er-Jahren unter Wegweisung des Verfassungsgerichts gewählt wurde: "Hilfe statt Strafe", "rechtswidrig, aber straffrei". Und wenn wir in einer Gesellschaft leben würden, in der dieser Kompromiss ethischer Konsens wäre, würde ich Ihnen sofort zustimmen und mich ausschließlich auf alle möglichen Maßnahmen konzentrieren, das Ja zum Kind zu erleichtern.

Nun leben wir leider nicht in so einer Welt: Vom Europäischen Parlament wurde 2021 mit dem Matic-Report ein "Menschenrecht auf Abtreibung" postuliert. Dass das Europäische Parlament hierfür überhaupt keine juristische Kompetenz besitzt und die Parlamentarier*innen eigentlich genug damit zu tun gehabt hätten, das Leben der Menschen in der Corona-Pandemie zu schützen, ist das eine. Das andere ist, dass mit einem "Menschenrecht auf Abtreibung" quasi automatisch die Grund- und Menschenrechte (Meinungsfreiheit, Demonstrationsrecht, Berufsfreiheit, ...) Andersdenkender eingeschränkt werden, die auch ungeborenen Menschen ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zubilligen (wie es in Deutschland immer noch offizielle Verfassungsdoktrin ist).

Die Realität sieht dann so aus, dass bspw. in einem Klinikum in Berlin-Neukölln, sozusagen vor der Haustüre der obersten deutschen Verfassungsorgane, ein behindertes Neugeborenes totgespritzt wird, während sein gesundes Zwillingsgeschwisterchen medizinisch versorgt wird. Und das alles - und das finde ich so erschreckend - ohne einen großen politischen oder gesellschaftlichen Aufschrei. Immerhin hat sich offensichtlich bei einer in der Klinik mitarbeitenden Person das Gewissen geregt, so dass diese Person Strafanzeige erstattete und der Bundesgerichtshof als oberstes deutsches Strafgericht ein Urteil wegen Totschlags erlassen konnte - allerdings in einem "minderschweren Fall".

Und wenn ein besonnener und politisch moderater Ministerpräsident und langjähriger Gynäkologe wie Professor Wolfgang Böhmer öffentlich die Frage stellt, ob eine Vielzahl an entdeckten Kindstötungen nicht vielleicht etwas mit einer Verschiebung des öffentlichen Bewusstseins angesichts einer laxen Abtreibungsregelung in der ehemaligen DDR zu tun hat, wird er medial niedergeschrieben.

Gestatten Sie mir bitte eine Gegenfrage: Wie stehen Sie als katholische Krankenhausseelsorgerin zu Bestrebungen, die Gewissensfreiheit von medizinischen Personal, eine Mitwirkung an Schwangerschaftsabbrüchen abzulehnen, einzuschränken? Wie stehen Sie zum Vorschlag einer baden-württembergischen Sozialstaatssekretärin, nur noch junge Ärztinnen und Ärzte an Universitätskliniken anzustellen, wenn Sie sich zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen verpflichten? Wie stehen Sie dazu, dass nach dem neuen deutschen Gesetz gegen (angebliche) "Gehsteigbelästigung" im Umkreis von 100!!! Metern (mutmaßlich) nicht mehr demonstriert oder erkennbar gebetet werden darf, selbst wenn man nur still ein Schild in die Höhe hält: "Die Würde des Menschen ist unantastbar"? Wie stehen Sie zur Suizidbeihilfe in kirchlichen Pflegeeinrichtungen?

Als vor vielen Jahren Papst Johannes Paul II. vor einer "Kultur des Todes" in unseren westlichen Gesellschaften warnte, fand ich das ziemlich bräsig und reichlich übertrieben. Heute fürchte ich, dass er in weiten Teilen recht hatte ... :-(

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